beginnen und dann die Kreise größer ziehen. Man mußte suchen. Ganz einfach beharrlich sein.
Jetzt waren die Füße sauber, doch keine Choice war zu sehen. Ich zog die Pantoffeln an und ging hinunter zum Bekken. Es war leer dort, immer noch still und ruhig. Nicht viele nutzten die morgendlichen Damenzeiten, nur eine einzige Studentin plätscherte im Becken. Haus und Kinder waren natürlich hinderlich, und die Büromiezen hatten wohl auch kaum Zeit.
Langsam stieg ich ins Becken. Natürlich kann ich tauchen, das hatte ich in einem heißen Sommer vor vielleicht fünfzehn Jahren gelernt, ja, noch weit im vorigen Jahrhundert. Damals hatten wir Kinder am Strand gespielt, und einer der Jungen hatte mir das Tauchen beigebracht. Den ganzen Sommer über hatte ich es geübt und sehr gut gemacht, wie ich selbst fand. Vielleicht ließ ich es deshalb heute bleiben, wollte die Kindheitserinnerung nicht durch ein Hineinplumpsen ins Wasser verderben.
Ich bin keine Eliteschwimmerin. Mein Schwimmstil ist energisch, konzentriert und ein klein wenig fahrig wie mein Charakter, und meine Forschungsarbeit auch, wenn ich ehrlich bin. Die müden Morgenmuskeln waren gezwungen, sich zu strecken, dann nachzugeben, strecken, erschlaffen ... in raschem, gleichmäßigem Tempo. Ein entgegenkommendes Mädchen hob winkend die Hand, und ich winkte mitten in der Armbewegung zurück. Es war sicher jemand vom Verein für Studentinnen, doch ihr Gesicht blieb ein weißer Fleck.
Jetzt kam eine dieser ewigen Vorbeischwimmerinnen.
»Trödelsuse«, flüsterte sie, als sie auf gleicher Höhe war und mich zur Seite drängte.
»Was zum ... Choice! Es wurde aber auch Zeit!«
»Wie weit schwimmst du? Einen Kilometer! Bis dann!« antwortete Choice, und bald sah ich nur noch ihre Füße, und die übrigens auch vor allem wegen der Wasserspritzer.
Choice kann wirklich schwimmen. Sie ist groß und schlank, hat dunkles Haar, das ganz natürlich in Locken fällt. Wer ihren Kosenamen erfunden hat – sie besitzt ihn schon seit der Kindheit, und keiner weiß es genau –, traf ins Schwarze. Es mag schon sein, daß sie Gudrun Nordin heißt, doch als Name paßt »die Auserwählte« besser. Ihre Gestalt gleicht einem Ornament der l’art nouveau. Man könnte sie sich porträtiert auf einer Chaiselongue vorstellen, zurückgelehnt, mit einer Schachtel Pralinen in Reichweite und daneben auf dem Tisch einen Band Sonette von Gripenberg. So sieht sie aus. Vom Charakter her ist sie ganz anders. Groß und schlank von Wuchs hat sie natürliche Voraussetzungen, um Sport zu treiben, und die nutzt sie auch. Als Studentin trainierte sie jede nur erdenkliche Leibesübung und war eifriges Mitglied im Lawntennis-Club der Uppsala-Studenten. Heute als Stockholmerin spielt sie Tennis und Bandy mit den Damen im Sportclub der Kronprinzessin Margareta. Am Netz kann sie übrigens auch den geschicktesten Mann schlagen.
Choice ist Fürsprecherin alles Gesunden und Heilsamen – besser gesund als sündig, ist ihr Motto, und über Dekadenz rümpft sie nur die Nase. Mit Trauer betrachtet sie die Degeneriertheit der Zeit, die alle Klassen erfaßt. Wenn sie selbst im Kreis von Freunden zu einem Glas greift, ist das mehr den veralteten Sitten geschuldet als wirklicher Neigung. Trotz allem ist sie schließlich Journalistin und muß sich verhalten, wie die Leserschaft es von ihr erwartet.
Sie ist schön, die Choice, und die Männer bewundern sie. Sicher ziehe auch ich Blicke auf mich, doch neben Choice bemerkt mich keiner. Dennoch ist sie unverheiratet, trotz ihrer dreißig Jahre. Sie wohnt in einer Pension und scheint ihren Familienstand nicht zu bedauern. Liebe verachtet sie. Soweit mir bekannt ist, gab es für sie nur eine Liebe, und die ist vollkommen platonisch: Per Henrik Ling, Vater der schwedischen Gymnastik. Im vollen Ernst verteidigte sie seine dramatische Dichtung vor dem Hohngelächter des Studentinnenvereins, und es ist auch nicht merkwürdig, daß sie die Linggymnastik allen anderen Sportarten vorzieht. ›Die Knie beugt, die Arme streckt‹ ist für sie, was für andere Menschen der Morgenkaffee ist. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß sie aus Prinzip aufgehört hat, Kaffee zu trinken. Neben Choice wirkt jedermann unentschlossen und schwach.
Der Beckenrand kam mir erneut entgegen, ich wendete und stieß mich mit den Fußsohlen von den Kacheln ab. Beim nächsten Schwimmstoß beschloß ich, Choice nichts von der Wette zu sagen. Daß Schlippenbach und ich verschiedene Ansichten zu den Wegen der Literaturforschung hatten, ging nur uns beide etwas an und niemanden sonst. Es genügte, daß Choice vom Sammeln der Briefe wußte.
Als ich aus dem Becken kletterte, tropfend wie eine frisch aus dem Eis gekommene Punschflasche, schoß Choice mit einem letzten raschen Stoß zum Beckenrand vor und stemmte sich nach oben. Sie drückte das Wasser aus einer Haarlocke, die unter der Badehaube hervorlugte, legte den Arm um mich und erklärte, wie schön es sei, mich zu sehen.
»Komm rasch mit ins Dampfbad!«
Das Dampfbad war der höchste Genuß beim Baden – erst Kälte, körperliche Anstrengung und Martyrium, dann Abseifen in der Dusche und Haarwäsche mit Javol-Shampoonpulver. Und schließlich Wärme, anfangs knochentrocken, dann dampfend feucht, bis der ganze Körper sich entspannte und man sich fühlte wie in einem morgenländischen Harem – träge, wollüstig und völlig nackt. Ich legte mich hin und schaute zur Decke auf, die hinter dem Wasserdampf und den Nebeln der Kurzsichtigkeit verschwand. Choice hatte eine Bürste bei sich und bearbeitete sorgfältig ihren ganzen Körper, von den Schultern abwärts.
»Die Brenner ...«, sagte sie. »Viel ist mir nicht über sie in Erinnerung geblieben aus der Zeit, als ich Literaturgeschichte belegte. Natürlich gibt es ein paar Seiten in Schlippenbachs Handbuch, und die sind ja ...«
»Von freundlicher Nachsicht?«
»Hmm. Ist neunmalklug und und weiblichen Geschlechts, aber kann wenigstens Verse schreiben.«
»Im Unterschied zu den meisten karolinischen Poeten, ja!«
»Liebe Lissie«, sagte Choice und begann mit der Bürste die Ferse zu schrubben, »es gibt kaum andere Poeten unter Karl XI. und XII. – und die wenigen, die es gibt, schreiben wirklich miserabel. Nein, ich habe darüber nachgedacht ...«
Sie wechselte zum anderen Bein, stellte den Fuß auf die Pritsche und bürstete die Rückseite des Schenkels.
»Ich habe mich ja vor allem mit dieser Zeit beschäftigt, als ich hier studierte. Erinnerst du dich, was die Burschen im Seminarium zu meinem Aufsatz sagten?« Sie lachte leise und massierte die Kniescheibe mit der Wurzelbürste. »Daß es unpassend für eine Studentin sei, über einen Saufbold wie Runius zu schreiben! Und das, obwohl mein Aufsatz nur eine höchst seriöse Durchsicht seiner Gelegenheitsdichtung war und Schlippenbach ihn mit Laudatur bewertete. Ist doch eine Crux.«
Jetzt war das Schienbein an der Reihe, und es erforderte größere Sorgfalt, da die Bürste keine Kratzer hinterlassen durfte, die durch den Strumpf schimmerten. Deshalb schwieg Choice, bis sie bei den Zehen anlangte.
»Als Literaturgeschichtler habe ich seit dem Kandidatenexamen gewiß eine Menge verlernt. Es ist schließlich ... wollen mal sehen ... es muß Nullvier gewesen sein, nicht wahr? Denn bei der Zeitung fing ich vor dem Russisch-Japanischen Krieg an, und der war Nullfünf.«
»Wissenschaftliche Schulung verlernt man nie. Das bleibt in der Hirnrinde haften.«
»Du bist wirklich zu nobel, Schwester. Ich will gern mit dir arbeiten. Wir beide haben den Studentinnenverein mit einer solchen Finesse geführt, wie man sie zuvor selten erlebt hat. Und mir gefällt der Gedanke, daß die Brenner eine Frau ist! Doch in Latein bin ich ziemlich schwach.«
Ich versicherte, die Römersprache sei kein Problem für mich, denn aus jugendlichem Enthusiasmus für die Poeten des Goldenen Zeitalters hatte ich auch sie für das Magisterexamen gewählt.
»Hmm ...«, murmelte Choice und musterte Beine und Füße. Sie waren rot, aber zweifellos sauber, und sie ließ die Bürste mit einem Krachen auf die Pritsche fallen. »Komm jetzt ins kalte Becken!«
Sie stürzte hinaus unter die Dusche und sprang dann mit beiden Füßen voran ins Tauchbecken. Ich folgte etwas gemächlicher. Das Wasser plätscherte um die Zehen ... bis zu den Knien hinauf ... den Schenkeln ... dann hielt ich es nicht länger aus, ließ die Leiter los und fiel rücklings ins Wasser. Die Wellen überspülten Gesicht,