Jakob Wassermann

Gesammelte historische Romane von Jakob Wassermann


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Gebirges. Der landeskundige Wegweiser war der Meinung, daß sie noch vor Anbruch des zweiten Tages das Ufer des Tigrisstromes erreichen konnten.

      Das Gestein, hochaufragend an beiden Seiten des Pfades, zeigte großartig zerrissene Formen. Oft näherten sich die Felsen nach oben sehr einander, daß nur ein schmaler Himmelsstreif sichtbar blieb, den das Dunkel der Schlucht noch dunkler färbte. Dann eröffnete sich wieder ein enges, ansteigendes Tal, aus dem eine eisige Luft wehte, denn im Hintergrund erhoben sich bläulichweiß die ewigen Schneegipfel. Die Söldner, von der Wildheit der Natur bedrückt und geängstigt, verwünschten ihre Abenteuergelüste und die Versprechungen ihres Führers Arrhidäos, dem sie zu mißtrauen angefangen hatten.

      Es waren nur wenige Makedonier; die andern waren Thessaler, Samiaten, Lyder und Griechen. Die Verwegenheit ihrer Gesichter war nicht die von ehrgeizig gestimmten Soldaten, sondern die von eilig aufgelesenen und schlecht bezahlten Wegelagerern. Die meisten hatten schon in Syrakus, in Karthago, in Rhegion und bei den Persern gedient, – Menschen, die um zehn Drachmen für jede Untat zu haben waren, stadtverwiesene Sykophanten, Meuchelmörder, Tempelräuber und Burschen, die auf ihren Wangen das Siegeszeichen der Städte, gegen die sie gekämpft, als Schandmal aufgebrannt trugen.

      Arrhidäos, im einfachen Panzer und mit dem schweren Metallhelm auf dem Haupt, war tief in sich selbst verloren. Sein hageres, langes Gesicht mit der scharfen und hageren Nase, zu der das breitrunde muschelförmige Kinn in auffallendem Gegensatz stand, war von schwebenden Phantasien bewegt. Bisweilen spornte er blitzenden Auges sein Pferd, daß es wiehernd vorauslief, und wenn er sich weit genug und unbeachtet glaubte, rief er irgendeinen anfeuernden Vers in die hehre Einöde der echoenden Felsklüfte, in den siedenden Lärm der Bergbäche.

      Gegen Abend erweiterte sich die Schlucht, und die kreisförmig zurücktretenden Felswände umschlossen eine öde Hochfläche, die mit ungeheuren Blöcken besät und von breiten Streifen erstarrter Lava durchzogen war. Dann bog sich jählings der Weg hinab, und noch auf dem Abhang reitend, gewahrte Arrhidäos ein tiefes Tal, wie versteckt inmitten der Gebirge liegend, von leuchtendem Pflanzengrün überzogen, und in seiner Mitte einen See, auf dessen blauem Spiegel sich Myriaden von Wasservögeln schaukelten. Der Wind trug die Blütengerüche bis herauf. Kastanien, Birnen und Granatbäume wuchsen am See-Ufer, ein Hügel war ganz mit roten Blüten überdeckt und sah aus wie ein umgestürztes Gefäß aus poliertem Kupfer, an dessen Seiten Blut herabströmt.

      Wegen der Steile des Weges stiegen die Reiter ab und führten die Pferde über den mit Zwergeichen bewachsenen Hang hinunter. Während ihnen gegenüber ein Schneegipfel, der bis in die Abendwolken hineinragte, rot erglühte, leuchtete der See in immer dunklerem Blau. So sieht man sonst nur im Traum die Welt.

      Arrhidäos wandte sich an seinen Begleiter, einen Rhetor namens Dion, der den Zug des Arrhidäos als halbwegs sichere Wegbegleitung zum großen Heer benutzte und sich dafür durch Schmeichlerdienste erkenntlich zeigte. Er war schon beinahe siebzig Jahre alt, ein verkommener Mensch, aufgeblasenen Geistes, bettelarm.

      »All dieses Land gehört Alexander,« sagte Arrhidäos mit einer Niedergeschlagenheit, deren er nicht Herr werden konnte, »und ich habe nicht einmal fünfhundert Goldstücke, um meine Leute zu bezahlen.« Und mit dem Tonfall kindlicher Trauer, der ihm oft eigen war, fuhr er fort: »Warum ihm alles und mir nichts? Löse mir doch dies Rätsel, Dion. Bin ich denn schlechter, geringer, kraftloser, unwürdiger? Bin ich mißgestaltet, sind meine Augen ohne Glanz, ist meine Zunge nicht beredt? Ich wollte mich ja zufriedengeben, wenn ich nur in meinem Innern nicht diese Glut spürte. Ich kann nicht schlafen, Dion, beständig höre ich Stimmen, und wenn ich so daliege, in Schweiß gebadet, dann kommen Pläne über Pläne, alles scheint leicht; dann schlaf’ ich so um Tagesgrauen ein und habe die schönsten Träume, aber leider kann ich sie nie austräumen, weil mich die Lagertrompete weckt.«

      Dion schüttelte den Kopf, rückte den Myrtenkranz auf seinem kahlen Schädel zurecht und verzog die rüsselartigen Lippen zu einem beruhigenden Grinsen. In diesem Augenblick hielten die Söldner ihre Tiere an und deuteten hinüber auf eine Stelle des See-Ufers. Eine Rauchsäule wälzte sich schwarz und qualmend über halbverkohlte Baumwipfel; sie konnte keinem friedlichen Feuer, sondern nur einer Brandstätte entstammen.

      Die Söldner eilten vollends hinab, schwangen sich auf die Pferde und ritten im gestreckten Galopp über die Talsohle. Arrhidäos sprengte als erster unter den dunklen Schatten der Bäume, deren rissige, harztriefende Rinde in der purpurnen Dämmerung glühte. Es herrschte Brandgeruch. Die Stille des Hains wurde durch keinen andern Laut gestört als das sausende Geräusch der Pferdetritte im hohen Gras. Die Söldner schwiegen.

      Im weiten Halbkreis traten die uralten Bäume zurück. Auf der tiefblauen und wie gehämmertes Metall glatten Seefläche glänzte prächtig das Gefieder der Wasserhühner. In der Mitte des gelichteten Runds stand ein Tempel von halb persischer, halb lydischer Bauart. Aus seinem Dach drängte sich schwer die Brandwolke. Die vier schlanken Säulen der Vorhalle waren umgestürzt und der goldnen Verzierungen beraubt. Das Kranzgesimse war flammengeschwärzt, auf den Stufen lag heruntergeronnenes und halbvertrocknetes Blut. Die Wohnhütten der Priesterinnen waren verbrannt oder zertrümmert. Angekohlte Balken, Opfergefäße, Weihgeschenke, wertloser, doch ehrwürdiger Schmuck bedeckten den Boden. Am Ufer lag in einer Blutlache der Leichnam einer jungen Priesterin; ein abgebrochener Speerschaft ragte aus ihrer Brust, Kopf und Hals waren ins Wasser getaucht.

      Selbst auf die verhärteten Sinne der Söldner wirkte es befremdend, wie das Bild des Mordes in den süßen Frieden eines paradiesischen Tals eingewebt war. Leuchtend weiß und grau stiegen die Gebirge empor; der Seespiegel begann sich schon schwärzlich zu färben, das Getier, das sich auf ihm getummelt, verschwand lautlos.

      Die Söldner löschten das Glimmen des Gebälks im Tempelinnern, richteten die Zelte auf, brieten Vögel am Spieß, die sie in Eile geschossen, kochten Reis in großen Pfannen.

      Arrhidäos liebte das Schweigen der Natur. In Stunden wie diese fühlte er sich allem Geschehenen überlegen, und das Ungeschehene schien ihm allein vorbehalten. Ihm war, als ob mit dem Wunsch und der Glut des Wünschens schon das Wichtigste vollbracht sei. Die Tat war nur der enteilende Schatten des Traumes von ihr. Allmählich stieg seine wunderbare Erregung so sehr, daß er aufsprang und mit großen Schritten umherging. Er erschien sich in diesem Augenblick als der beseelende Dämon, der in Alexander aus der Ferne gewirkt, der dem Geiste nach vollbracht, was Alexander dem Wesen nach und vor den Augen der Welt erreicht hatte.

      Indem er sich umdrehte, stolperte er über einen Stein. Das betrübte ihn als schlechtes Vorzeichen, und statt des Lichts sah er nun auf einmal wieder Dunkelheit vor sich. Warum bin ich denn nach Asien gegangen? dachte er. Warum in ein Land, das schon ein anderer besitzt? warum nicht gegen Westen? warum nicht in den furchtbaren Norden? was will ich hier, wo alles schon getan ist? Eine fressende, unbestimmte Sehnsucht erfüllte Arrhidäos’ Herz. Vom Lager herüber drang das Schwatzen der Söldner, aber als er sich dem Hain näherte und die Stille wie etwas Bewegliches auf ihn zufloß und ihn umhüllte, löste sich der Lärm des kleinen Lagers auf und zerbrökelte wie Salz in Wasser. Hie und da drang noch ein rohes Lachen herüber oder die heisertrunkene Stimme Dions, der ein Kornstampferliedchen vortrug. In einer Mischung von Einsamkeitsgrauen und Götterfurcht begann Arrhidäos zu weinen.

      Dem Ufer folgend, kam er an einen gewaltig dicken Baum, dessen weithinausgreifende Äste bis über den Wasserspiegel hingen. Am Fuß des Baumes, auf dem im Nachtschein gelbschimmernden Moos lag ein schlafendes Weib. Arrhidäos starte eine Weile auf sie herab. »Wer bist du?« fragte er mit seiner heiseren Stimme und berührte mit der Sandale den nackten Arm der Emporschreckenden. Er erhielt keine Antwort und stand eine Weile ratlos. Dann wandte er sich und stieß einen hallenden Doppelruf aus. Seine beiden Sklaven liefen herüber, einer trug die brennende Fackel. Arrhidäos befahl ihnen, das Weib ins Lager zu führen, und versank wieder in sein trübe gärendes Innere.

      Als er zurückkehrte, hatten sich die Söldner schon zur Ruhe hingelegt. In den Bergen schallte der Schrei des Wildes, Vogelrufe tönten durch die Nacht, die Spannketten der Pferde klirrten. Als Arrhidäos sich zum Schlaf hinlegen wollte, kam der lydische Wegführer und machte ihn auf jenes Weib aufmerksam, das von den beiden Sklaven gefolgt durchs Lager schritt und in abgebrochenen Lauten vor sich hinsang.