Thorsten Legat

Wenn das Leben foul spielt


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gekriegt habe, lag an den ungewollten Erinnerungen an meine Kindheit, an den Ängsten, die mich immer mal wieder urplötzlich überkamen. Die Angst davor, alles zu verlieren und wieder mit nichts dazustehen – wie früher. Ich erinnerte mich, dass ich für meine Mama einkaufen ging und abgezähltes Geld mit auf dem Weg bekam. Ich kam an Geschäften vorbei, wo es Pommes gab oder Süßigkeiten. Ich hätte mir so gerne etwas davon gekauft, doch ich besaß selbst kein Geld. Das war schon heftig damals.

      Und dann wurde ich Profi und schwamm sozusagen im Geld – kein Wunder, dass ich einen gewissen Nachholbedarf befriedigt habe. Mit der Zeit aber verflüchtigte sich diese Kirmeswelt, und ich begann, Dinge richtig einzuordnen. Schon die Erinnerung an die elenden Jahre meine Kindheit brachten mich bald dazu, mein Geld künftig zusammenzuhalten.

      Als junger Mensch zahlte ich in vielerlei Hinsicht Lehrgeld. Aber wird man nicht aus Schaden klug?

      Bochum, ich komm’ aus dir …

      Als Herbert Grönemeyer das Lied über meine Heimatstadt Bochum herausbrachte, bekam ich beim Zuhören eine Gänsehaut. Er beschrieb meine Heimat, wie ich sie auch erlebt habe. »Bochum, ich komm’ aus dir, Bochum, ich häng’ an dir« – das war meine Hymne.

      Wenn ich Titelgewinne als Maßstab anlege, dann habe ich natürlich in Bremen meine erfolgreichste Zeit als Bundesligaprofi erlebt. Im ersten Jahr Europapokalsieger, danach Deutscher Meister und DFB-Pokalsieger. Unglaublich. Wenn ich aber auf Kriterien wie Leidenschaft, Zusammenhalt, Fanunterstützung oder totales Engagement schaue, dann gibt es für mich nur den VfL Bochum.

      Fünf Jahre durchlief ich die Jugendmannschaften. Zunächst spielte ich in der U17, der U18, dann in der U19, und in der Saison 1986/87 wurde ich zu den Profis berufen – natürlich von Hermann Gerland, der meine Entwicklung entscheidend prägte. Eines Tages, nach dem Abschlusstraining der A-Jugend, sagte Hermann zu mir: »Pass auf, Thorsten, du fährst heute nicht nach Hause. Du sitzt bei den Profis gegen Borussia Mönchengladbach auf der Bank.«

      Mein erstes Spiel als Profi am 6. September 1986 – mit gerade einmal 17 Jahren – läuft noch heute vor meinem inneren Auge ab. Beim Stand von 1:1 gegen Borussia Mönchengladbach kam ich in der 69. Minute für Peter Knäbel ins Team. Ich gab mein Bestes und half mit, das Remis zu retten. Denn in der Schlussphase gingen meine Kollegen auf dem Zahnfleisch.

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       Meine Autogrammkarte aus der Saison 1988/89.

      Fußball in Bochum (Grönemeyer: »Du machst mit dem Doppelpass fast jeden Gegner nass …«) bedeutete für mich als Kind des Ruhrpotts Wohlfühlatmosphäre. Auch wenn wir fast immer gegen den Abstieg gespielt haben, der familiäre Charakter dieses Klubs und die unglaublichen Fans sorgten dafür, dass ich über einen möglichen Wechsel niemals nachdachte. Wenn es nach mir gegangen wäre, niemals hätte ich dem VfL Bochum den Rücken gekehrt.

      Als ich in einer durchschnittlichen Mannschaft mehr und mehr in den Blickpunkt rückte, begannen andere Vereine ihre Fühler auszustrecken. Trotzdem kam ein Transfer für mich nicht infrage. Selbst als mein großer Mentor Hermann Gerland als Coach nach Nürnberg ging, kam ich nicht auf Abwanderungsgedanken. Im Gegenteil, ich verlängerte meinen Vertrag um zwei weitere Jahre und verzichtete damit auf viel Geld.

      Ich erlebte fünf tolle Jahre in Bochum, aber immer war es mehr oder weniger ein Kampf ums Überleben. Platz 11, 12, 15, 16 und 14 – der VfL und ich blieben zwar in der Bundesliga, aber manchmal war es ganz schön knapp. Einmal, in der Saison 1989/90 mussten wir sogar nachsitzen. Zwei Endspiele gegen den Drittplatzierten der 2. Bundesliga, das war nichts für schwache Nerven.

      Schon der letzte Spieltag war dramatisch gewesen. Wir lagen auf dem Relegationsplatz 16, und nur einen Punkt hinter uns lauerte Waldhof Mannheim. Bayer Uerdingen und Borussia Mönchengladbach hatten zwei Punkte mehr, ein Punktgewinn am letzten Spieltag würde sie also vor dem Abgrund retten. Der Zufall wollte es, dass diese beiden Mannschaften gegeneinander spielen mussten. Sollte eine von ihnen verlieren und wir unser Spiel gegen den Karlsruher SC gewinnen, dann wären wir gerettet. So weit die Theorie. In der Praxis aber sah es so aus, dass wir Karlsruhe zwar mit 2:0 schlugen, womit wir dem direkten Abstieg entgangen waren. Uerdingen und Mönchengladbach aber schlossen eine Art Nicht-Angriffspakt und halfen sich mit einem 0:0 gegenseitig.

      Unser Gegner in der Relegation hieß Saarbrücken, und wir mussten zunächst ins Saarland reisen. Es war kein Riesenspiel im Ludwigspark, aber wir besaßen deutliche Vorteile. Dann gab es Mitte der zweiten Halbzeit Elfmeter für uns. Als keiner der etablierten Spieler schießen wollte, schnappte ich mir das Leder. Ich dachte, warum scheißen sich alle in die Hose? Ich legte den Ball auf den Punkt, nahm Anlauf und donnerte die Kugel mit links in die linke Ecke. Dann drehte ich eine halbe Runde durch den Strafraum und streckte die Hand Richtung Fans. Sie hatten mich in den Wochen zuvor mehrfach ausgebuht. Vielleicht waren meine Leistungen auch nicht immer gut, doch mein Herz schlug für Bochum, und ich hatte immer alles gegeben. Wie auch jetzt wieder: Als alle anderen von Muffensausen befallen waren, habe ich die Verantwortung übernommen. Nun feierten mich die Fans wieder. Später, als ich die Übertragung am Fernseher noch einmal sah, hörte ich den Reporter sagen: »Legat ist Lateinisch und heißt ›Bote‹. Und der Bote schickt den Ball ins richtige Eck.«

      Wir siegten also mit 1:0 und wollten nun in Bochum den Deckel draufmachen. Beim Training vor dem Rückspiel konnte ich mir die Frage nicht verkneifen, warum ein erfahrener Torjäger wie Uwe Leifeld nicht zum Elfmeter in Saarbrücken angetreten war. Seine Antwort sprach für mich Bände: »Du bist so unbekümmert. Selbst wenn du den Elfer verschossen hättest, keiner hätte es dir übel genommen.« Ihm schon – und davor hatte er Angst.

      Obwohl ich das Match in Saarbrücken entschieden hatte, sollte ich beim Rückspiel zunächst nicht auflaufen. Erst als Frank Heinemann wegen einer Verletzung passen musste, wurde ich nominiert. Ich war stocksauer. Das heizte meine Motivation zusätzlich an. Abstieg – das kam für mich nicht infrage. Ich nahm mir vor, bis zum Umfallen zu kämpfen. Und das tat ich auch. Allerdings musste ich mitansehen, wie Anthony Yeboah das Team von Trainer Klaus Schlappner mit einem super Kopfball in Führung brachte. Da gab es selbst für unseren Toptorwart Andreas Wessels nichts zu halten. Plötzlich war alles wieder offen.

      Bis zur 77. Minute stand das Spiel vor nur 20.000 Zuschauern auf des Messers Schneide, dann fiel das erlösende 1:1. Unser Holländer Rob Reekers, der ein glänzendes Spiel absolvierte, spielte scharf auf Michael Rzehaczek. »Ratschi« nahm den Ball gar nicht an, sondern schlenzte ihn mit dem Außenrist zu Leifeld. Uwe lupfte das Leder dann gekonnt über den Saarbrücker Torhüter Wahl ins Netz. Ich erwischte unseren Torjäger als Erster, dann fielen alle über ihn her. Ausnahmezustand!

      Es folgten etwas mehr als 20 Minuten, in denen Andreas Wessels über sich hinauswuchs und Yeboah und Co. in die Verzweiflung trieb. Doch er und wir alle hielten stand und retteten uns. Bekanntlich war das Prädikat »unabsteigbar« eng mit dem Image des VfL Bochum verknüpft – und nie war es so präsent wie in diesen letzten Minuten.

      Später, als in einem Bericht des Magazins »11 Freunde« an diese Relegation erinnert wurde, berührte mich ein Lob unseres Torwarts Andreas Wessels. Er sagte: »Th orsten Legat war der beste Fußballer, mit dem ich in meinem ganzen Leben jemals habe spielen dürfen. Seine fußballerischen Fähigkeiten waren grandios.«

      Meinen größten Erfolg mit dem VfL Bochum hatte ich schon zwei Jahre vorher feiern können: den Einzug ins Finale des DFB-Pokals. Es war auch der schönste Erfolg für meinen Förderer Hermann Gerland, der danach zum 1. FC Nürnberg wechselte.

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       Zweikampf mit Klaus Augenthaler, den Libero des FC Bayern. In dieser Partie holten wir ein 1:1-Unentschieden.

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       Im Halbfi nale des DFB-Pokals schlugen wir den HSV mit 2:0. Hier kläre ich vor dem Hamburger Heinz Gründel.

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