Sonst lag Babylon in Frieden.
Aus dem Sternenkanal ging es in einen kleineren, der das Wasser der Färber hieß, von da aus über ein langes Stück des Biberkanals in einen weiten See, an dessen südlichem Rand die Mauern von Borsippa auftauchten.
Sie kamen hin. Die Bootsknechte klopften an das Tor. Eine Stimme von oben antwortete. »Aufmachen! aufmachen!« riefen die Begleiter Alexanders.
»Es ist Befehl, die Tore geschlossen zu halten,« entgegnete die Stimme.
»Der König ist da! Alexander selbst will nach Borsippa!« riefen Medios und Eumenes zugleich, wild und entsetzt.
Kurzes Schweigen, dann die Stimme von neuem. »Es ist ein Befehl von Alexander ergangen und mit seinem Ring gesiegelt, die Tore verschlossen zu halten.«
Alexander schrie auf. In ohnmächtigem Zorn rissen seine Begleiter die Schwerter heraus. Die Sklaven und Bootsleute pochten mit Stangen und Rudern an die ehernen, unbezwinglichen Tore. Die schweigende Nacht widerhallte von dem Getöse. Fassungslos gebot Eumenes endlich die Rückfahrt. »Alles Blut, das fließen wird, über Perdikkas und die Chaldäer!« rief er unheildrohend hinauf. »Morgen flammt vielleicht das Feuer dort, wo ihr heute das Haupt zum Schlaf hinlegt.«
Da antwortete die Stimme von oben voll und dumpf: »Siebenfacher Mord will Sühne.« Dann war es wieder still.
Alexander hörte es nicht mehr. Ihn schmerzte die Haut des ganzen Körpers, als ob sie versengt wäre. Leise wimmernd wälzte er sich hin und her. Er wollte die Arme ins Wasser tauchen, um irgendwie Kühlung zu erhalten, doch er war unfähig, sich zu bewegen. Mit verglasten, gräßlich erweiterten Augen blickte er auf das schwarze Spiegelbild der Mauern im Wasser. Seine Kniee waren ihm schwer wie Eisen. Als sie zurückfuhren, war es ihm, als gleite das Boot inmitten der Sterne. Alles gehört mir, dachte er mit wirren heißen Sinnen, mir der Himmel, mir die Luft, mir die Steine, mir Babylon, ich bin der Herr. Der Fischer dort, der in der Stille der Nacht sein Netz auswirft, ist mein Eigentum, durch mich läuft alles seinen Gang.
Er hatte brennenden Durst. Doch die Ärzte hatten verboten ihm Wasser zu geben; Wasser greift das Herz an, sagten sie. Er warf sich auf und fuchtelte mit den Armen durch die Luft. Dann fing er an zu schreien, es war markerschütternd. »Mein Ring! mein Ring!« schrie er immer wieder. Hohlgesichtig und stumm vor Angst saßen die Begleiter um ihn her. Mit Gebärden trieben sie die Bootsleute zur Eile an. Bald wurde Alexander etwas ruhiger. Das Fleisch, die Haut seines Körpers war so heiß wie glühendes Metall. Das Gesicht zog sich oft so zusammen, daß es dem eines uralten Mannes glich. Seine Augen entzündeten sich, an Hals und Armen zeigten sich Geschwüre. »Nicht sterben,« ächzte er, »nicht sterben,« eine bohrende, siedende Angst brach in seine Brust. Er fuhr mit den Fingern in die nassen Haare, und es war ihm, als lösten sie sich morsch vom Schädel wie welkes Gras vom Boden. Er schauderte ins innerste Herz vor dem Nichts, in das er treten sollte, vor dem Weg in die Finsternis, der sich gefährtenlos auftat. Mit beiden Armen klammerte er sich an die Kissen, als stellten sie das Leben dar, aus dem er fortgerissen werden sollte. Er streckte die Hände nach den Menschen aus, die um ihn waren; keiner regte sich. Vergiftete Dämpfe erfüllten die Luft.
Er sah sich selbst in Zeit und Raumferne. Es war vor der Schlacht. Die Herolde riefen. Er ritt die Reihen entlang. Das Pferd, das ihn trug, war schwarz mit einem kreisrunden weißen Flecken auf der Stirn. Es schritt leicht und hüpfend. Es hatte eine Satteldecke, deren Enden durch eine zierliche Agraffe über der Brust verbunden waren, und Rosetten schmückten das Zaumzeug. Die Sonne strahlte über die Gefilde. Tau blitzte auf den Gräsern, Kampfrufe durchschmetterten die Luft, die Waffen klirrten melodisch. Ein zerfressender Neid erfüllte ihn gegen den Alexander von damals, der das Leben noch besaß und es nicht wußte, den Tag nicht genug an sich preßte, die Nacht nicht genug liebte, nicht das Vorübergleiten der Zeit begriff, nicht die Unwiderbringlichkeit der gelebten Stunde. Auf dem Meer sah er Schiffe; plötzlich lag das Meer vor ihm; es waren makedonische Schiffe, sie wurden vom Sturm zerschlagen, der Sturm hatte ein Antlitz, der ganze Weltraum verdichtete sich zu einem Antlitz …
Eine Stimme sprach neben ihm. Es war Eumenes. Feierlich beschwor ihn der Grieche, er möge den Namen dessen nennen, der nach ihm herrschen sollte, und Medios und Peithon flehten gleichfalls. Er preßte trotzig die Lippen aufeinander. Der Haß gegen diese Lebenden ließ seinen Atem stocken. Gleichgültig war es, was sie ohne ihn beginnen würden. Nichts ist es mit der Flucht der Seele aus dem gestorbenen Leib. Er fühlte die Zerstörung des Körpers, er fühlte das Schweigen des Todes; schon verweste das Gehirn in seinem Kopf, schon verfaulte das Herz. Jammer, Grauen und Entsetzen verzerrten sein Gesicht. Er suchte Eumenes’ Schulter zu ergreifen. Eumenes wich zurück …
Jetzt landete das Boot an der Euphratseite des Palastes. Eine lange Allee dunkler Zypressen führte zu beiden Seiten der steilen Treppen empor. Der Morgen dämmerte. Reich mit Quasten und Federbüschen geschmückte Pferde standen oben. Die Wände bewegten sich, Schlangen quollen aus ihnen hervor. Zwölf Löwen, an der Kette geführt, schritten majestätisch vorüber.
»Wohin bringt ihr mich? wohin? wohin?« Alexander fuhr vom Lager auf und starrte in die bleichen Gesichter. Er sah am nahen Ufer einen Zug von Zechern, die mit Blüten und Baumzweigen bekränzt waren. In bacchantischem Tosen unter dem Lärm von Blechklappen liefen sie dahin. Alexander glaubte, sie stürmten kopfabwärts davon. Ihre fliegenden Gewänder sahen im Zwielicht der Fackeln und der Dämmerung wie Flammen aus. Er erhob sich auf die Knie und rief unverständliche Worte hinüber. Er drohte ihnen mit dem Tod, und sie eilten weiter. Ehe die Freunde ihn zurückhalten konnten – sie wagten es auch nicht recht, sie fürchteten von der Krankheit angesteckt zu werden, wenn sie ihn berührten, – hatte er das Diadem vom Kopf gerissen und zurückgeschleudert, war mit einem Satz ans Ufer gesprungen und folgte der trunkenen Schar. Jene lachten und riefen etwas zurück, denn sie erkannten ihn nicht. Alexander lief rasch, und er erstaunte, daß ihn seine Beine trugen, und er wollte nicht aufhören zu laufen aus Angst, daß es dann auf einmal zu Ende sein könne mit der wunderbaren neuen Lebenskraft. Medios und Eumenes und die andern folgten ihm. Er, wie ein Flüchtling, suchte zu entkommen. Längst waren die lachenden Zecher in irgendeiner Torhalle verschwunden. Dunkle Gestalten tauchten auf, suchten ihn zu halten, führten drohende Reden. Ich brauche nur einen lächerlichen Schmuck von der Stirne zu reißen, fuhr es Alexander durch den Kopf, um so zu sein wie die andern, und meine Stimme verklingt. In einer Halle sah er eine Tänzerin. Sie drehte sich langsam um sich selbst, ihr Gesicht zeigte eine Verzweiflung, wie sie nur der Anblick tödlicher Visionen gibt, aber die schweigenden Zuschauer lächelten. Es begann zu regnen.
Durch seltsam düstre Gassen gings, die rückwärts um den Palast sich wanden und schlängelten. Jetzt sah man ängstliches Volk. Die Tore des Palastes tauchten auf. Sie waren von Söldnerscharen belagert. Die Ärzte hatten den Führern, die Führer den Soldaten zweifelhafte und zweideutige Botschaften geschickt. Der Oberste der Palasttruppen hatte vor dem Andrang die Tore sperren lassen. Die Edelscharen erschienen auf den Mauern, als ob ein Schutz gegen die draußen Wartenden nötig wäre. Es verbreitete sich das Gerücht, Alexander sei vergiftet worden. Perdikkas hat ihn vergiften lassen, hieß es. Zufällig wurde Alketas, der Bruder Perdikkas’, sichtbar. Eine Horde von Makedoniern ergriff ihn, sie stellten ihn zur Rede, sie hätten ihn umgebracht, wenn nicht Ptolemäos erschienen wäre und sie mit einer Notlüge hingehalten hätte; Alexander ist im Palast, sagte er, er schläft, der Lärm stört ihn.
Das geschah um Mitternacht. Zwei Stunden später, und die leidenschaftliche Bewegung erhob sich von neuem, unerklärlich, woher sie stammte, wie sie Nahrung fand. Viele Makedonier eilten nach Hause, um ihre Waffen zu holen. Andere stürmten über die Brücken der Wassergräben und verlangten tobend Einlaß. Leonnatos kam, um sie zu beruhigen. Er war weiß bis in die Lippen, sein Gesicht war übernächtig. Er wollte reden und wurde überbrüllt. Dann kamen nacheinander Apollodor, Stamenes und Seleukos …
Und da, auf einmal, es war schon Tag, gellte eine eherne Stimme den Namen Alexanders mit einem Ausdruck des Staunens und der größten Angst. In seinem entsetzlichen Lauf war Alexander bis vor den Palast gekommen. Die meisten, die ihn so sahen, erkannten ihn nicht, bis jene Stimme sich erhob. Zum Überfluß gewahrten sie noch die ihm nachrennenden Männer: Medios, Peithon, Eumenes, die sich vor Erschöpfung und Grauen kaum noch auf den Beinen halten