einsetzen wollte. Die körperliche Betätigung machte dem jungen Volontär viel Spass, auch in Oxford hatte er mehr Gefallen am Rudern und an den Tennismatches gefunden als an den Wissenschaften, und Katarina zwang es oft das höchste Staunen ab, ihn in den Warmhäusern oder bei den Frühbeeten arbeiten zu sehen. Er hatte sich in den technischen Hilfsgriffen eine grosse Gewandtheit angeeignet. Wenn es hiess, ein paar tausend Pflänzchen aus den Dreizoll-Töpfen in Fünfzoll-Töpfe umzutopfen, so machte er sich mit riesigem Behagen an die Arbeit. All das ging ihm flink und geschickt von der Hand. Aber für die „höhere Gärtnerei“, wie er sich ausdrückte, hatte er nicht die geringste Begabung. Vor allem verdrossen ihn die vielen lateinischen Namen, die er sich hier merken sollte.
„Latein war immer meine schwache Seite. Wenn ich hätte Latein treiben wollen, dann ich hätte in Oxford bleiben können.“ Er war wütend darüber, dass Fräulein Lutz für all die lateinischen Namen ein so vorzügliches Gedächtnis hatte: in dem Abendkurs, den ein junger Botaniker aus Cambridge, ein Verwandter des Hauses Dutton, für die Volontäre der Firma abhielt, schnitt sie am allerbesten ab.
Katarina war in demselben Boarding-house untergekommen wie Mr. Gabb. Es bildete so den richtigen englischen Provinzdurchschnitt. Die Verpflegung war reichlich, derb und geschmacklos. Wenigstens genügte die Wohnung Katarinas Ansprüchen. Ihr winziges Schlafzimmerchen grenzte an eine gedeckte Veranda, die zu ihrer alleinigen Benutzung stand. Hier hatte sie immer blühende Blumen in Gläsern und Vasen. Und bald richtete sie sich mit den bescheidensten Mitteln eine kleine Lehr- und Versuchsgärtnerei ein. Sie kaufte sich eine ganze Reihe von Stecklingen besonders entwicklungsfähiger Nelkenspezialitäten und begann mit eigenen Züchtungsversuchen. Mr. Gabb sprach öfters die Vermutung aus, dass sie in der kleinen Hexenküche Bomben fabriziere für die deutsche Suffragetten-Abteilung. Eines Sonntags lud sie ihn mit den andern Kollegen und Kolleginnen, die hier in Pension lebten, zum Tee in ihren wunderhübsch blühenden und frühlingsmässig duftenden „Wintergarten“ ein. Natürlich erweckten nun ihre geheimnisvollen, gelehrten Versuche den Neid und die Eifersucht des bombenwitternden jungen Engländers.
„Im nächsten Jahr das Haus Dutton wird überhaupt keine Neuheiten haben, die es auf den Markt bringen kann; dann Sie werden der Firma mit Ihren Neuzüchtungen aushelfen und schlagen die ganzen Kosten Ihres Aufenthalts mit einem Hieb heraus. Ich sag’ es ja immer schon: die deutsche Gefahr!“
Es war faustdicker Spott — aber Katarina wurde von diesen Arbeiten doch immer stärker gefesselt. Es war ihr eine wahre Wohltat, dass sie darüber nicht zum Nachdenken über ihr Schicksal kommen konnte. Auf Viktors letzten Brief hatte sie nicht mehr geantwortet. Kein Wort darin schien ihr persönlichen Klang zu haben. Das allmächtige Rispetersche Geld hatte ihn völlig zum Sklaven gemacht. Selbst seinen Groll liess er sich von seiner Stiefmama diktieren.
An einem der langen englischen Sonntage schrieb sie einmal ausführlich über alles, was sie inzwischen erlebt hatte, an den Geheimrat Erck. Und der vielbeschäftigte Mann in der Villenkolonie Grunewald bei Berlin setzte sich darauf wirklich hin und antwortete ihr in einem vier Seiten langen Brief. Er ging auch auf die Grundstücksangelsgenheit ein, über die sie sich ausgesprochen hatte. Es sei unverantwortlich, meinte er, wenn sie dieser habgierigen Frau Troilo unter den völlig veränderten Bedingungen das Stück Land überlassen wolle. Sie solle ihm alles Material schicken, das sie über den Abschluss des Handels besass, oder ihm noch genauere Aufzeichnungen zukommen lassen. Er werde die Sache dann mit einem Juristen durchsprechen und ihr mitteilen, ob eine gerichtliche Klage gegen Frau Troilo auf Rückgabe des Grundstücks oder auf eine höhere Abfindung begründete Aussicht auf Erfolg habe.
Nur zögernd kam sie der Aufforderung nach, denn die Vorstellung, sich um das Erbe ihres Vaters mit Frau Troilo vor den Gerichten herumzanken zu sollen, weckte ein nicht gelindes Grauen in ihr. Aber: was blieb ihr sonst übrig? Mit dem kleinen Stück Land, das ihr geblieben war, konnte sie nach dem Wegzug des Pächters nichts anfangen. Die Zinsen ihres winzigen Kapitals reichten zum Leben nicht hin noch her. So hatte sie also die Aussicht, dauernd in bezahlter Stellung bei fremden Leuten zu leben. Wenn sie nicht heiratete —!
Erst an der Schwere der Enttäuschung war sie gewahr geworden, wie tief und wie fest die Liebe zu ihrem Jugendfreund in ihrem Herzen gewurzelt hatte. Er war den Schmerz gar nicht wert — so sagte sie sich immer wieder vor, um ihre Seele zu befreien — denn er hatte ja kaum den Versuch gemacht, um sie zu kämpfen. Die Abhängigkeit, in der er sich befand, entschuldigte ihn in ihren Augen nicht. Im Gegenteil. Wäre er ein ganzer Mann gewesen, so hätte er seiner Stiefmutter getrotzt und sein Schicksal auf eine einzige Karte gesetzt. Ihrer hätte er gewiss sein können. Sie wäre durch dick und dünn mit ihm gegangen. Sie hätte ihm damals ja so gern bewiesen, dass ihr’s nicht auf die ‚brillante Partie‘ ankam, sondern dass sie ihm wirklich von Herzen gut war.
Nun war dies alles vorbei. Endgültig. Und sie fühlte sich nach ihrer schweren Kindheit und Jugend nicht mehr leicht genug, um vor sich selber auch nur die Möglichkeit zuzugeben, dass eine neue Begegnung sie in neue Fesseln schlagen könnte.
Heute gehörte ihr Herz den Pflanzen — den wundervollen Spezialitäten der Firma A. F. Dutton.
Die Arbeitssaison lief vom März bis zum August und dann wieder vom August bis zum März. Als sie das erste Jahr ihrer Volontärzeit hinter sich hatte, erlebte sie zum erstenmal die grosse Sensation der Neuheitenausgabe. Die Ausstellung, die die Firma veranstaltete, war von unzähligen Fachleuten, Agenten, Reisenden und Liebhabern besucht. Im Inselreich war das Interesse für Blumenzucht viel, viel stärker entwickelt als auf dem Kontinent. Katarina hatte das schon oftmals festgestellt. Die pensionierten Offiziere und Beamten aus den Kolonien, die in Iver lebten und mit geringeren Mitteln haushalten mussten, hielten doch sämtlich für ihren Garten eine besondere Hilfskraft. Und wahre kleine Paradiese lernte sie in den Gartenstädten der Nachbarschaft kennen. Eine Duttonsche Neuheit mit auszuprobieren erforderte hier natürlich der Lokalstolz. So hatte das Haus schon in der allerengsten Heimat einen starken Bedarf zu befriedigen. Farben von seltener Leuchtkraft, Pflanzen von besonders kräftigem Wuchs, Blüten von unerhörtem Umfang gab es unter den neuen Nelken zu sehen. Katarinas Lieblinge freilich waren die Neuheiten in Weiss. Neben der vorjährigen Alma Ward, der blendendweissen Nelke, die die überraschende Eigentümlichkeit hatte, bei dunklem Wetter sich zartrosa zu färben, so dass sie in ihrem ganzen Eindruck der Catleya-Orchidee glich, bevorzugte sie die mächtigen, in Deutschland noch nie gesehenen schneeweissen Riesenblüten der White House und White Wonder. Sie trieb unermüdlich Studien auf diesem Spezialgebiet, las auch eifrig die deutschen Gartenblätter, die in der Bibliothek gehalten wurden, und wandte sich kühnentschlossen oftmals um Rat an einen der Fachschriftsteller in der Heimat, wenn sie dem jungen Botaniker aus Cambridge sich auf englisch nicht klar genug ausdrücken konnte. Da erfuhr sie denn zu ihrem Leidwesen manchmal, dass viele Versuche, besonders wirkungsvolle Duttonsche Züchtungen in Deutschland einzuführen, durch die gänzlich veränderten klimatischen Verhältnisse schwer beeinträchtigt worden waren. Die merkwürdigsten Zufälligkeiten, für deren Zusammenwirken es kaum eine Erklärung gab, hatten auch manchmal einen unerwarteten Erfolg zustande gebracht.
Sie lag nach wie vor ihren eigenen Züchtungsversuchen mit unvermindertem Eifer ob. Gerade das Geheimnisvolle reizte sie. Freilich sprach sie über ihre Arbeiten hier mit keinem der Angestellten oder der andern Volontäre mehr, weil man sie immer wieder zur Zielscheibe des Spottes gemacht hatte.
„Wie geht es in der Hexenküche, Miss Lutz?“ fragte wohl ab und zu noch Mr. Gabb, die Pfeife zwischen den Zähnen.
Sie lachte dann nur, gab aber über nichts bestimmte Auskunft.
Uebrigens erwartete er die gar nicht. Er Halle auch im zweiten Jahr seines Volontärdienstes bei der Firma das Wesen der Botanik noch nicht begriffen.
„Ich bin zu lang in die Höhe geschossen, Miss Lutz,“ sagte er einmal, als sie sich vergeblich bemühte, ihm eine naturwissenschaftliche Erkenntnis aus dem Abendkurs zu vermitteln. „Bis es zu mir ins Gehirn kommt, ist es immer schon eine Weisheit von gestern.“
„In Ihren Gedanken sind Sie masslos faul, Mr. Gabb.“
Er steckte sich ein Pfeiflein an und liess sich bequem vor dem mit Torf geheizten, immer räucherigen Backsteinkamin des allgemeinen Wohnzimmers nieder, hoch die Beine übereinanderschlagend.