Herr Hollerbeck. Hier liegt eine Leiche, wahrscheinlich ein Mordopfer. Ein Mensch, der vermisst wird, der Angehörige hat, die nach ihm suchen, die um ihn trauern. Und irgendwo da draußen ist ein Täter, ein Mörder, der vielleicht wieder zuschlagen wird oder es schon getan hat, wer weiß… das müssen wir verhindern. Dafür sind wir jetzt verantwortlich, ob wir wollen oder nicht. Sie und ich. Das ist jetzt unser Schicksal!«
Hollerbeck nickte, wenn auch eher resigniert als überzeugt. »Sie haben ja Recht. Aber Ärger wird es uns bringen, Zeit wird es uns kosten und wer weiß, was die Presse daraus macht. Pardon! Die Presse ist ja schon hier. Wollen Sie darüber schreiben? Über unseren Fund hier? Über uns?« Hollerbeck wirkte alarmiert.
»Über uns? Ich wusste gar nicht, dass wir beide ein ›Wir‹ sind, Herr Hollerbeck. Sie sind Makler, ich habe ein Apartment geerbt. Wir sind geschäftlich unterwegs, erinnern Sie sich?«
»Ach ja, und was haben wir ›geschäftlich‹ hier oben im Teno-Gebirge verloren, wir zwei beiden ›Geschäftspartner‹?«
Ja, musste Emma sich eingestehen, das würde Fragen aufwerfen. Was hatten sie, Emma C. Schneider aus Bochum, und Jochen Hollerbeck, verheirateter Makler mit ihr gänzlich unbekannter Vergangenheit, hier oben in den Bergen verloren? Und was brachte sie dazu, zielstrebig den Fundort einer Leiche anzusteuern?
7. Kapitel
»Übrigens: was brachte Sie dazu, so zielstrebig den Fundort einer Leiche anzusteuern?«
Emma saß im Kommissariat von Adeje, und der Kommissar war freundlich, aber neugierig. Er hatte Emmas und Hollerbecks Personalien aufgenommen, er hatte sie, jeden für sich, minutiös berichten lassen, wie sie auf die Leiche gestoßen waren und festgestellt hatten, dass es eine Leiche war. Emma ließ auch Jos Nasenbluten nicht aus. Vermutlich hatte er Blutspuren hinterlassen. Blutspuren am Tatort.
Zuerst hatte der Kommissar mit Hollerbeck gesprochen, während sich eine junge Polizistin rührend um Emma kümmerte, ihr Kaffee anbot und auch Zigaretten. Danke, Emma rauchte nicht. Man ließ sich Zeit. Längst war es darüber dunkel geworden.
Es hatte nicht lange gedauert, nach Hollerbecks Anruf – Emma hatte ihm die Initiative überlassen, schließlich sprach er Spanisch –, dann war ein Erste-Hilfe-Helikopter aufgetaucht und auf einem nahen Plateau gelandet. Nachdem klar geworden war, dass hier tatsächlich ein Leichenfund vorlag, kam sogar ein zweiter Helikopter, mit Polizisten an Bord. Die Sanitäter zogen wieder ab. Die Polizeibeamten nahmen Emma und Hollerbeck mit. »Und mein Auto?« fragte Hollerbeck.
»Wo steht das genau? Geben Sie uns den Schlüssel. Wir kümmern uns darum«, versprach ein Polizist.
Beamte waren damit beschäftigt, den Fundort mit Plastikbändern zu sichern und den Boden drumherum akribisch abzusuchen, als der Hubschrauber mit Hollerbeck und Emma an Bord startete. Es war ein fantastischer Flug. Gomera war jetzt noch klarer zu erkennen. Der Blick hinunter auf die Steilküste, auf Meer und Brandung war atemberaubend, fand Emma. Hollerbeck allerdings schien sich für die Aussicht kein bisschen zu interessieren.
Seit Stunden saßen sie nun schon in diesem Präsidium, in einem Ort, von dem sie noch nie gehört hatte, der ihr aber recht wohlhabend vorkam, obwohl sie hier keinerlei Hotelanlagen gesehen hatte und Adeje auch gar nicht am Meer lag, sondern in den Bergen, hoch entrückt von dem Treiben unten an der Küste.
Jetzt, endlich, war sie an der Reihe. Gut, dass sie mit Jo vereinbart hatte – als der Anruf getätigt war und sie auf die Beamten warteten, in sicherem Abstand vom Fundort, wie es am Telefon angeordnet worden war –, dass sie strikt die Wahrheit sagen würden, nichts als die Wahrheit. Hollerbeck riet zwar zu einer gewissen ›Vereinfachung‹ der Story, aber davon wollte Emma nichts wissen. Hielt sich jeder an die Wahrheit, darauf bestand sie, dann konnten sie sich auch nicht in Widersprüche verwickeln. Also erzählte Emma dem Kommissar schnurstracks, was geschehen war. Auf Deutsch, der Kommissar sprach Deutsch:
»Ich bin erst seit ein paar Tagen auf der Insel. Meine Großmutter hat hier als Residentin gelebt. Sie ist vor kurzem gestorben und hat mir ihre Wohnung vererbt. Die will ich verkaufen und so habe ich Herrn Hollerbeck kennengelernt. Er ist Makler und hat mir angeboten, mich mit der Insel und dem Immobilienmarkt hier vertraut zu machen…«
»Im Tenogebirge«, unterbrach sie der Kommissar, süffisant lächelnd.
»Ja, ich weiß, das sieht komisch aus. Aber wir sind rund um die Insel gefahren, waren in Puerto, in Laguna, an der Costa del, ich glaube, Silentium…«
»Silencio, Costa del Silencio.« Täuschte Emma sich, oder hatte das Lächeln des Kommissars etwas Maliziöses?
»Ja, jedenfalls in einem Golfresort dort, dann weiter nach Los Cristianos, und ich habe Herrn Hollerbeck gebeten, auf dem Rückweg durch die Berge zu fahren und im Tenogebirge zu halten.«
»Und warum? Warum ausgerechnet dort, wo wir Herrn Hollerbecks Straßenkreuzer gefunden haben? Das ist ziemlich, wie sagt man: entlegen? Ein Wanderparkplatz ist da nicht.«
»Weil ich zuletzt vor zwanzig Jahren auf der Insel war, als Kind, als Jugendliche. Und damals mit meinen Großeltern wandern war, genau dort. Glaubte ich jedenfalls. Und deshalb habe ich Herrn Hollerbeck gebeten, dort anzuhalten und eine kleine Wanderung zu unternehmen.«
»Herrn Hollerbeck? Sie siezen sich?«
»Natürlich! Wir kennen uns doch erst seit gestern.«
»Oh, das muss nichts heißen. Herr Hollerbeck hat jedenfalls vorhin in der Vernehmung nie von ›Frau Schneider‹ gesprochen, sondern immer nur von ›Emma‹. Sind Sie sich näher gekommen?«
Emma erschrak. Was war das hier? Ein Verhör? Worauf wollte der Kommissar hinaus? Insgeheim musste sie sich eingestehen, dass die Wahrheit, so wie sie war, etwas Unglaubwürdiges an sich hatte. Vielleicht wäre Hollerbecks Idee von der ›Vereinfachung‹ doch nicht so schlecht gewesen. Aber jetzt war es dafür zu spät. Sie legte tiefe Empörung in ihre Stimme:
»Nein! Wo denken Sie hin!«
»Liebe Señorita Schneider: Ihr Freund – oder Ihr Bekannter, der Señor Hollerbeck, für erstaunlich viele einfach ›Jo‹, ist hier kein ganz Unbekannter. Dass er einer jungen, sehr attraktiven Frau die ›Insel zeigt‹, wird niemanden verblüffen. Aber dass er mit ihr spontan wandern geht, das schon. Eine ausgeprägte Wanderfreude, wie sie vielen Ihrer Landsleute ja durchaus zu eigen ist, hat man Jo Hollerbeck bisher noch nicht nachgesagt.«
»So? Was sagt man ihm denn nach? Und wer ist, bitte schön, ›man‹?«
»Wer ›man‹ ist, fragen Sie? Muss ich Ihnen das wirklich erklären? Sie sind doch Journalistin, sagen Sie. Sie leben doch von Gerüchten, oder nicht? Sehen Sie, Teneriffa ist eine Insel. Hier kennt man sich. Und die einen sind bekannter, die anderen leben zurückgezogener. Jo Hollerbeck jedenfalls lebt nicht zurückgezogen.«
»Das heißt, Herr Kommissar?«
»Eigentlich stelle ich hier die Fragen, Señorita Schneider. Der ›Herr Kommissar‹ hat übrigens einen Namen. Ich heiße Madrigal. Roberto Rodríguez Madrigal. Hier haben Sie meine Karte!«
Er schob Emma eine Visitenkarte über den Tisch hinweg zu.
»In deutschen Krimis kommt jetzt immer der Zusatz: Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich an!« Emma sah sich die Karte an und steckte sie ein.
»Das sagen wir hier auch. Aber Sie wollten mir hier und heute noch erzählen, warum Sie unbedingt zu dem alten Dreschplatz wollten und warum sie dort so zielstrebig eine Leiche freigelegt haben!«
»Ich wollte dort keine Leiche freilegen, sondern ein Amulett.«
Kommissar Madrigal zog seine schwarzen Augenbrauen theatralisch hoch und machte ein übertrieben interessiertes Gesicht. Emma fühlte sich an irgendeinen berühmten dicklichen Schauspieler erinnert, aus einer, glaubte sie, Agatha-Christie-Verfilmung. Er spielte darin einen belgischen Detektiv. Beleibt war Madrigal allerdings nicht, eher drahtig, terrierhaft.
»So,