hineinpreßte. Wenn ich nur nicht so verflixt kokett wäre! Nachdem ich eine Zeitlang mit den Verschlüssen gekämpft hatte, reichte mir Choice einen Stiefelknöpfer, der wohl in ihrer Schublade gelegen hatte. Nach dem halben Stiefel sagte ich seufzend: »Meine Kollegen sind Männer. Auch wenn unter ihnen Renaissanceforscher und Texteditoren sind, interessiert sie die ›Weibsperson‹, wie sie die Brenner nennen, herzlich wenig.«
Thea zog einen Stuhl heran und setzte sich neben mich.
»Und Schlippenbach? Er soll doch ein kluger Mann sein.«
Der rechte Stiefel war zugeknöpft, und ich widmete mich dem linken. Dieser Fuß schmerzte am schlimmsten. Welch Glück, daß der Bahnhof in der Nähe lag.
»Er hat anderes um die Ohren«, erklärte ich. Professor, Rektor und Mitglied sämtlicher Gesellschaften und Akademien, die man sich nur vorstellen kann, selbst wenn er noch nicht in die Schwedische Akademie gewählt wurde. Ich schloß die letzten Knöpfe und erklärte das Herausgabeprojekt. Thea brummelte, sie spreche in der Tat fließend Latein, was man in heutiger Zeit ja nicht von allen Studierten behaupten könne. Ich empfand es sofort als Anspielung auf mich, versuchte jedoch, einem Streit aus dem Weg zu gehen, und verbreitete mich statt dessen über Handschriften und Reisen. Alle müßten wir auf lange Archivreisen gefaßt sein, denn bei den vielen internationalen Kontakten der Brenner seien wir gezwungen – vielleicht war es ja auch Glück –, ausländische Archive aufzusuchen.
Die Gedanken eilten aus dem Redaktionszimmer davon und in die Welt hinaus. Welche Länder würden wir besuchen, welche Archive durchforsten? In den Ohren rauschte es, es mußte der Wind der Freiheit sein. Nur ich allein – nein doch, nur wir drei – und nichts band uns hier. Keine Kinder, kein Mann, keine Eltern. Mutter und Vater waren nicht sonderlich alt, Papa war fortwährend mit seinen Pelzen beschäftigt, und Mama noch immer imstande, Pelze wie Haushaltsbürden auf kleidsame Weise zu tragen.
»Und wer bezahlt die Reisen?« fragte Thea.
Ich legte den Stiefelknöpfer mit einem Scheppern auf den Tisch. Eine derart materielle Frage hatte Choice natürlich nicht interessiert.
»Das geht schon in Ordnung. Ich habe Schlippenbachs Wort.«
Thea fuhr mit den Fingern durch die Stirnlocke und schaute mich an. Ich wich ihrem Blick aus.
»Nun ja«, sagte sie, »solange wir in den Ferien reisen, dann ... Und Choice ... was sagt der Chefredakteur?«
»Oh, wenn ich von unterwegs nur ein paar Reportagen schicke, wird er schon mitspielen. Er ist ein netter Mann.«
»Dann sind wir uns einig?« fragte ich.
»Eine Sache noch!« unterbrach Thea. »Ich weiß nichts über die Brenner-Zeit. Eigentlich hatte ich absagen wollen ...«
»Nun, man lernt wohl bei der Arbeit.«
»Aber ... Dozentin Gran, jetzt will ich Ihnen etwas erzählen: Ich wollte die Schiffbruchmetaphorik des Horatius in der Klasse durchgehen – all das über die Liebe und die Gefahr des Meeres ...«
»Mir bekannt!« erwiderte ich bissig.
»Und als ich in der Schulbibliothek etwas ganz anderes nachschlug, fand ich dieses hier ... Sie kennen es selbstverständlich bestens. Es fiel mir förmlich in die Hände und öffnete sich von selbst genau an dieser Stelle ...«
Sie nahm einen dicken uralten Wälzer aus der Kollegmappe und reichte ihn mir. Ich griff vorsichtig danach. Sophia Elisabeth Brenners Poetische Verse, verfaßt in mancherlei Sprachen, zu unterschiedlichen Zeiten und bei mannigfaltigen Gelegenheiten stand auf der Titelseite. Auf der Innenseite des Einbands hatten sich die Besitzer verewigt. Das Buch hatte bereits ein langes Leben hinter sich, und es war gelesen worden, ein ums andere Mal, denn das Papier war an den Ecken abgegriffen und schmuddelig. Zuoberst stand eine frühe Eintragung, kaum leserlich. Dann folgte: A. L. Berg 1779, Constance Ekensparre 1842. Ein Namenszug war durchgestrichen, und jemand hatte versucht, ihn mit dem Messer zu tilgen. Hatte einer das Buch von seinem schlimmsten Feind geerbt? Vielleicht war es der Name eines geliebten Freundes, dort hingeschrieben in erster Verliebtheit ... und später, als die Liebe erkaltete, wollte man ihn löschen. Auch Kritzeleien eines Kindes fanden sich dort. »Poetische Verse« hatte es geschrieben, mit gleich vielen Schnörkeln wie auf der Titelseite. Darunter ein Versuch, vielleicht vom selben Kind, das Titelkupfer zu kopieren. Die Frisur der Brenner in der Kinderzeichnung war noch höher und lockiger als auf dem Stich, und ihr energisches Gesicht wirkte nicht schöner, doch tatsächlich menschlicher. Als ich sie jetzt betrachtete, begann sie sich zu bewegen. Zuerst wand sie sich nur ein wenig, so als scheuere das Schnürmieder, dann beugte sie sich vor und sah mich an. Ihre Augen waren wirklich sehr hell, doch zeugten sie von Charakter. Jetzt lächelte sie – da war nicht das lauthalse Lachen aus dem Traum, nur ein leises ironisches Lächeln, vielleicht ein wenig geheimnisvoll. Hatte das Weib etwas zu verbergen?
Thea ließ das Buch los, und die Brenner erstarrte zu Tintenstrichen, gezeichnet von einem Kind, das die Feder vor langer Zeit ins Tintenfaß getaucht hatte. Ich legte den Zeigefinger an die Stelle, die Theas Finger soeben noch markiert hatte. »Grab-Schrifften« las ich zuoberst auf der linken Seite. Doch Thea wies nach rechts. Dort stand ein Sonett – kein kleines Futteral für Spleen und Dekadenz, wie neuzeitliche Dichter es hervorbrachten – nein, eine Grabschrift »Dem Söhnchen Marten brenner, der geboren ward den 29. Mai 1688 und verstorben selbigen Jahres den 25. Oktober«. Fünf Monate alt nur.
Soll ohne Ende Schmerz, soll Sorge mich durchgehen,
Soll klagen ewig ich, weil du verstarbst so früh?
Beweinen soll ich dich, da dich anlächeln sie,
Die Engel, denen gleich du JEsum schon darfst sehen?
Wie sollte mir daran ein Zweifel je entstehen:
Entziehn wird Wonne dir, die himmlische, sich nie.
Teilhaftig bist bereits der Gnade du. O wie
Nur könnte dein Geschick als Mißgeschick ich schmähen!
O selig überaus du, dessen Weg sich schloß,
Noch ehe er sich dir eröffnete. Dein Schwinden
Ist Glück. Denn unsre Fahrt in wüsten Sturms Getos
Verwirrt sich, noch bevor der Hafen sich kann künden.
Aus deiner Wiege fandst du leicht in JEsu Schoß,
Dahin so viele schwer, die meisten niemals finden.
Der Sturm wirft unsere Schiffe auf dunklem Meer umher, und unsere Rettung ist allzeit ungewiß. Doch mit seiner Wiege als Schiff schaukelte der kleine Marten in einer Lustfahrt auf sommerlichen Wogen, unterwegs in die Seeligkeit.
»Es fiel mir schwer, von diesem Bild loszukommen ... dabei, man bedenke, verabscheue ich Kinder!«
»Und sind Lehrerin?«
»Im Mädchengymnasium.«
»Auf dem Friedhof in Karlstad liegen drei tote Geschwister von Thea«, erklärte Choice, »und obendrein hat sie zwei lebende Geschwisterkinder.«
»Nun ja, sie waren nicht einmal ein Jahr, als sie starben, und ich erinnere mich nicht an sie.«
Ich selbst bin das einzige Kind daheim, geliebt und ersehnt. In unseren Kreisen ist die Kindersterblichkeit heute gering, doch weiß ich schließlich, wie es Freunden ergangen ist: Die toten Kinder waren im Kreis der Geschwister stets zugegen, wie eine Art Schatten. Und bestimmte Tage im Jahr waren gezeichnet durch sie; zwar gab es weder Fest noch Trauerfeier zu ihren Ehren, doch Mutter und Vater wurden gleichsam stiller, und dann kam der Satz: ›Heute ist Fredrikas Geburtstag‹, und man ahnte, daß sie nachrechneten, wie alt das Kind geworden wäre. Ich konnte mir denken, daß man in Theas Familie die Sache nie sehr sentimental anging.
»Das Gedicht ist gut«, sagte ich. »Die Brenner konnte ihre Sache. Sie werden sehen, Frau Doktor Jansson, daß es bei ihr mehr zu holen gibt, als man glaubt. Sie ist unsere Arbeit wert.«
Thea sah mich fest und entschlossen an, ohne an ihrem Haar zu bosseln oder