Carina Burman

Die zehnte Göttin des Gesangs


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      »Elisabet, allerdings meist Lissie. Nulleinser.«

      Nachdem wir das Jahr unserer Reifeprüfung ausgetauscht hatten und Thea berichtet hatte, daß sie eins der ersten Mädchen gewesen sei, die in Karlstad die Prüfung ablegten, erstaunte Choice uns beide mit dem Vorschlag, Brüderschaft zu trinken. Wir wehrten ab. Thea behauptete, es sei eine männliche Unsitte, nur um öfter Gelegenheit zum Trinken zu haben.

      »Das Duzen war eigentlich das Ursprüngliche, ehe Feudalherrschaft und Gewohnheiten aus dem Ausland das ganze Titulierungssystem über den Haufen warfen.« Ich spürte erneut den Wunsch nach Süßem.

      »Ich weiß! Wir gehen ins Café und mischen uns unter die Ladenfräuleins.«

      Die wunden Füße hatte ich fast vergessen, und obgleich sie sich unterwegs bemerkbar machten, konnte die Blätterteigtorte sie beinahe heilen. Sie schmeckte beileibe nicht übel.

      *

      Anfrage, publiziert in allen größeren Tageszeitungen, in Ord och Bild sowie der Personhistorisk Tidskrift im Frühjahr 1910

      Die Schwedische Literaturgesellschaft bereitet eine vollständige Edition der Briefe der Sophia Elisabeth Brenner (geb. Weber) vor. Die Herausgeber appellieren hiermit an alljeden, ihnen mögliche Auskünfte hinsichtlich der Brenner kundzutun: Briefe von und an die Brenner im Original oder in Abschrift, Vermerke über Schriften von und über die Brenner, Auskünfte über Personen, die mit der Brenner verkehrten, denen sie Gesänge gewidmet oder mit denen sie auf andere Weise Berührung hatte. Informationen sind zu richten an Doz. Gran, Upsala Universität, oder Redakteur Nordin, Stockholms-Posten.

      Zweiter Kreis

      31.5.1910

      Heute war Promotion in Uppsala. Die Carolina blieb geschlossen, und auf der akademischen Seite des Flusses bereitete man sich auf das große Ereignis des Jahres vor. Am Schloß und am Universitätsgebäude standen Soldaten der Upplands-Regimente, die Sonne glitzerte in den Epauletten der Leutnants, und die Kanonen wurden gerichtet zum Salutschießen. Vor der Universität versammelten sich bereits die Academici – frackgekleidete Herren jedweder Couleur: schlanke Studentenmarschälle mit blau-gelben Schärpen und frischgewaschenen Mützen; die Dozenten Bondeson, Huund und Wallin mit bestickten Kragen, die Hüte in der Hand; ergraute Professoren – und dann der Rektor, Professor Schlippenbach mit wallendem Bart und pfiffigen Äuglein hinter der Stahlbrille. Dort standen auch die Promovenden, noch ohne Hüte, ohne Lorbeerkränze, und pufften sich wie Kinder auf dem Schulhof.

      Mein schwarzes Festkleid aber war nirgendwo zu entdecken. Es lag ordentlich verpackt in einem Koffer, und der Koffer fuhr just in diesem Augenblick mit dem Güterzug in Kimstad ein, um kurz darauf von stämmigen Ostgöten in einen Gepäckwagen verladen zu werden, der nach Finspång sollte. Ich persönlich befand mich ein wenig weiter nordwärts, ungefähr in Höhe von Järna, und ruinierte meine Frisur, weil ich mit dem Kopf aus dem offenen Fenster hing und die Sonne genoß. Ruß wehte mir ins Gesicht und wurde zudem noch ungleich darauf verteilt, landete nicht als kleidsame Mouches. Heute begann der Sommer. Walpurgis war vorüber, ebenso der Frühlingsball, und mit der Promotion endete das Semester.

      Der Monat Mai in Uppsala verwundert mich stets aufs neue. Irgendwann um Walpurgis beginnt die Stadt zu blühen, die Bäume treiben Knospen, und das erste zarte Grün zeigt sich, und überall wimmelt es von Menschen, von Studenten und Studentinnen nebst vielerlei jungen Damen, alle in frischen, sanften Farben. Zugleich ist die Luft von einer Spannung erfüllt, die sie vibrieren läßt. Vielleicht rührt es daher, daß so viele junge Leute an ein und demselben Ort versammelt sind, an dem Vergnügen herrscht, aber auch Prüfungsangst. Vielleicht sind die Lüste im Frühling so stark, daß sie die Luft der Stadt zum Schwingen bringen ... ja, auf die gleiche Weise, wie die Liebe zu Gott einst die Sphären zum Kreisen brachte und ihre unfaßbare Harmonie schuf.

      Man darf nicht erwarten, daß ich von diesen jugendlichen Vibrationen unberührt bleibe. Vielleicht hätte meine Stellung mich altern und vorzeitig erstarren lassen sollen. Doch gibt es schließlich Gleichaltrige, die noch immer von der Frühlingsballerotik und allen Vergnügungen und Qualen der Jugend mitgerissen werden. In der Frühlingsballnacht stand ich mutterseelenallein in meinem Zimmer und hörte in der Nähe die Serenaden für irgendein Mädchen ertönen ... da überfiel mich die Erinnerung an die kindliche Schwärmerei für Leutnant Greger Färla und die weniger unschuldige Verbindung mit dem lieben Helge. Uppsalas helle Mainacht wühlte meine Sinne derart auf, daß ich tief im Herzen eine Verliebtheit spürte, so unbestimmt, daß nicht sicher war, ob sie einem Gegenstand galt oder ob mich nur die Jahreszeit verzauberte. Gern hätte ich selbst verborgen im Frühlingsdunkel gestanden und eine Serenade für einen schlummernden Adonis gesungen, und vielleicht hätte sich hinter der Gardine ein Licht gezeigt. Doch dort oben im zweiten Stock war ich allein mit meiner Frühlingssehnsucht. Da wünschte ich mich weit, weit weg, an einen Ort, an dem Uppsala mich nicht erreichen konnte.

      In Dampfwolken gehüllt, verließ der Schnellzug jetzt den Bahnhof von Järna, und der Kohlegeruch traf auf den Duft von Sörmlands tausend Fliederbüschen. Es war wie auf einem Schulausflug inmitten einer Schar glattgekämmter Mädchen in kurzen Matrosenkleidern ... und obgleich ich mich nicht erinnerte, worin die Attraktion eigentlich bestanden hatte, erfaßte mich doch dasselbe schwindelerregende Gefühl wie damals. Uppsala lag weit hinter mir, und das Abenteuer lockte in der Gegend von Finspång. Thea und Choice saßen gesittet auf ihren Plätzen und verstreuten ihre Utensilien über die Bänke des Zweiterklassecoupés.

      Für Thea und mich hatten jetzt die Sommerferien begonnen, und Choice war der Redaktion entkommen, nachdem sie hoch und heilig geschworen hatte, eine Artikelserie über Schwedens Herrensitze und Gutshöfe beizusteuern. Denn zu einigen von ihnen waren wir auf dem Weg. Unsere Annonce war in der Tagespresse erschienen, und in unserem gemeinsamen Herausgeberportefeuille – Arsenal genannt – lag ein dickes Bündel Briefe von Leuten verschiedenen Stands und Geschlechts, gemeinsam war ihnen der wohllöbliche Umstand, laut eigener Versicherung im Besitz von Brenner-Briefen zu sein. Wir hatten gründlich überlegt, die Zuschriften nach Glaubwürdigkeit sortiert und schließlich unter Theas Federführung einen Plan aufgestellt, wie die freie Sommerzeit zu verbringen sei.

      Der erste Besuch galt einem Freiherrn unweit von Finspång, dessen Ahnherrin eine enge Freundin der Brenner gewesen war. Er hatte uns mit einem äußerst zuvorkommenden Brief beehrt, der mit »Hochverehrte Dozentinnen!« begann und mit »Ihr ewig ergebener Fabian Gyllensporre. Gut Ekesta, den 29. März 1910« schloß. Auch der Brief selbst war nicht eben übel. In spinnwebfeiner Schrift auf Briefpapier mit Anschrift und Telephon des Gutes geschrieben, und um sicherzugehen obendrein mit allen Angaben versehen, die man gegebenenfalls benötigte: wo der Aufseher anzutreffen sei und welche Rufnummern für die Wohnungen des Freiherrn in Stockholm, Paris und Konstantinopel galten. Wir waren gebührend beeindruckt – zumindest war ich es, die Tochter eines Kürschners. Die Handschrift betreffend, aber auch den Stil, hatte der Brief seinen Ursprung im vorigen Jahrhundert, ich würde meinen, sogar in dessen erster Hälfte. Er begann die verschlungenen Zeilen mit »Anläßlich Ihrer hochverehrten Anfrage in der ›Nya Dagligt Allehanda‹ vom 20. dieses Monats«, gelangte allmählich zu »mein von sämtlichen Anverwandten stets gepriesener Ahnherr Gustaf Gyllensporre behagte, das bürgerliche Stockholmer Fräulein Beata Hochhauer zu seiner Gattin zu nehmen« und endete ganz plötzlich mit dem Hinweis, daß die Brenner und die Hochhauer offenbar intime Freundinnen gewesen waren, »daher sie lange Zeit Briefe wechselten, sowohl in deutscher als auch schwedischer Sprache, dero circa 40 Stück noch heutigen Tags auf unserem Dachboden verwahret sind«.

      Bei einer derartigen Briefsammlung war es kein Wunder, daß wir den Freiherrn von Ekesta zuoberst auf unserer Liste plaziert hatten, dicht gefolgt von dreizehn Briefen an den Professor und nachmaligen Erzbischof Erik Benzelius d. J. am Gymnasium in Linköping. Ekesta war obendrein wunderschön gelegen, unweit des Sees Glan, in einer Gegend, die man Östergötlands Hüttendistrikt nennt – darüber hatte das Nordische Familienbuch Bescheid erteilt. Ein Besuch an jenem Ort erschien als guter Anfang unseres Forschungssommers, und Choice hatte ihren Schwimmanzug eingepackt, in der Hoffnung, die glänzenden Wogen des Sees auch hautnah genießen zu können.

      Kurz