in Edelmetall — er ist richtig stolz auf sein Gewicht.«
Die Umsitzenden begriffen die Anspielung; sie wußten, daß der hagere Amerikaner einen seltsamen Kampf gegen die Kalorien führte: Sowie er über die Stränge schlug, nahm er zu, aber nur im Gesicht und im Nacken.
Der Literat hatte sich bereits geduscht und umgezogen: er tat es mindestens viermal täglich. Er war immer eine Nuance zu gut gekleidet. Selbst wenn er sich am Morgen an seinen Schreibtisch setzte, trug er Anzug und Krawatte, als wollte er das leere Blatt Papier freien. Er war vor knapp sechzig Jahren — zweiundfünfzig gab er zu — in Straßburg als Clemens Großhaus zur Welt gekommen. Nach den ersten Bucherfolgen hatte er seinen deutschen Namen des Wohlklangs wegen in das Italienische übersetzt, und damit es nicht zu südländisch klang, das englische »Cecil« als Vornamen gewählt. Böse Zungen behaupteten, er hätte das Pseudonym Casagrande gewählt, weil es phonetisch an Casanova erinnere. Tatsächlich war der einstige Starreporter des »Paris Match« ein Frauenfreund, wenn man damit reifere Damen meinte, wie sie wohl auch das Gros seiner Leserinnen darstellten. Er war ein Modeautor, doch modern war er nicht und wollte er auch nicht sein. Sein literarisches Reservoir war meistens die Vergangenheit, ein Hauch von fin de siècle — ein wenig schwermütiger Glanz — und seine Dialoge waren Florett mit der Zunge. Die Gegenwart war ihm zu unromantisch. In zwanzig Sprachen übersetzt, erreichten seine Bücher Millionenauflagen. Bei der Verlegung seines Wohnsitzes nach Monte Carlo war der Patriotismus für seine Wahlheimat die Steuerersparnis gewesen.
Casagrande stellte belustigt fest, daß nicht nur sein Blick immer wieder den Weg zu der schönen Unbekannten von nebenan suchte. Die perfekte Lady, schlicht und teuer angezogen, trug ein mäßig ausgeschnittenes Kleid aus grüner Thaiseide, in der Taille gestrafft und im Rock weit ausschwingend. Ihre Nähe machte offensichtlich den Herren am Tisch zu schaffen.
Die meisten der Seh-Löwen standen schon aus Altersgründen dem Verzicht näher als dem Verlangen, doch die Gesichter ließen erkennen, daß dieser herrliche Blickfang die Phantasie beflügelt haben mußte, diese Grauzone zwischen Traum und Wirklichkeit. Die gewichtigen Herren in den allerbesten Jahren waren sicher, gegen späte Anfechtungen und schleichende Versuchungen gefeit zu sein, doch selbst der alte Whitehead empfing mit seinen dreiundachtzig Jahren noch die Morsezeichen der Sinnlichkeit, wiewohl er seine Antenne schon seit vielen Jahren eingezogen haben mußte.
Nur Laimer, der Großindustrielle, übersah die schöne Unbekannte geflissentlich; den gut erhaltenen Sechziger mit den grauen Schläfen und den auffallend buschigen Augenbrauen, einen Selfmademan, der es vom kleinen Ingenieur bis zum Alleinherrscher über einen weltweiten Elektronikkonzern gebracht hatte, interessierte wohl außer seinem Fach nichts auf der Welt. »Das Wirtschaftswunder in Deutschland hat jetzt wohl den höchsten Gipfel erreicht, wenn nicht bereits überschritten«, analysierte er. »Wie Sie wissen, meine Herren, produziere und lebe ich abwechselnd in den USA und in der Bundesrepublik — ich kenne die Situation also aus eigener Erfahrung. Amerika hat zur Zeit doppelt so viele Arbeitslose wie Westdeutschland Gastarbeiter: drei Millionen gegenüber eineinhalb Millionen.«
»Unsere rätselhafte Prinzessin ist nicht nur bildhübsch, sondern offensichtlich auch gebildet.« Der zeitgemäße Poet mit dem Rundumblick lenkte das Gespräch in eine momentan interessantere Richtung. »Sie liest in mehreren Sprachen. Sie hat Rasse, Klasse und Finesse.«
»Wirklich ein ganz außergewöhnliches Geschöpf«, bestätigte Ponsardin, der Neurologieprofessor aus Paris: »Schick, selbstsicher, jung und doch so damenhaft.« Es sah aus, als tränke er seinen Pernod auf ihr Wohl. »Daß es so etwas bei dieser zeitüblichen Vermassung noch gibt«, setzte er kopfschüttelnd hinzu. »Das ist beruhigend und aufregend zugleich.«
»Bravo, Professor.« Der Autor applaudierte. »Sie haben dieses unterschwellige Fluidum genau erfaßt, die Signale an das Unterbewußtsein …«
Odermatt sah, daß Martin Laimer über die Unterbrechung seines Themas ungehalten war. »Nun vergessen Sie doch mal einen Moment lang ihre überzeugenden Prognosen«, forderte er ihn auf und setzte burschikos hinzu: »Vielleicht diagnostizieren Sie dafür unsere schöne Tischnachbarin.«
»Wen meinen Sie eigentlich?« fragte der Industrielle offensichtlich desorientiert.
»Bitte heben Sie den Kopf«, befahl der Züricher Gnom, »und sehen Sie schnurgeradeaus.«
Laimer folgte wie ferngesteuert, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos. Ein Thai-Boy brachte der dunklen Sphinx weitere Zeitungen und Journale. Einen Moment lang sah sie von der »Washington Post« auf und quittierte seine Dienstleistung mit einem freundlichen Lächeln. Selbst von einem ungünstigen Platz aus konnte man ihr feines Profil und die elegante Nackenlinie sehen. Sie war kaum geschminkt und wirkte, trotz ihres mondänen Flairs, durchaus natürlich.
Casagrande war ein bewundernder, doch auch ein scharfer Beobachter und verfügte als ehemaliger Journalist über eine gute Menschenkenntnis. Die dunkelhaarige Attraktion hatte Geschmack, ihre Aufmachung war genau auf Typ, Ort und Stunde abgestimmt. Sie mußte das Interesse der Umsitzenden nicht nur bemerkt, sondern auch Gesprächsfetzen aufgefangen haben. Ihre kühle, selbstsichere Reserve wirkte nicht aufgesetzt, sie war angeboren oder anerzogen.
»In der Tat ein erfreulicher Anblick«, bestätigte Martin Laimer lau.
»Keine Versuchung?«
»Nun hören Sie mal, Mr. Casagrande«, entgegnete der Industrielle. »Ich habe meinen Beruf und mein Alter.« Er lächelte knapp. »Alles zu seiner Zeit. Und Traumfrauen begegnet man im Leben doch immer erst dann, wenn es bereits zu spät ist.«
»Leider wahr«, resignierte Odermatt. Das zerknitterte Gesicht des alten Whitehead zeigte ein Faunslächeln. Der Verleger aus New York trommelte unwillig mit den Fingern auf die Tischplatte.
»Aber ich bitte Sie, Mr. Laimer«, widersprach der Autor mit Nachdruck. »Wer wird denn aufstecken und die Flinte vorzeitig ins Korn werfen?«
»Wenn ich Sie recht verstehe«, gab der Selfmademan zurück, »dann feuert Ihre Flinte also noch …«
Diesmal lachten sie auf Casagrandes Kosten. Jede Antwort darauf wäre falsch gewesen. Stimmte er zu, hielte man ihn für einen Angeber; verneinte er, emeritierte er aus seinem Geschlecht.
»Man bleibt Mann«, zog sich Casagrande mit einem Schlagwort aus der Zwickmühle.
Auch wenn diese Rotarier momentan gelockert wirkten und sie ihm ohnedies eine gewisse Narrenfreiheit einräumten, blieb es doch angeraten, in ihrer Gesellschaft nicht als Sexualprotz aufzutreten. Um in diese Gemeinschaft aufgenommen zu werden, wonach er gierte, brauchte er die Zustimmung aller Mitglieder. Um eine Mitgliedschaft konnte man sich nicht bewerben, in diesen elitären Zirkel wurde man berufen.
Im Distrikt Monte Carlo war als einziger ein Achtzigjähriger, ehemaliger Richter, gegen Casagrandes Beitritt; er ließ sich auch nicht durch die Drohung des populären Autors, er würde sich der Konkurrenz, dem Lions-Club, anschließen, umstimmen. Für einen Rotarier sind die Löwen ohnedies nur zweite Wahl. Rotary, so will es die Club-Fama, bevorzuge den Geist, Lions das Geld, eine Anmaßung, gegen die die Lions wie die Löwen kämpften. Wiewohl der Präsident und die anderen Mitglieder auf den kränkelnden Richter einwirkten, der Aufnahme Casagrandes endlich zuzustimmen, bestand der pensionierte Jurist auf seiner Ablehnung. Unter diesen Umständen blieb dem Autor nichts anderes übrig, als in einem anderen Rotary-Distrikt sein Glück zu versuchen — wodurch er wieder steuerpflichtig würde — oder abzuwarten, bis sein dahinsiechendes Veto gestorben wäre.
Kurz vor dem Abflug nach Bangkok hatten seine Freunde in Monte Carlo noch einen Anlauf zu seinen Gunsten unternommen, aber der böse Alte wies auf den verworrenen Lebenswandel Casagrandes hin, auf die vielen Prozesse und den lautstarken Streit, den er mit nahezu allen Rezensenten in der Öffentlichkeit austrug. Er erinnerte daran, daß der Erfolgsautor in einer TV-Sendung festgestellt hatte: »Zwischen einem Eunuchen und einem Kritiker gibt es keinen Unterschied — beide wissen, wie es geht.«
»Ist das die Ausdrucksweise eines Rotariers?« hatte der Alte gewettert und hinzugesetzt: »Nein. Entweder wir bleiben, was wir sind, oder wir geben uns auf.«
Der Direktor