er überbot sich in schreckhaften und wunderlichen Einfällen, in blühenden Übertreibungen und Ausdenken von Erlebnissen, die er gehabt haben wollte. Bald hatte er solche Geschicklichkeit darin, daß es ihm immer öfter gelang, die gute Lenette anzuführen; mit heimlichem Entzücken spürte er, wie sie zweifelte, seinen Worten allmählich unterlag und von Furcht erfüllt oder von Erwartung gepackt wurde, während sie ihm gleichzeitig ihr trotziges: »Das glaub ich nicht« zurief. Als er einmal so weit war, versuchte er es beim Verwalter Wallork, bei den Schafhirten, den Kärrnern und den Jägern und schließlich wagte er sich auch an den Magister Molitor. Er wagte es, weil er im Ausdruck nach und nach eine Rundheit und Flüssigkeit erworben hatte, die ihn selbst berauschte, wie einen Schwimmer die eigene Gelenkigkeit kühner und ausdauernder machen kann; jeden Tag wußte er neue Worte und Bezeichnungen, Eigenschaften, Farben, Zustände, Vorgänge. Die Worte stürzten über ihn her, daß ihm zumute war, als stehe er in einem Wasserfall, der ihm den Atem verschlug. Sämtliche Dinge zwischen Himmel und Erde begriffen sie in sich; man konnte sie durcheinanderwerfen wie Spielsteine; jedes bedeutete was, hinter jedem türmte sich Geschehnis auf, unendlich war Verbindung und Verknüpfung, vielfältig machte einen das leiden und freuen. Zu einer gewissen Zeit begann er, die Bücher und Folianten des Magisters in dessen Abwesenheit durchzublättern; es kam ihn die Lust am Lesen an; in unverständlichen Abhandlungen und philosophischen Traktaten sogar fand er das Schillernde, Regenbogenhafte, Bewegte, aus dem sein Geist Nahrung sog; die bloßen Zeichen genügten oft schon, die Formel; er lockerte sie auf, nahm, was er suchte und was er fand (auch wenn es nicht drin war), heraus und warf die Hülsen weg. Waren es aber Stiche und Bildnisse, ein Ritter, ein geflügelter Drache, ein Engel auf einer Wolke, Pharao, wie er den Joseph ehrt, da wurde ihm heiß und kalt, er war gleich selber Ritter oder Drache, selber der edle Joseph, in atemlosem Glück der ruhevolle Engel. Dann saß er bei Wallork und log dem staunend Aufhorchenden vor, oben im Saal sei ein Mensch in goldener Rüstung auf ihn zugeschritten, habe sich Fürst des Morgenlandes geheißen und ihm befohlen, sieben Jahre und sieben Tage gegen Osten zu wandern, am Ende dieser Zeit werde er was Großes erfahren. Den Schäfern und Jägern erzählte er, ein graubärtiger Alter sei im Verlies der Rottensteiner Burg eingekerkert, man höre ihn zur Mitternacht rufen und stöhnen, und einmal habe er ihm anvertraut, er wisse einen vergrabenen Schatz, aber wenn der Bischof davon Kunde erhalte, werde er ihn erwürgen lassen. Wenn die Leute ungläubig den Kopf schüttelten oder ratlos dreinschauten, schilderte er Gesicht, Haltung und Sprache des Gefangenen so ausführlich und genau, schmiegte sich so listig in die Einbildungskraft der Zuhörer, daß die arglosen Menschen stutzig wurden und das böse Gerücht im Land herumtrugen, obschon sich nachher das Spukgebilde als zu schemenhaft selbst für das wahnvolle Volk erwies. Dem Magister Molitor ging er dann, durch Probe und Übung gestärkt, schon wesentlicher zuleibe. Er entwendete ihm eines Tages ein altes Pergament mit schön gemalten Initialen, ein seltenes Exemplar, das für Herrn Onno großen Wert besaß; ein Augustiner hatte es ihm für geringes Geld überlassen. Diesen Umstand kannte der Junker. Mit erstaunlicher Wahrheitsmiene erzählte er dem Magister, als dieser von einem Besuch beim Propst Lieblein in Würzburg zurückkehrte, der Mönch sei dagewesen, habe ihn mit drohenden Gebärden angefahren und von ihm gefordert, daß er ihm augenblicks das Pergamentum herausgebe, er habe es wohl an den Magister verkauft, habe aber nicht gewußt, daß derjenige, der es besitze, zu jeder Zeit, bei Tag wie bei Nacht, unverwehrten Einlaß bei allen Königen der Erde wie auch beim heiligen Vater in Rom habe, daß er ferner in voller Leibes-und Lebenssicherheit durch alle Länder reisen könne, in denen Krieg oder Pest wüte. Zuerst habe er, Ernst, behauptet, er wisse nichts davon, weil sich aber der Mönch gar verzweifelt aufgeführt und ihm mit endlosen Bitten und heftigen Reden zugesetzt, habe er sich verschnappt und ihm dann den Platz gewiesen, wo die wundertätige Rolle lag; der Mönch habe sie genommen und sei verschwunden. Magister Onno lauschte dem merkwürdigen Bericht mit finsterer Ungeduld, eine braune Zornader schwoll auf seiner Schläfe, er nahm den Junker scharf ins Verhör, wieder und wieder, trat des Nachts an sein Lager, riß ihn aus dem Schlaf, um ihn mit Fragen zu überfallen, hielt ihm vor, daß niemand im Schlosse zu der angegebenen Stunde den Mönch erblickt hätte, wies ihn auf die Ungereimtheit seiner Angaben hin, bedrängte ihn mit Erbitterung und mit Milde, schlug ihn am Ende sogar mit der eisernen Rute: es war umsonst, der Junker setzte allem eine Miene entgegen, als begriffe er den Zweifel nicht, brachte täglich neue, überzeugendere Umstände vor, und nicht nur das, spann auch mit einer Unverfrorenheit, die nur von seiner beständig wachsenden, seltsam anmutigen Beredsamkeit übertroffen wurde, den Faden weiter, stürzte eines Morgens erregt und blaß in die Stube des Magisters, verkündend, der Mönch sei ihm begegnet, habe ihn mit geflüsterten Worten in den Wald gelockt und ihm einen Schwur abverlangt, daß er ihn nicht verraten wolle, dann sei er erbötig; das Pergament wieder zur Stelle zu schaffen, doch müsse auch der Magister am dritten Tage von heute an beim Aufgang des Mondes unter der großen Pappel beim Wegeinnehmerhaus einen Eid schwören, daß er den Dieb fernerhin weder verfolgen noch bezichtigen werde; betrete er hierauf seine Kammer wieder, so werde er die Zauberrolle auf dem alten Platz finden.
Der Magister weigerte sich ergrimmt, den Hokuspokus zu verüben, denn er war ein weit über seine Zeit aufgeklärter Mann, richtiger Philosoph und Anhänger des Aristoteles, doch der Junker wußte ihm so stürmisch, so schmeichlerisch zuzureden, daß er, nur um zu sehen, was daraus entstünde, zu tun versprach, was von ihm begehrt wurde, nicht ohne stillen Vorsatz, das unerforschliche Treiben des Junkers aufzudecken, und nicht ohne sich selber zu grollen, weil er von der Art und Rede des Zwölfjährigen bezwungen und umgarnt war wie noch von keinem Menschen zuvor. Als nun die Stunde kam, wo das Gelöbnis abgelegt werden sollte, war es mit dem feierlich angesagten Mondaufgang nichts, wohl aber herrschte ein heftiges Gewitter, der Regen schüttete in wahren Bächen herunter. Der Magister tat, als schrecke ihn das nicht im geringsten, Ernst hingegen, auf dessen Gemüt Blitz und Donner stets gewaltigen Eindruck machten, hatte etwas Zauderndes in seinem Wesen und schien in Gedanken verloren. Als sie nun beide unterm Haustor standen und in das tobende Unwetter hinausschauten, fuhr ein Blitz nieder, der den Schloßhof, den Brunnen, die Mauer und weit drüben ein Stück Forst in schwefelgelbes Licht tauchte. Der Junker prallte zurück. Da legte ihm der Magister die Hand auf die Schulter und sagte: »Vorm Angesicht des Elements, Junker, wollt Ihr nun als Wahrheit aufrechterhalten, was Ihr mir angegeben habt? Sprecht und seid redlich mit mir.« Der Knabe blickte mit verträumtem Trotz zu Boden; plötzlich, bei einem abermaligen Blitz, erhob er seine Augen, die wie zwei schwarze Juwelen funkelten, und erwiderte: »Ich hätt es Euch ohnehin bekannt, wenn die Geschichte zu Ende war. Eine Geschichte muß aber doch ein Ende haben.« Es war nicht Schuldbewußtsein, es war Anruf und Sichbehaupten in seiner Stimme. »Wie denn das?« stammelte Magister Onno. »Eine Geschichte? Nicht Lüge, nicht Hinterhältigkeit und boshafte Hintergehung, eine Geschichte?« Der Knabe erhob die Hände gegen ihn, und in den verrollenden Donner hinein rief er: »Ja, ich hab Euch eine Geschichte erzählt, nichts anderes.« Der Magister schwieg. »Und ists Euch nicht leid, daß sie kein Ende hat und doch schon aus ist?« fragte treuherzig der Junker.
Der Magister, von allen Geistern der Pädagogik verlassen, blickte den Junker sprachlos an. Als er in seine Stube kam, lag das Pergament wieder dort, wo es immer gewesen war.
VIII
Von diesem Tag an lösten sich die Erfindungen und Eingebungen seiner Phantasie vom Wirklichen und den Menschen seiner Umgebung langsam ab, wie sich der Efeu vom Boden erhebt, wenn man ihm einen Halt anweist, von wo er gegen die Höhe wachsen kann. Geschichten erzählen, das war sein Eins und Alles, und vermutlich war er erst in jener Gewitternacht zum Wissen oder Ahnen davon gekommen, was das war, eine Geschichte. Daß man sie nicht hineinflicken durfte in den gemeinen Tag wie ein buntes Stück Stoff in ein abgeschabtes Gewand, daß sie selber ein schönes Gewand sein mußte, und der es verfertigte ein geschickter Schneider, und dem man es an den Leib paßte, einer, dem es auch gut zu Gesicht stand und der seine Freude dran hatte. Lange Zeit verging, vielleicht ein Jahr, da verhielt er sich überhaupt ziemlich still; es war, als schaue er sich vieles an und überdenke viel; beständig lag er Herrn Onno in den Ohren, er solle ihm Bücher verschaffen, Bücher, in welchen zu lesen sei, wie die Menschen leben, nicht die Menschen, die um ihn herum waren, sondern traumhafte Leute in fernen Ländern, Türken, Schweden und Engländer,