zögerte. »Das ist nicht unbedingt zwingend. Der Markt dort ist ganz anders als hier im Norden.« Emma legte einen sehr enttäuschten Gesichtsausdruck hin. Hollerbeck schaltete schlagartig um:
»Aber wenn Sie mögen: Machen wir eine Inselrundfahrt! Ich verdinge mich für einen Tag als Ihr persönlicher Reiseführer. Wenn Sie unterwegs noch irgendwo anhalten wollen: gern!«
Klar, dachte Emma; weil du glaubst, mich dann am Haken zu haben!
»Außerdem«, Hollerbeck strahlte sie an: »was kann mir besseres widerfahren, als einen ganzen Tag mit einer schönen jungen Frau zu verbringen? Vielleicht werden wir gesehen. Das täte meinem Image gut.«
»Und was sagt Ihre Frau dazu?«
»Wozu? Dass ich mit einer Kundin unterwegs bin? Oder woran dachten Sie?«
Oh Gott, jetzt zwinkerte er ihr zu, als seien sie Komplizen und zog dabei einen Mundwinkel hoch – wie dieser Schauspieler in Grumpy Old Men! Walter Matthau. Mehrere Stunden mit diesem Kerl im Auto? Was hatte sie sich dabei gedacht? Ob sie das aushalten würde? Ach was, hätte Paul ihr zugeraunt: du bist Journalistin. Sieh das professionell! Geh auf Recherchetour und nutze die Quellen, die sich bieten!
»Ok«, sagte Emma: »Wann geht es los?«
5. Kapitel
Jochen Hollerbeck fuhr einen großen weißen Mercedes. Ein etwas betagtes, aber gepflegtes Auto. Mit roten Ledersitzen. Es zeugte von deutlich mehr Klasse als Pedros weißer Subaru. Aber was hatten die Leute hier mit Weiß? Das schien die neue Modefarbe zu sein, jedenfalls in den Augen von Männern reiferen Alters. Was glaubten sie, damit zu demonstrieren? Reinheit und Unschuld konnte es ja kaum mehr sein, nicht bei Kerlen Ende 50, Anfang 60, wenn sie halbwegs was erlebt hatten bis jetzt. Und Jochen Hollerbeck sah eindeutig so aus, als habe er schon einiges erlebt. Als ließe er nichts aus, fand Emma. Irgendetwas verlockte sie, ihn zu reizen. Wie ein Torero den Stier.
»Warum fahren Sie eigentlich ein weißes Auto?« Die Frage platzte aus ihr förmlich heraus, als sie bei La Laguna auf die Südautobahn einbogen. Emma konnte nichts dafür. Manchmal, so kam es ihr vor, ballten sich in ihrem Kopf kreisende Gedanken zu einer Frage zusammen, die einfach ausgesprochen werden musste, ganz egal, ob die Situation dafür passend war oder ob es sich schickte. Was heißt das eigentlich: »sich schickte«, dachte Emma? Wohin schickt sich das, was sich schickt? Und wer wäscht hier seine Hände in Unschuld, schiebt die Schuld auf das Geschobene – wo sich doch kein Paket, kein Brief, keine Beleidigung von selbst irgendwo hinschickt.
Was war los mit ihr? Hatte sie gestern zu lange in der Sonne gelegen? Hatte sie vielleicht einen Sonnenstich? Was für wirre Gedanken! Schon in der Nacht hatte sie wild geträumt. Gegen fünf in der Frühe war sie schweißgebadet aufgewacht. Sie hatte mit Albert gerungen, im Meer, Albert hatte sie unter die Wasseroberfläche gezogen – das war das letzte, woran sie sich erinnerte. Auch ihre Oma hatte eine Rolle gespielt in dem Traum und eine Flasche 103. Als sie aufwachte, schnappte sie nach Luft wie jemand, der zu lange getaucht hat und endlich wieder an die Oberfläche kommt.
Dabei war der vorige Tag, ihr zweiter auf der Insel, wunderschön gewesen. Nach ihrem späten Frühstück mit diesem komischen Jo war sie beschwingt und bester Stimmung durch Puerto spaziert. Vor einem liebevoll restaurierten Jugendstilhaus gleich hinter einer großen grauen Kirche hatte sie, in einem bequemen Korbstuhl lagernd, noch einen Kaffee getrunken – anders als im Océano allein und diesmal umgeben von Menschen, die sie nicht zu beachten schienen und die Englisch, Spanisch, auch Italienisch mit der Kellnerin parlierten, statt jede Bestellung auf Deutsch aufzugeben. Sie hatte dann, in einem Anfall von Leichtlebigkeit, noch einen Campari bestellt, mit frisch gepresstem Orangensaft. Durch die Wedel der Palmen lächelte die Sonne auf sie herab, die Luft kam ihr vor wie Champagner, jedenfalls nach dem Campari. In einem Brunnen hockte ein steinerner Schwan, dessen Hals bis auf den Rücken hinuntergebogen war, als müsse er gurgeln. Aus seinem Schnabel lief Wasser. Die Beete drumherum leuchteten knallrot; sie waren dicht bepflanzt mit Weihnachtssternen.
Oma Ilse hatte diese nikolausroten Pflanzen geliebt. Auch wenn Emma Weihnachtssterne eher nicht mochte: das ganze Ensemble kam ihr schön vor, zu ihrer Überraschung. Sie hatte, musste sie sich eingestehen, auf Teneriffa eigentlich nichts Schönes erwartet. Was hatte sie überhaupt erwartet? Jedenfalls nicht dieses Gefühl von Leichtigkeit, das sie jetzt überkam und das sie mit Italien verband oder Südfrankreich, aber keinesfalls mit Teneriffa. Teneriffa, das wurde ihr klar, hatte sie leichtfertig für eine Art Altenheim mit Meerblick gehalten. So hatte sie die Insel mit 15 erlebt.
In einem der vielen Restaurants in den Gassen rund um die Plaza del Charco hatte sie dann gegrillte Chocos gegessen, mit den offenbar unvermeidlichen kleinen Pellkartoffeln nebst zwei Soßen. Und dazu kühlen, frischen Weißwein getrunken. Wie Wasser. Nach dem nächsten Cortado hatte sie einen Schwips. An der Playa Jardín lieh sie sich eine Liege und streckte sich im Schatten einer Palme aus, angezogen wie sie war.
Sie bedauerte, nicht in die Wellen springen zu können. FKK war offenkundig unüblich hier – obwohl sie am Strand mehrere ältere Frauen sah, die der gaffenden Welt ihre stattlichen, hängenden, angedörrten Brüste entgegenstreckten, als wäre das für irgendwen ein Genuss. Emmas Badeanzug trocknete derweil auf dem Balkon des La Palma. Sie hätte sich in Puerto einen Bikini kaufen sollen, dachte sie. Einen ganz knappen vielleicht, so wie ihn die jungen Spanierinnen trugen, mit String zwischen den Pobacken. Damit hätte sie den Mittelschwimmern am Pool sicher eine Freude bereitet. Den Mittelfingerschwimmern. Besser nicht.
Stattdessen war sie nach ihrer Strandsiesta kreuz und quer durch Puerto flaniert, schließlich hoch zu einem ehemaligen Hotel, das unübersehbar auf einer Bergkuppe lag. Der Weg dorthin führte durch Gärten, an Brunnen und künstlichen Bächen vorbei und entlang. Von einer Terrasse aus bot sich ihr ein weiter Blick über den Häusersalat der Altstadt. Ein bunter, scheinbar planlos entstandener Mischmasch aus architektonischen Lieblosigkeiten, hier und dort mit Palmen, einem wuchtigen Kirchturm und begrünten Dachterrassen dekoriert. Ein paar Meter von der Brüstung der Terrasse entfernt fand Emma, auf einem brusthohen Sockel, die Kupferbüste einer mild lächelnden älteren Frau. Ein Schild unter der Büste wies sie als »Dulce Maria Loynaz« aus und als eine »kubanische Poetin«. Emma hatte nie von ihr gehört, beschloss aber, den Namen bei nächster Gelegenheit zu googeln. Dulce, das ahnte sie, hieß ›süß‹. Schließlich hießen Dolci Süßgebäck in Italien, wo sie zwei Mal mit Jörg in Urlaub war. Das sanfte, wissende Lächeln der Poetin ließ sie nicht los. Emma hatte das Gefühl, Señora Loynaz zwinkere ihr zu. Das musste die Wirkung des Campari sein, oder der Sonne am Strand!
Hinter dem offenbar leerstehenden Hotel liefen ihr plötzlich ganz andere Menschen über den Weg als unten am Hafen. Jüngere Menschen, jede Menge Jogger, zumeist Spanier offenbar. Young Urban Professionals, so sahen sie aus. Die Stadt schien, so klein sie eigentlich war, Sektoren zu haben, von unsichtbaren Grenzlinien durchwebt zu sein; mit Sektoren für Einheimische, für Festlandspanier, für deutsche Touristen, für andere Ausländer, für Residenten. So nennen, das wusste sie aus dem Reiseführer, die Tinerfeños Leute, die in Florida ›snowbirds‹ hießen – Zugvögel; Menschen aus dem Norden, die hier ihre Rente oder was auch immer verbraten, halb- oder ganzjährig. Menschen wie ihre Großeltern eben.
Am besten gefiel ihr an Teneriffa, das wurde Emma jetzt klar, während sie neben Jochen Hollerbeck auf einem roten, von hellen Altersadern durchzogenen Sitz im weißen Mercedes saß und die Insellandschaft in umgekehrter Fahrtrichtung wie vorgestern auf sich wirken ließ, am besten gefiel ihr dieses unkomplizierte Mit- und Nebeneinander von Einheimischen und Anderen. Sie hatte mal Urlaub auf Jamaica gemacht, mit Jörg, in einem Resort-Hotel, und die Warnung missachtet, nie allein die Hotelanlage zu verlassen. Sie hatte sich wie in Feindesland gefühlt, ständig beäugt und aggressiv bedrängt: »Wanna buy, wanna buy?« Nie wieder, hatte sie Jörg später, zurück in Herne, erklärt – damals hatte sie die Bochumer Wohnung noch nicht – werde sie in einem Land Urlaub machen, wo es Gettos gibt. Sie fühle sich nicht wohl, wo Touristen wirken, als kämen sie von einem anderen Stern, und wo Einheimische nicht in dieselben Hotels, Geschäfte und Restaurants gehen können wie ihre Besucher. Jörg