Freifrau Theodata von Ehrenberg stammte aus einem alten lothringischen Geschlecht. Als jüngste von acht Schwestern hatte sie keine andere Mitgift in die Ehe gebracht als drei Truhen voll Kleider und Wäsche und ein paar goldne Ketten und Armbänder. Außerdem die taube Lenette. Davon schrieb sich der Groll des Herrn Philipp Adolph her; die Armut hatte er ihr nie verziehen und daß aus dieser Ursach der Bruder mit seinem ganzen Hausstand ihm beständig auf der Tasche lag.
So sah es von seiner Seite aus. Die Freifrau betrachtete ihn als den Mann, einzigen Blutsverwandten ihres Gatten, der den verfahrenen Karren von dessen Existenz ins rechte Gleis hätte bringen können, bei einigem guten Willen und einiger Liebe nur, und es nicht tat, oder nur zögernd tat, nur selten und halb; den Mann, an den man Bittbrief über Bittbrief schreiben mußte und der mit hart geschlossener Hand sein ererbtes Gut hütete, das er durch Pfründe, Sporteln und Geschenke klug zu mehren gewußt, indes der Bruder, gescheiterter Soldat, gescheiterter Mensch von Geburt an, alles verpraßt, verspielt, verloren hatte. Ihr eigener Schwestersmann, Gesandter am kursächsischen Hof, hatte ihm die wenig einträgliche Kämmererstellung verschafft, in der er sich unglücklich fühlte, weil er jedes Talents dazu ermangelte. Theodata, noch jung und zuversichtlich damals, hatte ihn zu überreden verstanden, daß er auf diesem Weg zu Erfolg und Ansehen gelangen würde, und weil sie es so hartnäckig behauptete, hatte er es eine Zeitlang geglaubt. Solang sie in seinen Augen noch was galt, hatte er es geglaubt, dann nicht mehr. Das Soldatenleben war ihm leid, das Schranzenleben war ihm erst recht leid; er hätte selber nicht sagen können, welche Art von Leben ihm unleid gewesen wäre. Nach und nach war sie zur Prügelmagd des Freiherrn herabgesunken, und für alle Enttäuschungen, die er erlitt, hielt er sich schadlos an ihr, für seine Unfähigkeit auch, für seine Schwäche, für seine Faulheit, für die Mißachtung, mit der man ihm bei Hof begegnete. Schließlich blies er in das Horn seines geistlichen Bruders, wenn er ihr die angestammte Bettelhaftigkeit hämisch vorwarf; manche Nacht schlief sie aus Angst vor seiner trunkenen Roheit außer dem Hause; manchen Tag brachte sie damit zu, bei Juden und Wechslern Geld aufzutreiben, Pfänder anzubieten, Bürgen zu stellen, um Stundung zu flehen. Nur wenn sie mit Geld zu ihm kam, war sie vor seinen Rüpeleien und seinem Unflat sicher. Hatte er doch einmal gedroht, das Kind zum Fenster hinauszuschmeißen, falls sie ihm nicht bis zum Mittag hundert Gulden verschaffe, und ein andermal, sie nackigt mit der Reitpeitsche auf den Wenzelsplatz zu jagen, wenn sie nicht den Juden Meisel, seinen grausamsten Gläubiger, zur Nachsicht bewege. Alles dies und viel anderes noch trat ihr in den Jahren nachher vor den Sinn, wie im Fieber gewisse Visionen aus einem früheren Fieber auftauchen mögen, sei es auch nach noch so langer Zeit, und Menschen und Schauplätze schwankten in düsterem Gewoge durch ihr von keinem Licht der Phantasie gesegnetes Inneres. Hauptsächlich jenes Begebnis, das wie ein Mark-und Schlußstein am Ausgang des sechsthalbjährigen Eheleidens stand, wie er in der Nacht vor dem Duell den schlafenden Ernst mit wildem Gelächter aus dem Bett gerissen hatte, um ihn mitzunehmen, damit er seinen Vater solle fechten sehen, ihn auch wirklich auf seinen Armen fortschleppte, trotz ihrer Bitten und Tränen; wie der arglose Knabe im Halbschlummer die Ärmchen um den roten aufgedunsenen Hals des Vaters geschlungen und sich von ihr abgewandt, von ihr nichts wissen gewollt hatte; warum von ihr abgewandt? Von ihr und nicht von ihm? Wie die Kumpane des Freiherrn Beifall gejohlt und sie in ihrem Jammer durch die Straßen geirrt war; das war unvergänglich in ihrer Seele eingegraben, aber es versank; es war vorhanden, aber es versank, es verkrustete. Dann lag er als Leiche vor ihr, stumm und fahl, der rasende Schwächling, und in ihr war kein Trieb als: fort, fort, nichts mehr hören, nichts mehr sehen; auch den Buben wollte sie nicht mehr sehen, er war in ihrem Geist auf einmal so vernämlicht mit dem Bild seines Vaters, daß sie seinen Blick nicht mehr aushielt, dem Sechsjährigen gegenüber in schwarze Angst vor dem Menschen geriet, der er mit zwanzig sein würde. Alles kehrte sich um in ihr, die ganze Natur kehrte sich um, nur befreit sein, nur los und ledig sein, und wenn sie sich auch noch des Namens Ehrenberg hätte entäußern können, wäre sie Gott dankbar gewesen.
Dann zog sie in der Welt herum, lud sich selber zu Gast bei ihren sieben Schwestern, fing bei der ältesten an, die einen kurtrierischen Kanzler geheiratet hatte, und hörte bei der jüngsten auf, deren Mann in Diensten des Landgrafen von Hessen-Kassel stand. Man hieß sie überall zuerst willkommen, aber wenn man fand, daß sie zu lang blieb, gab man ihr zu verstehen, daß sie nun wieder woandershin ziehen müsse, zu einer andern Schwester, die auch was von ihr haben wolle, oder zu einer hochadligen Dame, deren Bekanntschaft sie gemacht und die sie freundlich eingeladen hatte. So lebte sie einen Winter im Moselland, dann Frühjahr und Sommer im Holsteinischen, dann Herbst und Winter im Gebiet von Pfalz-Neuburg, dann bei der Schwester Mathilde in der Grafschaft Sorau, dann bei der Prinzessin von Cleve zu Cleve, dann auf einem Schloß am Niederrhein, dann auf einem mecklenburgischen Gut; kam in die berühmten Badeorte und in die vielen Residenzen kleiner großer Herren, verkehrte mit Rittern, mit Abenteurern, mit Goldmachern, mit landflüchtigen Fürsten, saß ein paar Wochen mutterseelenallein in einem Turm, wohnte dann etwelchen Hochzeitsfeierlichkeiten bei, zum Beispiel in der gräflichen Bentheimschen Familie. Überall erwies sie Ehre durch ihr Kommen und wurde dann Last, erwies man ihr anfangs Ehre, um sie mit der Zeit zu negligieren, ohne doch zu versäumen, ihr Wegzehrung, Gastgeschenk und Geleit bis zur nächsten Stadt, zum nächsten Quartier zu geben, wo man die ewige Wanderin schon erwartete. Das römische Reich war vom Krieg überflutet, plündernd und sengend stampften Reiterhaufen kreuz und quer durchs Land, oft in der Nacht sah sie brennende Dörfer am Saum des Horizonts, oft lagen die Leichen ausgeraubter Kaufleute im Straßengraben, oft mußte ihr Reisewagen Halt machen, weil endlose Scharen von Bauern, die mit ihrer Habe aufgebrochen waren, den Weg verlegten. Ihr geschah nichts, keiner tastete sie an, keiner hielt sie auf, als wäre sie durch einen Zauber geschützt, seit sie sich losgerissen hatte von ihrer Wurzel und aus ihrer Welt. Sie dachte über den Tag hinaus nicht an den nächsten, und nur was sie sehen und greifen konnte, war da. Ihre vierte Schwester, die an einen Marquis de Lionne verheiratet und eine Dame von einigem Geist war, behauptete, daß Theodata nicht träumen könne und niemals Träume habe. In der Tat entfernte sich die Freifrau in keinem Augenblick ihres Lebens aus der Nähe der Dinge und verließ mit keinem ihrer Gedanken den Kreis der enggestellten Wirklichkeit. Daher auch immer etwas sonderbar Geducktes an ihr war wie bei jemand, der in einem finstern feuchten Flur geht und nicht an der nassen Mauer anstreifen will, daher auch jene Vergeßlichkeit, die nicht selten die Erheiterung der Zirkel war, in denen sie weilte, die ihr die weise Natur vielleicht als Wehr verliehen hatte, damit die Wunden heilen konnten, an welchen ihr zarter Organismus sonst hätte verbluten müssen, und die den Damm bildete, der die tägliche wiederkehrende Wirklichkeit nach allen Seiten abschloß. Sie behielt keinen Namen, keine Zahl, keinen Weg, kein Gesicht, keinen Vorfall im Gedächtnis; alles mußte erst durch Wiederkehr bestätigt und zum Augenschein werden. Sie vergaß von einer Stunde zur andern, was sie gesagt, was sie versprochen, was sie gesehen und erlebt hatte. Sie kannte nicht die Zeit, der Lauf der Uhr war ihr fortwährend was zum Erstaunen. So wußte sie auch vom Jahr nichts als Wechsel von Hitze und Kälte und Grün und Weiß, nichts als was man spüren, was man sehen konnte. Spüren und sehen, schmecken und riechen, wie ein Tier eingesperrt in die wiederkehrende Wirklichkeit, traumlos, sehnsuchtslos, himmellos, lichtlos, gesichtslos, so hätte sie vermutlich niemals nach Ehrenberg gefunden, wo der vergessene Sohn hauste, hätten sich nicht ihre beiden jüngsten Schwestern zusammengetan und hinter die Landgräfin von Hessen gesteckt, die ihr eines Tages sanft zuredete, sie an ihre mütterliche Pflicht mahnte und dann mit ihrer Zustimmung alle Vorbereitungen zur Heimkehr traf. Heimkehr war es, mußte es sein, obwohl sie das Ehrenberger Schloß nie zuvor betreten hatte. Aber daß sie Mutter war, Mutter sein sollte, das nahmen ihre Gedanken nicht auf.
VI
Mit achtzehn Jahren hatte sie geheiratet, ein Spätkind von alten Eltern, mit fünfunddreißig sah sie noch wie ein Mädchen aus. Doch was Jugend schien, war nur in den Formen geblieben, die Haut hatte was Starres und Regloses wie bei getrockneten Blüten, und die Gebärden erinnerten an Gewesenes. Sie redete nicht viel, immer über dieselben Dinge mit denselben Worten und einer seelenlosen Vogelstimme. An den Bischof hatte sie gar nicht gedacht, als sie nicht wußte, womit sie den Fuhrmann bezahlen sollte, der mit unverschämter Dringlichkeit sein Geld forderte. Er