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Fußballkritik


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Die Schlussviertelstunde, die Nachspielzeit. All das kommt und vergeht, und wer das Ganze im Stadion als Augenzeuge verfolgt, dem werden, wenn das Spiel eine eigene Spannung und Dramatik entfaltet, solche Segmentierungen gar nicht bewusst werden. Der schaut dann höchstens ab und zu auf die Uhr, der sehnt zuletzt möglicherweise den Abpfiff herbei oder verwünscht ihn.

      Eine Zeitspanne, unerbittlich von Sekunden- und Minutenzeiger diktiert, auf die auch der Schiedsrichter in seinem subjektiven Ermessen nur einen sehr begrenzten Einfluss hat.

      Ganz anders die Wahrnehmung mittels Bildschirm. Hier ist nicht nur der subjektive Spielraum der Bildregie wesentlich größer, die aus einer Anzahl von parallelen Optionen Ausschnitt, Einstellung und Perspektive bestimmt und uns so das „Bild“ des Geschehensablaufs diktiert.

      Und nicht zu vergessen die Möglichkeit, auf künstliche Weise Zeit zu beeinflussen: indem man sie – im Zeitraffer – komprimiert, oder aber – mittels Zeitlupe – verlangsamt. Letzteres ist in geradezu exzessiver Form zum festen, ja integralen Bestandteil zeitgenössischer Fußballberichterstattung geworden.

      Wogegen prinzipiell nichts einzuwenden wäre: ein Torschuss, eine umstrittene Szene, die Klärung, ob nun ein Foul, ein Handspiel, ein Abseits vorlag. Streitfälle, Härtefälle, Entscheidungshilfen.

      Als ob es nur darum ginge! Längst nämlich ist die Zeitlupe zum prägenden, die Liveübertragung wie einen Zusammenschnitt strukturierenden wie synkopierenden Medium geworden. Plötzlich steht das Geschehen im wahrsten Sinne des Wortes still, läuft die Zeit nun nicht nur rückwärts, indem sie in die Vergangenheit eintaucht und – wenn auch nur Augenblicke – zurückliegende Momente noch einmal „heraufholt“, sondern diese darüber hinaus auch noch „verzerrt“, der „Echt“- und Normalzeit des Spielgeschehens eine neue Dimension hinzufügt, der „tatsächlichen“ eine virtuelle Ebene unterlegt und diese untrennbar miteinander verkoppelt.

      Und was heißt schon „die“ Zeitlupe, haben wir es doch mittlerweile mit einem Gewitter konkurrierender Einstellungen zu tun, die eine einzige Szene aus verschiedensten Perspektiven „beleuchten“. Dies natürlich aus der Illusion heraus, dass sich Dinge besser erkennen lassen, wenn man sie nur oft genug sieht oder aber nahe genug „ran“ geht. Das gleiche kapitale Missverständnis, das bloße „Informationen“ mit „Wissen“ verwechselt. Tendenziell pornografisch schon das, lebt dieses Genre per definitionem doch von der isolierten und isolierenden Darstellung von Sexualorganen in Großaufnahme(n).

      Doch auch hier kein Moralisieren, sondern vielmehr der Versuch, zu beschreiben, was zu sehen ist.

      Und zu sehen ist mittlerweile fast jede einigermaßen signifikante Szene, insofern ihr eine Spielunterbrechung folgt, die für deren Wiederaufbereitung lang genug ist. Repetiert wird in solchem Wiederholungswahn nun nahezu alles: der vom Tormann abgewehrte Schuss ebenso wie derjenige, der sein Ziel um Meter verfehlt (quod erat demonstrandum?). Der geglückte Doppelpass ebenso wie das dem Gegner in die Beine gestümperte Abspiel. Das alltägliche Tackling ebenso wie die Sicherheitsrückgabe zum eigenen Keeper. Stumme Verzweiflung ebenso wie Eruptionen von Protest und Widerwillen. Und wenn auf einem Gesicht gar keine Reaktion auszumachen ist, so wird auch dieses in slow motion vorgeführt.

      Überhaupt, Nahaufnahmen: Auch die exzessive Darstellung primärer wie sekundärer Geschlechtsteile en détail ist von einem gewissen Sättigungsgrad an ja allenfalls noch für den Fachmann, sprich Gynäkologen von einigem professionellen Interesse, als erotisches Stimulans aber nur bedingt tauglich.

      Ohne Prüfung, unterschiedslos, endlos. Und in eben diesem Sinne scheint mir die Zeitlupe das pornografische Element der Fußballberichterstattung zu sein.

      Zum einen: die Repetition. Dies schließt erkenntnisfördernde Einsichten dieses technischen Hilfsmittels natürlich ebenso wenig aus wie ein gelegentliches ästhetisches Vergnügen sui generis, das man an diversen Detailstudien durchaus haben kann: der Prolog wird versuchen, dafür ein Beispiel vor Augen zu führen.

      Nur wird aber Außerordentliches ja auch erst durch eine exponierte Präsentation, durch bewusstes Herausheben und Abgrenzen vom „Gewöhnlichen“ zum Exzeptionellen. In einer rein mechanischen, seriellen Reihung aber wird es in ebenso gnaden- wie gedankenloser Nivellierung rasch in einer Flut von Bildern versunken sein. Der Verlust des Einmaligen als Folge der Verwechslung von Faktenhuberei und (demgegenüber selektierender) Information: als ließe sich durch bloße Multiplikation alles „toppen“. Genau der Misthaufen also, auf dem dann solche Sumpfblüten wie die von der Weltmeisterschaft im Zweijahresturnus blühen und vor sich hinstinken. – Wobei dies im Übrigen aber ganz exakt der Strategie der Werbeindustrie, jener Halbschwester der Pornografie, entspricht: alles verfügbar, alles erhältlich, alles wiederholbar. Und alles immer noch besser und toller und bunter und schneller. Konditionierungsmechanismen.

      Zum anderen: die Illusion. Alle naslang eine Wiederholung, jede Minute eine Unterbrechung. So „läuft“ kein Spiel ab, so wird ein Spiel inszeniert. Und inszeniert wird es auch in diesem Fall als eine Kette von Höhepunkten. Denn wären es keine, so wären sie ja wohl keiner Wiederholung wert. Aber wie wird in einer endlosen Serie von Höhepunkten ein einzelner als solcher überhaupt noch wahrnehmbar? Und welche Klassifizierungsmechanismen müssen dann greifen oder erst entwickelt werden: sehen, um sofort zu vergessen? Was für eine Entwertung des Augenblicks! Auch in einem pornografischen Film verliert man ja irgendwann einmal den Überblick, wer schon mit wem beziehungsweise wer mit wem noch nicht, wird zuletzt alles eins, nämlich fleischfarben.

      Wobei die Akteure diese Inszenierungsmechanismen mehr oder weniger bewusst ins Kalkül mit einbeziehen: wieso sonst der immense Aufwand an Posen und Mätzchen nach einem Torschuss, wenn man nicht auf dessen sofortige mediale Vervielfältigung spekulierte? Auch dies ein Äquivalent zur Produktion pornografischer Bilder, in denen Kopulationen und andere geschlechtliche Akte zwar „in echt“ vorgenommen, alles andere – mit Wissen des Betrachters – aber nur simuliert, vulgo: geheuchelt wird, indem dieser Vereinigung eben keine wie auch immer geartete begehrende Zuneigung vorausgeht. Nach dem Modell von Bastelanleitung oder Schnittmusterbogen zusammenfügbar, wird der unter diesem Gesichtspunkt aufs rein Anatomische reduzierte Fuck zum Fake.

      Natürlich könnte man hier mit Fug und Recht philosophisch werden: dass das Leben nämlich ebenso wie das Mysterium eines Fußballspiels einmalig und unwiederholbar ist und wir selbst dort, wo sich Situationen ähneln, gar zu wiederholen scheinen, bekanntlich nie zum zweiten Mal in denselben Fluss steigen …

      Man könnte aber auch wesentlich pragmatischer argumentieren: Was ließe sich nämlich in jenen vergeudeten Momenten, in denen Zeitlupen nichts erhellen, sondern nur Zeit stehlen, alles zeigen: Zuschauerränge, Trainerbänke, bemerkenswerte architektonische Details, Gesichter, Menschen, Tiere, Sensationen. Stattdessen: die Verhäckselung eines Spiels, seine Pulverisierung in kleine und kleinste Einheiten. Und die Sehnsucht nach ganz anderen Bildern. Wie man sich ja auch in der Sauna bisweilen bei der Überlegung ertappen kann, wie der Nachbar oder die Nachbarin wohl in Jeans und Pullover aussähen …

      ZULETZT: DIE ZERSTÖRUNG DER AURA

      Ob das Leben nun ein Kinderhemd ist oder ein langer ruhiger Fluss, ob Fußball Lebensmittelpunkt oder Zeitvertreib: Wer schon im Stadion war oder selbst gekickt hat, der weiß um die ganz spezifische Dramaturgie der 90 Minuten. Da ballt es sich gelegentlich zusammen, da jagen einander die Höhepunkte, da bleibt einem schier das Herz stehen – und dann gibt es „Durchhänger“, Phasen, die zum Gähnen sind oder zum Aufs-Klo-Gehen. Oder nur langweilig, weil etwa zu deutlich feststeht, wer Herr im Haus ist. Manchmal ein Tollhaus, und manchmal eben auch die Atmosphäre einer Leichenhalle. Das weiß man vorher nicht, das ist das Risiko eines jeden Live-Gigs der lohnenderen Art. Und eben dies wird durch mediale Zerstückelung bewusst zerstört: weil man sich dort Langeweile oder Ereignislosigkeit ja buchstäblich nicht mehr leisten kann. Die Bindung an Produkt und Sender leiden, sich der Konsument unversehens wegzappen könnte. Deshalb also das Diktat: Jedes Spiel ein Event, jede Sequenz ein wiederholenswerter, potenziell wiederholbarer Höhepunkt.

      Dabei lebt der Sport wie die Kunst, wie die Sexualität und einiges andere mehr doch oft genug von der oft bitteren Ahnung, hier einem Ereignis beizuwohnen, das sich so möglicherweise nie mehr