Morgen, kurz nach sechs Uhr, ward Katarina vom Pförtner herausgeklopft. Unter den in der Nacht angekommenen Depeschen, die soeben ans Geschäft eingeliefert worden waren, befand sich auch eine private, die an sie gerichtet war.
Sie liess sie sich durch den Türspalt reichen.
„Mama macht Einwilligung zur Heirat davon abhängig, dass Du in Wiesbaden bleibst. Bitte herzlich und dringend, schreibe Dutton ab. Viktor.“
Katarina packte ein Schüttelfrost an. Wie zerschlagen lag sie dann noch eine Stunde im Bett und sann und grübelte.
Das Bild ihres Verlobten war ihr so blass und fremd geworden. Liebte sie ihn denn noch? Und liebte er sie? Als Kinder waren sie einander sehr gut gewesen. Er hatte immer einen rührenden, ritterlichen Zug gehabt. Gegen rücksichtslose Sonnenberger Jungen hatte er sie oft geschützt. Aber sich selber hatte er niemals eine rechte Geltung zu verschaffen gewusst. Er war nicht energisch genug. Es kam hinzu, dass er nach dem Tod der Mutter von seinem Vater sehr verwöhnt worden war. Und die kinderlos gebliebene Stiefmama verzog ihn dann, den hübschen, zarten, eleganten jungen Menschen, erst recht. Katarina war manchmal geradezu eifersüchtig darauf gewesen, wie sie ihn umschmeichelte, hätschelte, liebkoste. Viktor hätte sich — ihrem Gefühl nach — von seiner Stiefmama schon lange nicht mehr so als Bub behandeln lassen dürfen. Seiner weichen, nach Zärtlichkeit verlangenden Anlage entsprach es freilich. So übte Frau Dora auch heute noch den bestimmenden Einfluss auf ihn aus. Sogar in einer Angelegenheit, in der doch lediglich sein Herz hätte sprechen müssen.
Sie richtete sich im Bett auf und zog die Photographie im Ständerrahmen, die auf ihrem Nachtschränkchen stand, näher an sich heran. Viktor sah rassig aus, auf dem Bilde sogar sehr forsch, und er war ein wirklich hübscher Mensch. Die gewisse Laschheit, die sie ihm schon öfters zum Vorwurf gemacht hatte, prägte sich in seinen Zügen nicht aus. Er hatte kluge Augen von einer selten tiefen Bläue, die Schläfen waren schmal, die Adern darin sichtbar. Sehr hübsch war seine ovale Schädelform, die dadurch besonders zum Ausdruck kam, dass die Kopfhaut durchschimmerte, weil er sein dunkelbraunes Haar mit der Maschine scheren liess. Er trug keinen Schnurrbart, ging immer glatt rasiert, d. h. sein Kinn und seine Wangen hatten meist schon gegen Abend wieder einen bläulichen Schimmer. Wenn er ernst war, wirkte sein Mund klein und unbedeutend. Aber wenn er einmal herzlich lachte — ach, wie herzlich konnte er lachen! — und wenn dabei seine breiten, weissen Zähne sichtbar wurden, dann bekam man erst einen Begriff von der unbändigen Lebenslust und Lebenskraft, die in ihm steckte. Warum er so selten aus sich herausging? Früher hatte sie geglaubt, er wollte durch seine Zurückhaltung nur den Gegensatz zu seiner aufgeregten, derben, überlauten Stiefmama betonen. Sie hielt seine Laschheit also immerhin für einen Ausdruck von Feinfühligkeit. Aber neuerdings urteilte sie anders. Wurde er in lebhaften Auseinandersetzungen, die sie mit Frau Dora hatte, von seiner Stiefmama zur Meinungsäusserung aufgerufen, so gab er stets dieser recht, niemals ihr, — doch heimlich blinzelte er ihr dabei zu, um sie zu versöhnen. Es hatte sie tief verstimmt. Nicht deshalb, weil sie Unrecht bekam, sondern weil seine Diplomatie ihr gar zu unfrei erschien. Ihr zukünftiger Mann sollte etwas von einem Helden haben. Und Viktor wich jeder Gelegenheit dazu vorsichtig aus.
Katarina hörte laut ihr Herz schlagen.
Er wird mich jetzt preisgeben, sagte sie sich.
Dass sie selber in diesem Falle sich fügen könnte, wie schon hundertmal, wie schon tausendmal zuvor, das erschien ihr ganz unmöglich. Sie wusste auch: wenn sie heute nachgegeben hätte — in acht Tagen oder in zwei, drei Wochen wäre es dann ja doch wieder zu einer Auseinandersetzung gekommen, die ihr das Bleiben unmöglich machte.
Wäre er hier gewesen, so hätte sie ihm gesagt: lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!
„Ich reise noch heute. Bitte, holen Sie mir doch das Reichskursbuch herüber, Mina.“
Das Stubenmädchen machte grosse Augen, als Katarina ihr beim Morgenkaffee diesen Auftrag gab. „Um zwölf kommt die gnä’ Frau zurück. Sie hat’s ebe hertelephoniert.“
Der Begegnung und dem Abschied konnte Katarina also nicht mehr ausweichen.
Frau Dora kam an, lärmend, zankend, sprach zu gleicher Zell mit Hausser, dem Pförtner, mit dem Stubenmädchen, tobte mit dem Köter, nahm Katarina an den Arm, lief mit ihr durch ein paar Stuben und erzählte ihr eine Unmenge Einzelheiten aus dem Einjährigendienst, wobei sie sich über die staatliche Einrichtung der allgemeinen Militärpflicht begüterter junger Leute in den härtesten Anklagen erging.
So oft sie an der Speisezimmeruhr vorüberkam — das Zifferblatt stellte einen Teller mit zwölf Austernschalen dar —, nahm sich Katarina vor, zu reden. Frau Dora liess sie sobald nicht zu Worte kommen. Als sich Katarina dann endlich doch Gehör verschaffte, nach der Uhr zeigte und so ruhig und sachlich als möglich erklärte, dass bald ihr Zug gehe, denn sie wollte doch den Nachtdampfer von Vlissingen benutzen, blieb Frau Dora stehn und rollte die Augen, diese runden, kleinen, schwarzen Jetknöpfe, die so viel Weisses sehen liessen.
Und die Szene ward zum Tribunal.
Katarina ward durchgerüttelt und durchgeschüttelt, gesiebt, zerstampft, zerlesen, — und es blieb zum Schlusse nichts als ein armseliger Flederwisch übrig.
„Auf den Knien müsstest Du einem danken, Du knitze Krott, dass man Dich aus dem armseligen Häusche da drüben herausgeholt hat, und das ist jetzt Dein Dank. Damit nur ja alle Leut’ merken, wodrauf es Dir ankommt. Ha, gell, eine gute Partie machen, zu Geld kommen, die junge Herrin spielen. Und die, wo hier alles eingebracht hat, die kann sich sauer kochen lassen. Aber da bist arg letz, mein Täubche. Weisst Du das?“
„Ich weiss,“ sagte Katarina leise, schwer atmend. „Ihr hebt die Verlobung auf.“
„Ei freilich. Wenn Du diesmal nit parierst, dann hast verspielt. Also überleg’ Dir’s, Kätche. Zum letzten Mal. Und dann red’.“
Sie hob seufzend die Achsel. Ihre Augen begannen zu schwimmen.
Auch Frau Dora empfand etwas wie Rührung. Sie holte ihr Taschentuch aus der schwarzen Ledermappe und gebrauchte es mehrmals fanfarengleich. „So gut hat man’s mit Dir gemeint. Wie kann nur ein Mensch so verblendet sein. Und der arm’ Viktor. Du hast ebe kein Herz, Du.“
Katarina hielt ihre Stirn in beiden Händen. „Es wird mir schwerer, als Du denkst. Aber wenn der Viktor mich diesmal nicht versteht, dann würden wir ja doch nicht glücklich miteinander.“
„Hernehmen müsst’ man Dich, übers Knie legen und Dir fünfundzwanzig aufzünden, Du Krott. Dein Vater hätt’ das noch erleben sollen, was für ein Bock aus Dir geworden ist. Pfui, schämen solltest Du Dich. Und das Brillantarmband, wo Dir der Viktor zu Weihnachten geschenkt hat, kannst nur gleich dalassen, mein Täubche. Ich hab’s sowieso nur ungern geduldet.“
Hastig nickte Katarina. „Ich hol’s gleich!“ stiess sie aus und stolperte davon.
In aller Eile durchsuchte sie im Fremdenzimmer ihr Gepäck. Ausser dem Armband hatte sie noch den Ring und die beiden echten Schildpattkämme mit der goldenen Intarsienarbeit von Viktor geschenkt erhalten. Sie kramte so recht geschäftig, um nicht zur vollen Besinnung zu kommen. Fast atemlos brachte sie die Sachen dann an.
„Aber nicht wahr — bös’ braucht Ihr mir doch deshalb nicht zu sein?“ fragte sie unsicher.
„Nit bös? Wo Du einem den Schimpf antust?“
„Den tut Ihr doch mir an.“
„Ha, Du bräuchtest ja gar nit fort. Trotzdem Du arm wie eine Kirchenmaus bist, hab’ ich doch meine Zustimmung gegeben!“
Katarina senkte die Schultern. „Aber Du nimmst sie doch jetzt zurück.“
„Ei freilich. Und es wird glatte Rechnung gemacht, wenn Du Dich nit fügst.“
Ein paar Sekunden stand Katarina, mit sich kämpfend, da. „Ich hab’ — gar niemand — auf der ganzen Welt.“
„Nein, niemand. Niemand als uns. Guck, und die einzigen, wo Du hast, die willst jetzt so von Dir stossen.“
Katarina