Carina Burman

Die zehnte Göttin des Gesangs


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      »Vierzig Briefe! Kein anderer hat uns einen solchen Packen angeboten.«

      »Und obendrein an eine Freundin, von der niemand je ein Wort gehört hat!«

      »Eine Sache allerdings beunruhigt mich«, sagte Thea und tippte mit der Zigarettenspitze auf die Worte ›auf unserem Dachboden‹. »In welchem Zustand sind diese Briefe eigentlich? Wenn sie nun keiner mehr angerührt hat seit dem 18. Jahrhundert?«

      »Bis auf die Ratten ...«, seufzte ich, denn ich hatte meine Erfahrungen anhand eines spannenden Briefwechsels zwischen Leopold und einem Mitstudenten. Der Briefempfänger hatte die Briefe fein säuberlich binden lassen, doch hinderte das die langschwänzigen Freunde nicht, sorgfältig alle deftigen Worte und appetitlichen Schilderungen aufzuknabbern. Lediglich ein paar Begrüßungsformeln und einzelne Buchstaben waren intakt geblieben, und die Gewißheit, die sich daraus von der Art der Korrespondenz ergab, ließ meine Verzweiflung nur noch größer werden. Dreißig Jahre hatte der Besitzer die Briefe in einem Schuppen verwahrt. Der Dachboden eines Gutshauses konnte kaum schlimmer sein, äußerte ich denn auch laut.

      »Sind sie aufgefressen, müssen wir die Tage als Ferien betrachten«, sagte Choice. »Im übrigen kann ich darüber noch immer eine humoristische Causerie verfassen.«

      »Stellen wir fest, daß die Briefe des Freiherrn von den Ratten gefressen sind, werden wir auf Ekesta bestimmt nicht alt«, sagte ich in einem Anfall modischer Manier. Doch Choice lachte nur über mich – ja, Thea übrigens auch, während sie mit der Zigarettenspitze vielsagend auf mich wies. Dann kramte sie eine Bridge hervor und steckte sie an. Wir fuhren freilich im Damencoupé, das rauchfrei zu bleiben hatte, doch da wir allein waren, ignorierte Thea die Schilder. Und mit Rauchen und Diskutieren über Briefedition und Frauenrecht verging die Reise rasch, trotz mehrmaligen Umsteigens. Wir waren recht zufrieden, dieweil unsere Ansichten sich trafen, und in Finspång verließen wir schließlich den Zug.

      Der Freiherr hatte versichert, man würde uns auf dem Bahnhof abholen, und nun schauten wir ein wenig verloren nach einer Art Kutscher aus. Kräftige Burschen aller Art gab es dort, doch schienen sie mit dem Verladen von Gepäck beschäftigt, also nahmen wir die Schilder an ihren Mützen als Zeichen und verwarfen sie als Dienstmänner. Ein dickbäuchiger Herr mit doppelreihiger Uhrenkette begrüßte überschwenglich einige erwachsene Töchter, die offenbar in der Hauptstadt gewesen waren, um sich dort zu vergnügen. Zwei Studenten spazierten untergehakt zum Bahnhofsrestaurant. Da überfiel mich plötzlich dasselbe Gefühl wie in jener Nacht in Uppsala, doch konnten meine Augen keine Ursache erkennen. Neben mir unterhielten sich Choice und Thea, und ich bin überzeugt, sie sprachen zu mir, doch weiß ich nicht, was sie sagten.

      Ein Duft hatte mich reagieren lassen. Als ich stehenblieb und wie ein Kaninchen schnupperte, spürte ich eine ganze Skala von Gerüchen: Ruß, Rauch, frisches Laub, Flieder ... und noch etwas, das weder mit dem Zug, der Stadt oder der Natur zu tun hatte. Es roch ganz einfach nach Parfüm. Also drehte ich mich um, und da entdeckte ich eine weitere weiße Mütze.

      »Dozentin Gran«, sagte der Mund darunter – und es war ein sehr schöner Mund, ebenso wie die Augen unter dem Schirm der Mütze.

      »Kandidat Månson!« erwiderte ich und nahm seine ausgestreckte Hand. »Was für eine Überraschung!«

      »Baron Fabian ist mein Großonkel«, erklärte der Kandidat.

      »Er hat mich geschickt, Sie und die anderen Damen abzuholen.«

      Ich begriff, daß Thea und Choice mich verblüfft anstarrten und daß ich die Hand des Kandidaten nicht losgelassen hatte. Sie lag so behaglich in der meinen, daß ich keine große Lust dazu verspürte.

      »Seid ihr miteinander bekannt?« fragte Choice neugierig.

      »Ich studiere Literaturgeschichte«, erklärte der Kandidat. Ich ließ seine Hand los. Thea streckte ihm die ihre entgegen und stellte sich vor, und dann ließ Choice all ihre Reize direkt in die schwarzen Augen des Kandidaten strahlen. Er nahm mir das Köfferchen ab und versuchte Choice vom Arsenal zu befreien, doch sie verbarg es hinter ihrem Rücken. Da nahm er statt dessen die Handkoffer der beiden und ging uns voran aus dem Bahnhof.

      »Onkel Fabian hat einen Mann hergeschickt, der die Reisekoffer mit dem Karren bringt. Der Onkel meinte, ich sollte Sie mit der Kutsche fahren, doch das geht so schrecklich langsam. Ich habe statt dessen das Automobil genommen.«

      Es kam nicht jeden Tag vor, daß wir im Automobil fuhren, doch selbstredend konnten wir es einem Studenten nicht gestatten, uns reife Frauenzimmer zu beeindrucken. Der Kandidat öffnete die Türen und stellte die Handkoffer auf den Boden. Es sah nicht eben bequem aus. Vorsichtig setzten wir uns, Choice und ich auf den Rücksitz und Thea neben den Kandidaten. Dort war am meisten Platz, also reichte Choice ihr das Arsenal. Ich band den Hut unter dem Kinn fester. Kandidat Månson kurbelte den Motor an.

      Und ab ging’s! Ratternd und schaukelnd verließen wir Finspång, fuhren an Schloß und Auroratempel vorüber (auf die uns Kandidat Månson zuvorkommend hinwies) und auf die Landstraße hinaus. Hier begann ein langwieriger Kampf mit dem Wind um unsere Hüte. Barfüßige Bauernkinder blieben am Straßenrand stehen und gafften unserem Wagen hinterher. Ich merkte sehr wohl, wie stolz Kandidat Månson war. Dennoch sah selbst ich, daß das Automobil nicht eben das neueste Modell war. Es war klein und klapprig, und der Kandidat steuerte es mit einer gewissen, möglicherweise gespielten Nonchalance. Das Automobil schlingerte über die Straße, und dann und wann, wenn die Räder über Unebenheiten holperten, hüpften wir in die Höhe. Pferde wieherten erschrocken und sprangen über den Graben. Fuhrwerke hielten am Straßenrand und warteten nervös unsere Eskapaden ab. Saß man in ihm, roch das Automobil besser, als wenn man draußen auf der Straße stand, und der Lärm war gar nicht so schlimm. Der Wind war es, nicht der Krach, der jede wirkliche Konversation unmöglich machte.

      Die Landschaft war von ganz anderer Art, als ich, das Mädchen aus Norrköping, erwartet hatte. Hier gab es keine weiten Ebenen mit verstreut liegenden Höfen, und obgleich wir an einer weißen Kirche, groß wie eine Kathedrale, vorüberfuhren, war die Gegend mit der Kulturlandschaft um Schwedens Manchester nicht zu vergleichen. Um die Häuschen blühten Apfelbäume, und an der ganzen Straße von Uppsala her wuchs einfacher lila Bauernflieder an den Hausecken. Der dunkle Wald schien tief, und jenseits der Straße ragten die Berge so hoch auf, daß ich sie zunächst für sich auftürmende Gewitterwolken hielt. Vielerorts wagten sich kleine Äcker schüchtern aus dem Wald hervor, auf unsicheren Beinen und mager wie die Bauernkinder, keine schwellenden Cerestempel wie in Uppland oder der Gegend um Linköping. Ich mochte ihr Aussehen. Waldzipfel ließen Raum für eine Ackerbucht, und hier und dort ragten kleine Felskuppen mitten aus der Saat auf. Die grünen Halme hatten sich aus der Erde gewagt und reichten gewiß bis zu den Knöcheln. Diese Landschaft war dem Menschen nicht vom Herrn gegeben – er hatte sie mit Mühe und Plagen erworben. Jedes Ackerstück war von Menschenhand geschaffen. Ich fragte nach Denkmälern der Vorzeit, und der Kandidat kannte eine verfallene Marienkirche und einige Findlinge, angeblich ein Grab, auf einem Acker dicht bei Ekesta. Doch schien er kein Faible fürs Vorzeitliche zu haben. Über die Wirtschaft der Gegend wußte er besser Bescheid: In Finspång gab es eine Gießerei, der nahezu der ganze Flecken gehörte und die für die Eisenverarbeitung und Forstwirtschaft einstand. Dort wurden vor allem Kanonen hergestellt; in Lotorp gleich nebenan fertigte man jährlich mehr als 21 000 Äxte. Auf dieser Seite gab es vor allem Wald, Äcker und Fischfang, aber auch hier arbeiteten viele Leute für die Gießerei. Reich war die Gegend nicht eben, doch mit einer Mühle und ein wenig Viehzucht kam Ekesta ganz gut zu Rande.

      Rechter Hand war jetzt der See zu sehen – zunächst nur ein Streifen, dann eine breite Bucht mit noch mehr Wald und Bergen auf der anderen Seite. Wir fuhren an einem Gutshaus mit großer Landebrücke vorüber, und unten am Wasser plantschten ein paar Kinder, blaß und glücklich. Kurz darauf bog die Straße in den Wald ab, und Wildrosenranken wölbten sich wie Triumphbögen über unseren Köpfen. Eine braune Stute mit ihrem Fohlen blickte vom Weideland auf, als wir vorüberratterten, doch schien der Lärm sie nicht zu stören. Ich begriff, daß wir kurz vor Ekesta waren.

      Das letzte Stück bis zum Hof glich einer Berg-und-Tal-Bahn, die einen zwischen Ständen und Erwerbszweigen hin und her warf. Wir ließen