Arrhidäos stürmten die ersten vorbei. Da ergriff es ihn. Ohne sich zu besinnen, stürzte er sich in die Schar und eilte mit ihnen weiter und zog das Schwert und schrie mit ihnen drauf los: »Nieder mit Perdikkas! Tod den Edelscharen!«
Ein kleiner dicker Mensch mit gedunsenem bartlosem Gesicht fragte ihn, wer er sei. »Ich bin Arrhidäos, Philipps Sohn, Alexanders Bruder,« erwiderte er mit blitzenden Augen.
Der Soldat erstarrte vor Staunen. »Philipps Sohn!« heulte er. »Hört, Kameraden, hört doch – Jason! Iphrikates! Thrasondas! Hört nur, dies ist Philipps Sohn, König Philipps Sohn!«
Ein betäubender Tumult entstand. Jubelrufe. Arrhidäos vergingen die Sinne. Zwanzig Fäuste packten ihn, hoben ihn empor. Unter fortwährendem Freudengebrüll wurde er weiter getragen. Andere Makedonier kamen. Philipps Sohn! Das Wort war unwiderstehlich. Viele hörten zum erstenmal, daß es im Heer, in Babylon einen Sohn Philipps gäbe. Sie fragten nicht lang, sie begnügten sich mit der Tatsache, mit ihrer Begeisterung, mit dem Jubel der Andern. Sie waren froh, einen Namen zu haben. Die Silberschildner zogen Arrhidäos in ihre Mitte. Unter tosendem Triumphgeheul wurde beschlossen, den Palast noch in der Nacht zu stürmen.
Arrhidäos vermochte nichts mehr zu unterscheiden, keine Stimme, kein Gesicht. Er nahm wahr, daß sich etwas Ungeheures mit ihm ereignet habe. Er zitterte unaufhörlich.
Es entstand eine vorwärtsdrängende Bewegung. Flammenschein durchzuckte die Nacht. Ein donnerähnliches Dröhnen erschallte; mit gefällten Baumstämmen stießen die Fußsoldaten gegen die Palasttore. Perdikkas kam auf die Mauer und wollte sprechen. Er wurde überschrieen, der Name Arrhidäos wurde ihm entgegengebrüllt. Durch ein zerschmettertes Tor stürzten die Silberschildner in den Palast. Die Edelscharen stellten sich ihnen entgegen, es kam zum Kampf, es floß Blut, man hörte das Röcheln der Sterbenden. Perdikkas sah ein, daß er der Übermacht nicht gewachsen war und gab den Befehl zum Rückzug. Die Edelscharen räumten den Palast. Nun stürmten die Silberschildner in das Sterbezimmer Alexanders, um das Diadem für Arrhidäos zu holen. Seleukos verweigerte es ihnen, er warf sich ihnen mit der Schar der königlichen Knaben entgegen und verschaffte damit dem Perdikkas Zeit zur Flucht. Bald war der Raum, wo Alexander lag, mit Blut bespritzt. Die Leichen schöner Knaben kauerten ihm zu Füßen, und ein Sonnenstrahl beschien seine ausgestreckte gelbe Hand.
In der Nacht schickte Eumenes, der die Besonnenen und Gemäßigten um sich versammelt hatte, Boten in den Palast. Sie wurden von den wütenden Silberschildnern niedergemacht. Perdikkas hatte sich nach Borsippa geworfen, Ptolemäos war mit viertausend Mann, die nur ihm allein folgen wollten, vor das Ischtartor gezogen. Jede Stunde kam es in den Straßen zu erbitterten Kämpfen. Aus den Gefängnissen Babylons brachen die Sträflinge aus, die zum Frondienst bestimmten Arbeiter versagten den Gehorsam, die unermeßliche Menge von Sklaven, die das Heer mit sich führte, wurde vom Geist des Aufruhrs ergriffen. Geheimnisvolle Mordtaten ereigneten sich, und den Kühnsten befiel die Angst vor einem schmählichen Tod aus Meuchlerhand. Feindschaften brachen aus, deren Wut ansteckend war wie die Hundskrankheit. Jetzt erst schien Babylon aus tückischem Schlaf zu erwachen; aus seinen Schlupfwinkeln spie es den Auswurf der Menschheit hervor: Flüchtlinge, ausgewiesene Verbrecher, Abenteuerer und Schwindler; entlaufene Sklaven, die ihre Herren bestohlen hatten und, was sie besaßen, in einer einzigen Nacht mit den Söldnern verpraßten, Leute, die keine Heimat auf dem bewohnten Erdkreis hatten und die für jede Schurkerei um wenig Geld zu erkaufen waren. Im Tempel der Astarte wurden unzüchtige Feste gefeiert und über hingeschlachteten Menschenopfern erhob sich der scheußliche Taumel. Priester zogen durch die Straßen und verkündeten das Ende der Welt.
Arrhidäos fand keinen Schlaf und keine Ruhe mehr. Oft verlangte ihn nach einer Stunde des Alleinseins, aber immer neue Menschen kamen mit immer neuen Nachrichten. Leute, deren Namen und Gesichter er noch vor wenigen Tagen gekannt, schienen ihm jetzt fremd. Er mißtraute ihrem Tun und Denken, er beargwöhnte sie, wenn sie sprachen und wenn sie schwiegen, es zwang ihn den Horcher zu machen, wenn sie flüsternd in den Ecken standen. Wenn ein Perser ehrfürchtig vor ihm niederkniete, kitzelte es ihn, über seinen Körper hinwegzuschreiten oder sich über seine andächtige Miene lustig zu machen. Die Fülle der Geschäfte benahm ihm Atem und Besinnung. Es wurde ihm schwer, Freundeswort und Feindeswort zu unterscheiden. Mit wachen Augen träumte er blutige Träume. Die Zeit ist aus der Bahn gelaufen, seufzte er vor sich hin, und er fürchtete um seinen Verstand, wenn all die Unheilsbotschaften eintrafen, Aufstand und Verrat und Mord und dumpfe Gärung in allen Teilen der Welt, wenn er auf die Straße trat und unvermutet eine Leiche zu seinen Füßen sah. Der ganze Erdkreis schien zu fiebern. Alle Gemüter waren entbrannt in Haß, Gram, Sorge, Zwietracht. Wenn er des nachts auf die Terrasse trat, war der Himmel purpurrot von Feuersbrünsten. Auf seine Fragen erhielt er ungenügenden Bescheid. Man brachte geschickte Schmeichler in seine Nähe, die sein Urteil abstumpfen sollten, man verheimlichte ihm wichtige Ereignisse und verstrickte ihn in bedeutungslose. Seine Befehle wurden umgangen, und wenn sie ausgeführt wurden, demütigte man ihn durch seine Irrtümer. Er hatte nicht die Kraft, das hinterlistige Gewebe zu lösen, in dem sie ihn fingen, er hatte nicht den Mut, ohne ihren Rat zu handeln, er verlor den Zusammenhang des Geschehens, widersprach sich selbst, war unsicher, gequält, zur falschen Zeit unbeugsam und zur falschen Zeit willfährig. Er verurteilte Perdikkas als Verräter zum Tode und bemerkte bald, daß man ihn darüber auslachte. Seine Vorsätze waren unfruchtbar, seine Tatkraft verrauchte in einem kurzen Anfall. Überall gingen Dinge vor, die ihren eigenen Weg nahmen, und er sah sich unfähig, sie aufzuhalten oder einen andern Weg zu lenken. Es war ihm zumut, als würde er von einer gewaltigen Wasserwoge fortgespült, ohne daß er Zeit hatte sich zu besinnen. Oft drängte es ihn, irgend etwas zu befehlen, und schließlich befahl er, daß man ihm zu essen bringe, obwohl er nicht im geringsten hungrig war. Er sagte sich, die ungestüme Flut des neuen Lebens lähme vielleicht seinen Willen, und er vertröstete sich auf andere Tage. Eine seltsame Angst vor den ruhigen, düstern und entschlossenen Gesichtern ringsherum schnürte ihm die Brust zusammen. Die Nähe so vieler Menschen, die ihn beobachteten, war ihm unbequem. Mit verhängten Blicken schritt er zwischen ihnen hindurch. Seine Seele wurde bang und irre. Alles schien entflohen, was er ehedem besessen, verdorrt seine Phantasie, vernichtet die Freudigkeit zur Tat, verschwunden das Selbstvertrauen. Er wagte keinen Schritt mehr zu machen aus Furcht, daß es ein falscher sein könne, kein Wort mehr zu sprechen aus Furcht vor Mißdeutung und Spott. Die Blicke und Mienen um ihn her wurden immer finstrer und verächtlicher, und als eines Tages Perdikkas als Herr von Babylon und erster Beamter des Reiches in den Palast einzog, war er es, der König, der die Nachricht zuletzt erfuhr und sie verwundert hinnahm.
Nach einem von schmerzlichsten Träumen erfüllten Schlaf erhob sich Arrhidäos noch vor Mitternacht, opferte und wandte sich mit einem wünschevollen endlosen Gebet an die Gottheit. Eine solche Verzweiflung war in ihm, daß er wie ein Kind weinte und schluchzte. Als er dann in den Säulengang hinaustrat, hörte er verworrenes Geschrei und Getöse. Er ging weiter, dem Licht auftauchender Fackeln entgegen und sah Sklaven und Verschnittene und Söldner und in ihrer Mitte zwei persische Fürsten. Und als er näher kam, gewahrte er noch ein am Boden kauerndes Weib. Sie hatte flehentlich die Hände erhoben und bettelte um ihr Leben. Es war Stateira. Der Schleier war ihr vom Gesicht gerissen worden, die Gewänder vom Leib. Ihre Augen schwammen in Tränen. Die persischen Fürsten standen mit bloßen Schwertern neben ihr, um sie zu verteidigen. »Sie muß sterben, Roxane hat es befohlen,« sagte einer der Söldner. Und im Nu, schnell wie ein Dämon, sprang einer der Verschnittenen hinzu, packte die unglückliche Frau bei den Haaren, riß den Kopf zurück und durchschnitt ihr mit einem Messer die Kehle. Lautlos brach sie zusammen, der weitspritzende Blutstrahl kam bis zu Arrhidäos und benetzte seinen Fuß. Im selben Augenblick erschien Roxane. Sie trug selbst eine Fackel. Ihre hohe Gestalt, der Anblick ihrer Schwangerschaft, ihr grauenhaft finsteres und unbewegliches Gesicht verursachten ein jähes Schweigen, das erst durch einen langen Weheschrei unterbrochen wurde. Arrhidäos war es, der schrie, er stürzte nieder, Schaum trat vor seinen Mund, seine Glieder verrenkten sich, zuckten, es war sein Anfall. Man hob ihn auf und trug ihn in das Schlafgemach, wo er sich allmählich beruhigte und in Schlummer sank.
Am Morgen erhob er sich mit schwerem Kopf und schwerem Herzen. Er wies alle Frager von sich ab und ging von Raum zu Raum, bis er kein menschliches Gesicht mehr sah und keine Stimme sein Ohr mehr traf. Er kauerte sich in einen Winkel, zog in plötzlicher Eingebung die Flöte, die er stets bei sich zu