Carina Burman

Die zehnte Göttin des Gesangs


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roch trocken und alt, wie es Manuskripte an sich haben. Niemals erscheint die Vergangenheit so nahe wie beim Arbeiten mit Handschriften. Dieses Papier hatte die Autorin beschrieben. Es war der Brenner eigene Hand, die die Gänsefeder über die Seite geführt hatte. Einmal war die Feder gehoben und angespitzt worden, oder sie hatte sie vielleicht gegen eine neue ausgetauscht, die fertig angespitzt vor ihr lag, falls sie eine vorausschauende Person war. Bei der Vielzahl ihrer Verrichtungen war sie vermutlich dazu gezwungen. Während der Jahrhunderte war die Tinte verblaßt, doch der Geruch war dem Papier geblieben, dumpf und dennoch wundervoll. Die Dichterin pflegte zu erklären, ihrer schöngeistigen Tätigkeit käme sie in von häuslicher Arbeit freien Stunden nach. Spürte man hier einen Duft karolinischer Kochkunst? Der Brief war im Juni geschrieben – da gab es vielleicht Kalb am Spieß, und dazu genoß man Spinat und zarte Karotten. Als erster Gang wurde möglicherweise eine Wassersuppe mit Kräutern gereicht.

      Natürlich galoppierte meine Phantasie jetzt mit mir davon. Das Papier roch nach Papier, altertümlichem Lumpenpapier mit verblaßter Tinte. Und doch konnte ich die häßliche alte Dame sehen, die mit ihrer Feder am Tisch saß und schrieb. Mehrere erwachsene Kinder hatten das Elternhaus verlassen. Viele waren früh gestorben. Zwei Töchter, Fredrika und Maria Aurora, waren noch ungebunden und vielleicht zu Besorgungen unterwegs, als die Mutter den Brief schrieb. Sie mußten zu den jüngsten der fünfzehn Kinder zählen. Ein paar Jahre später heiratete Maria Aurora, und die Brenner widmete ihr eine Hochzeitsschrift, in der sie die körperliche und geistige Gemeinschaft einer guten Ehe beschrieb.

      Hätte die Brenner erörtert, was vom Krieg an Kunde kam, wäre man in die Luft gesprungen und hätte den Brief interessant gefunden. Aber die Frage war, ob Kinder und Überzug nicht mehr über die Zeit und die Briefschreiberin aussagen – vielleicht nicht eben über ihr literarisches Streben, jedoch über ihre Person. Schließlich war es bei einer Briefedition wesentlich, der Person und dadurch ihrem Werk näherzukommen. Man setzt dabei natürlich voraus, daß die Briefe sensationell wären. Bei jedem Brief sollte der Leser am liebsten vor Erstaunen den Mund aufreißen: Oh, war das Privatleben des Autors von dieser Art und welch interessante Gedankengänge! Erklärt und kommentiert würde das Ganze vom allwissenden Herausgeber, dieser Lichtgestalt auf Erden. Und was finde ich dann ... Weibergeschwätz!

      Wieder sah ich die Autorin an ihrem Schreibpult sitzen, sie hebt die Feder vom Papier, schaut nachdenklich auf. Das Kalb, gespickt mit Kräutern, verbreitet angenehmen Duft. Vielleicht sollten der Gatte und sie süßen Wein dazu trinken, wie zuweilen üblich. Der Bote draußen wartete leicht ungeduldig auf das Frauenzimmer, das einen ausführlichen Brief verfaßte, obgleich er in Eile war. Sie hat ein Doppelkinn, blaßblaue Augen und einen gräßlich kleinen Mund. Die Brenner weckt meine Neugier, lockt mich, weil sie so schwer Zugang gewährt. Sie war eine Bürgerfrau mit Alltagskram im Kopf – doch was steckte dahinter? Was machte das Einfache so bedeutungsvoll?

      »Nun, war es nicht reiner Schnickschnack?« fragte der Bibliothekar der Handschriftenabteilung, als ich den Brief zurückgab.

      »Im Gegenteil«, erwiderte ich. »Der Brief war sehr ergiebig. Er hat mich so manches über die Brenner gelehrt.«

      *

      Donnerstag, den 9.12.1909

      Gestern nachmittag sollte ich Thea vorgestellt werden. Die Begegnung war nach dem Bibliothekar und der Grützwurst angesetzt, und ich hatte bereits ein Bild von meiner zukünftigen Kollegin vor Augen. Choice hatte eine Menge erzählt, also wußte ich, daß Thea die Haare kurz trug und radikale Verfechterin einer neuen Rechtschreibung war. Sie schrieb alles klein und hätte am liebsten die ganze Orthographie umgekrempelt.

      Als ich Choices Zimmer betrat, verlangte mein ganzes Wesen nach einem großen Stück Backwerk und ein wenig weiblichem Geschwätz. Der Handschriftenbibliothekar war gar zu anstrengend gewesen. Choice saß noch immer beim Mittagessen. Gekochte Speisen am hellichten Tag fand sie verwerflich. Gemüse sei die beste Nahrung, je weniger behandelt, desto gesünder, der Körper soll alles sichtlich selbst bearbeiten dürfen. Persönlich pflege ich bei einer Tischgemeinschaft zu essen, und dort bearbeitet die Frau des Hauses meine Kost. Choice kauft beim Apotheker Karín Tabletten zur Zubereitung von Dickmilch. Die trägt sie in braunen Fläschchen mit sich herum und ißt sie zum Lunch mit Obst und Knäckebrot. Wenn zum Frühjahr der Vorrat an Früchten zur Neige geht, wird die Mahlzeit spartanischer, und das Knäckebrot spielt die Hauptrolle.

      Ich fand sie im Stadium der Äpfel und Trockenpflaumen. Die Mahlzeit sah ganz besonders apart aus, da Choice in maßgeschneiderter Kostümjacke nicht eben einem Naturmenschen glich. Sie bezieht ganze 4000 im Jahr. Die Jacke, von ungefähr gleicher Nuance wie die vier Tausender, ließ sie wie eine echte Pariserin aussehen.

      Kaum war ich ins Zimmer getreten, als Choice schon von Thea zu erzählen begann. Ich nahm Platz und zog die Schnürstiefel aus. Sie scheuerten an den Fersen, und ich verachtete mich selbst, weil ich nur wegen des Aussehens neue Stiefel nach Stockholm angezogen hatte. Doch sie sind gelb und glänzend poliert, und ich mag sie außerordentlich gern.

      Choice begann mit einer kleinen Vorstellung, bei der sie die Rolle Theas in ihrer Funktion als Lehrerin mimte: »Ich sehe sie direkt vor mir, dort im Wallinschen Mädchengymnasium ... wie sie das Lehrbuch zuschlägt und über die Fehler der Elevinnen bei Grundbegriffen der lateinischen Grammatik wettert, wenn sie nicht imstande sind, Cicero zu beugen oder ›ein übermütiger Seemann‹. Dann nennt Thea sie eine Schande für das weibliche Geschlecht, und hinterher plagt sie das schlechte Gewissen.«

      Jetzt kratzte Choice den Rest der Dickmilch zusammen und warf die Apfelschalen in den Papierkorb. Sie schob den Stuhl zurück und zog die oberste Schreibtischschublade ein Stück auf. Dann lehnte sie sich so weit nach hinten, daß der Stuhl gegen die Wand kippte, stützte die Füße auf die Schublade und erklärte, ich würde entzückt von Thea sein.

      »Sie ist streng und ein bißchen barsch, aber ...«

      »... hat ein Herz aus Gold?«

      »Du brauchst nicht so ironisch zu sein! Jedenfalls interessiert sie sich für gute Literatur.«

      Jetzt hämmerte es gegen die Tür. Choice schwang rasch die Füße auf den Boden und schob die Schublade zu. Ich schaute auf meine Stiefel hinunter, die noch immer fein säuberlich auf dem Fußboden standen.

      »Herein!«

      Die Tür wurde aufgestoßen, und ein robustes Weibsbild um die Fünfunddreißig trat ins Zimmer. Sie trug einen langen, engen Rock, Knopfstiefel, wie wir beide, Herrenweste und Sportjacke über der Bluse. Ihr Haar war dunkel, von jener Nuance, die blonde Kinder als Erwachsene haben, und tatsächlich war es in Höhe der Ohrläppchen abgeschnitten. Die Gesichtszüge konnte man kaum fein nennen, eher stimmte das Gegenteil, doch ihr Blick war so klar, daß man sie für schön hielt. Das also war Thea. Die ganze Gestalt strahlte Begabung aus.

      »Entschuldigt die Verspätung. Habt ihr gewartet?«

      »Überhaupt nicht!«

      Choice ging ihr entgegen und schüttelte ihr die Hand, zog einen Stuhl hervor und knuffte das Rückenkissen zurecht. Ich erhob mich und gab ihr ebenfalls die Hand. Ohne Stiefel fühlte ich mich höchst lächerlich.

      »Dozentin Gran, Lizentiat der Philologie Jansson. Könnt ihr zwei euch nicht gleich duzen, wenn ihr jetzt ohnehin zusammen arbeitet?«

      »Wenn wir es tun, ja«, sagte Thea und schaute mich lange an. Es war, als käme man in die Schule und habe seine Aufgaben nicht ordentlich gemacht. Streng? Ja, das schien zu stimmen.

      »Was sind Sie eigentlich für eine Person, Dozentin Gran?«

      Ein Gefühl bekam die Oberhand: die strumpfbekleideten Füße erschienen gigantisch. Vorsichtig schielte ich auf sie hinunter. Sie sahen wie immer aus, recht wohlgeformte Baumwollfüßlinge mit nur einer einzigen, fast unmerklichen Stopfstelle am linken kleinen Zeh. Zweifelsohne war die Frage nur rhetorisch gemeint, denn sie fuhr mit dem Sprechen fort, ohne auf Antwort zu warten.

      »Weder Choice noch ich haben schließlich Ihren gediegenen wissenschaftlichen Hintergrund, also frage ich mich, ob wir die Richtigen für diese Aufgabe sind. Haben Sie mit Ihren Kollegen gesprochen?«

      Ich