Jakob Wassermann

Gesammelte historische Romane von Jakob Wassermann


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auf, und ehe die bekümmert aufschreiende Lenette es hindern konnte, schleuderte sie den Beutel hinab. So gut hatte sie in ihrem irren Eifer gezielt, daß der Beutel geradewegs in das dunkle Brunnenloch fiel.

      »Was habt Ihr da getan, Gnaden?« flüsterte Lenette scheu und bekreuzigte sich.

      »Geh nur«, sagte die Freifrau und winkte.

      Als Lenette traurig hinausgeschlichen war, ließ sich Theodata auf einem Schemel nieder, legte das Gesicht in beide Hände und begann zu weinen. Die Tränen wollten überhaupt nicht aufhören zu fließen, eine Stunde verging, und sie weinte immer noch, als ob ihr der liebste Mensch gestorben wäre, hätte sie einen liebsten Menschen nur gehabt. O das Wirkliche, das Nahe, das Jetzt! Wie war doch alles so wirklich und so jetzig um sie; kein Gestern, kein Morgen, nicht einmal ein Heute, nur ein Jetzt, und kaum war das da, wieder ein Jetzt. Lauter Löcher, in die man hineinfiel, eins nach dem andern, und jedes so tief wie der Ziehbrunnen.

      Während sie noch weinte, öffnete sich die Tür und der Junker Ernst kam herein, langsam, mit einer Art von Vorsicht. Er war durch den Flur geschritten, da gewahrte er im Halbdunkel Lenette. Diese kniete vor der Schwelle, schon seit geraumer Zeit. Sie hörte es nicht, aber sie ahnte, daß die Freifrau in der Stube saß und weinte. Es mußte so sein, nun mußte sie drinnen weinen, wenn nicht die ganze Welt verdreht war. Indem sie ihr Ohr gierig an die Tür drückte, fühlte sie sich an der Schulter angerührt, und als sie emporblickend den Junker gewahrte, erhob sie sich, zog ihn zur Stiege und berichtete ihm, der Frau Mutter sei ein Beutel mit Gold in den Brunnen gefallen, brachte es so vor, als sei es aus Unbedacht geschehen, und deshalb sitze sie in der Stube drin und gräme sich. Denn Lenette wünschte, daß der Junker zu seiner Mutter hineinging und mit ihr redete, damit die unheimliche Erstarrung von ihr genommen würde, in der Lenette ein pures Teufelswerk sah. So geschah es auch; Ernst befolgte die Weisung der alten Magd. Leise ging er zu dem Schemel hin, auf dem die Freifrau hockte, sah eine Weile nachdenklich auf sie herab, berührte sie dann mit derselben Bewegung an der Schulter, wie er es draußen bei der tauben Lenette getan, und sagte mit seiner schmeichelnd-tiefen Knabenstimme: »Getröstet Euch, Frau Mutter, Ihr müßt Euch nicht kränken um den Beutel mit Geld. Es ist nur dann schade drum, wenn Ihr drum weint. Hört auf zu weinen.« Indem er ihr so zusprach, kauerte er sich neben ihr auf den Boden nieder, blickte mit seinen Augen, die so braun und so groß wie Kastanien waren, ruhig zu ihr empor und wiederholte: »Hört auf zu weinen. Das macht alt und häßlich, und Ihr seid jung und schön. Wenn Ihr nicht mehr weint, will ich Euch eine Geschichte erzählen … Merkt nur auf, ich will Euch eine Geschichte erzählen …«

      VII

       Inhaltsverzeichnis

      Wie die Erdrinde und jede Frucht ihre verschiedenen Schichtungen hat, von denen die einzelne immer einen vergangenen Zustand bezeugt und einen künftigen erwarten läßt, so hat auch, gemäß der Idee, welche die Natur bei allen ihren Gestaltungen verfolgt, die Menschenseele ihre zahlreichen abgetrennten, doch aufeinander bezüglichen Lagerungen, besonders was ihr geheimes Werden und dem Wissen entzogenes Leben betrifft. Bei vielen liegt dieses Traumwirken dicht unter der Oberfläche und zerrinnt beim ersten Anprall des Tages und der Welt; bei andern wieder treibt es seine Wurzeln in größere Tiefen, so daß die Gegenwartsmächte sich härter mühen müssen, es herauszuheben; jedem ist da sein eigenes Gesetz eingepflanzt worden; bei einigen Seltenen hat es sich in solche Abgründe gewühlt, daß alle anstürmenden Kräfte nichts dawider vermögen, und ein solcher Mensch ist nur leiblich als ein Ganzes geboren, sein Sinn und Geist wohnt außerhalb der Welt, oberhalb oder unterhalb ihrer, und das war wohl auch die Ursache, daß der Junker Ernst bis in sein sechstes Jahr beinahe ohne Sprache blieb. Nach dem Tod des Vaters und der Trennung von der Mutter konnte er sich nur über das Notdürftigste verständigen, und was nicht Mienenspiel und Auge war, blieb stumm. Die Veränderung seines Lebensschauplatzes, aus dem lärmenden Gassengewirr der Kaiserstadt in die fränkische Einsamkeit, schien kaum sein Inneres zu berühren, ließ ihn nicht einmal aufmerken, und damals hatte der Magister Onno Molitor sich häufig der Befürchtung zu erwehren, ob er in seinem Zögling nicht ein von Geburt schwachsinniges Geschöpf vor sich habe. Beim Unterricht blickte der Knabe unsehend vor sich hin, lächelte, wo nichts zu lächeln war, staunte, wo nichts zu staunen war, und mit acht Jahren redete er noch von sich selber in der dritten Person und mit erfundenen, vielleicht auch aufgeschnappten Namen, zum Beispiel der Heimerlein, der Schattenzart oder das Kniehupferlein. Wenn er in einem Winkel kauerte und in sich hineingrübelte und dann wie aufwachend zusammenhanglose Sätze murmelte, schien es oft, als seien aus der frühen Kinderzeit Begriffe in seinem Hirn und Dinge in seinem Aug verblieben, Farbiges und Prunkvolles, Gärten, Paläste, nächtliche Fackelzüge, straßenfüllende Kavalkaden, schöngeputzte Frauen, das feierliche Innere einer Kirche, ein lichterstrahlender Saal, daneben auch Düsteres und Schreckliches, und als ob er um diese Bilder tief unten im Bodenlosen ringe, mit gestammelten Wörtern ohnmächtig hinter ihnen her taumle.

      Hiezu kam, daß in jenen frühen Jahren, wo seine Verlassenheit das Herz der tauben Lenette rührte, ihn die nicht selten am Abend auf den Schoß nahm, vor dem Herd, in dem die Holzscheite brannten, während an den verrußten Mauern und über das Tonnengewölbe der Decke unruhige Schattenfetzen zuckten, und ihm Geschichten erzählte, schnurrige, gruselige, abenteuerliche Geschichten von fluchbeladenen Prinzen und verzauberten Prinzessinnen, Höhlengeistern und weißen Frauen, Hünenbergen und Judensteinen, von Fridigern und von der Bamberger Wage, von den Semmelschuhn und vom Buttermilchturm. Alles dies hatte er damals nicht auffassen können, so hatte es wenigstens geschienen, wie ein verbogener Klotz hockte er auf den Knien der Lenette, stocherte töricht mit einem Spreißel zwischen den Herdziegeln, und das Erzählte war nicht mehr, als bliese man über seine Augenlider hin. Doch täuschte der Anschein, das bunt-und dunkelphantastische Wesen traf ihn, die Tiefe unten saugte es ein, um es aufzubewahren, und wenn er seine eigentümlichen Spiele trieb, kam es hervor wie im Februar grüne Halmspitzen aus dem Boden. Allem verlieh er Leben, den Äpfeln in der Apfelkammer, dem silbernen Reif an seinem Finger, den Seifenblasen am Strohhalm, der träufenden Dachrinne, dem Spinnrad und dem Schöpflöffel; mit allen Dingen redete er und erst recht mit den Tieren, mit Kuh und Katze, Storch und Schwalbe, denen er Zeichen gab, die sie erwiderten und für die er Sprüche wußte und mancherlei Beschwörungen. In jeder Beschäftigung verharrte er stundenlang und mußte immer von außen weggezogen werden, so daß der Magister kein Ende fand mit Mahnungen und Strafen und die Lenette mit Fürbitten und Wehklagen. Voll Eifer scharrte er Eicheln und trockene Beeren zusammen und trug sie in sein Bett, um sie abends vor dem Einschlafen, wenn die Decke über seinen gespreizten Knien ein ungeheures Gebirge bildete, Schluchten und Täler, mit geschäftigen Fingern, von denen jeder ein im Schnee verirrter Wandersmann war, in entlegene Felsgegenden zu verbringen, indes der Hauch aus seinem Mund Orkan war und das Ausstrecken der Beine Wirkung göttlichen Zorns, der den Berg in ein Blachfeld verwandelte. Spät kam der Schlaf nach solchen Ergötzungen. Er hatte innen zu viel zu tun, zu schauen, zu ordnen. Wenn im November der Sturm das Gebälk zittern machte und im Januar die Wölfe draußen bellten, wenn im Mai der gelbglühende Mondteller von einem Fensterrand zum andern rollte und im zitternden Licht die Fäden auf dem Bettüberzug sich wie zahllose winzige Füßchen bewegten, die davonlaufen wollen und nicht können, da mußte er lauschen und spinnen und spielen und an die Sterne denken und auf die Erdgeister warten. Alles verwandelte sich, wenn ers nur nannte, alles vergrößerte sich auf dem Weg vom Hören zum Wiederhören ins Unermeßliche, alles war anders, wenn ers ergriff, als wenn ers sah. Der Regentümpel im Hof wurde zum grenzenlosen Gewässer, die Vorstellung davon überwältigte ihn bis zum Schaudern, und alsbald war das Gewässer ein handelndes Wesen mit Gesicht und Stimme. Er hatte kaum vom ersten Menschen gehört, da kroch er in den dumpfen Bretterstall zu den Kühen und war der Adam im Paradies, der mit Löwe, Schlange, Reh und Auerstier in seligem Verständnis hauste. Der Amboß klirrte von den Schlägen Wallorks, er lief zur Lenette und berichtete ihr mit hochgeründeten Brauen, den Mund an ihrem Ohr, der Meister Grimmerlein stehe draußen und brülle um seinen Blutzins. Wer war der Meister Grimmerlein? Ein Meister von Junker Ernsts Gnaden. Und was war der Blutzins? Niemand wußte es, auch er selber nicht. Lenette lachte ihm ins Gesicht. Sie gewöhnte sich bald daran, ihn seiner lügenhaften Erfindungen wegen