Hätte die Diagnose einer PSP früher gestellt werden können?
Bei Herrn S. wurde im 6. Krankheitsjahr die Diagnose einer »möglichen PSP-P« (O2 + A3,
Nach den UK Brain Bank-Kriterien und den MDS-Kriteriensprach bei Herrn S. das Nichtansprechen auf hohe Dosen von L-Dopa schon im 3. Krankheitsjahr gegen die Diagnose eines IPS und für das Vorliegen eines atypischen Parkinson-Syndroms. Aus dem gleichen Grund hätte nach den MDS-PSP-Kriterien schon im 3. Krankheitsjahr die Diagnose »suggestiv für PSP-P« gestellt werden können (CC1 + A3,
Daraus lässt sich schlussfolgern, dass eine detaillierte Untersuchung der Okulomotorik bei Patienten mit einem Parkinson-Syndrom in jedem Fall erfolgen sollte, um eine PSP nicht zu übersehen. Eine vertikale supranukleäre Blickparese ist definiert als eine Einschränkung der Amplitude der Willkür-Sakkaden in der vertikalen Ebene, die mit dem vestibulookulären Reflex (VOR) überwunden werden kann. Als Vorstufe der vertikalen supranukleären Blickparese gilt eine Verlangsamung der vertikalen Willkür-Sakkaden. Die Verlangsamung kann in der klinisch-neurologischen Untersuchung beurteilt werden. Dafür bittet der Untersucher den Patienten zwischen zwei Zielen hin- und herzuschauen, z. B. zwischen zwei Fingern des Untersuchers. Dabei sollte das Ziel jeweils mehr als 20 Grad von der neutralen Blickposition entfernt sein. Sind die sakkadischen Augenbewegungen so langsam, dass nicht nur anfängliche und endgültige Augenpositionen für den Untersucher sichtbar sind, sondern die Augenbewegungen selbst, dann wird dies als Verlangsamung der Sakkaden gewertet. Optional kann die Sakkadengeschwindigkeit auch mithilfe einer Infrarot- oder Video-Okulografie erfasst werden, welche eine objektivere und genauere Beurteilung erlauben.
Wie in der Einleitung kurz erwähnt, wurden 2015 die MDS-Kriterien (Postuma et al. 2015) als neue Kriterien für die klinische Diagnose des IPS vorgeschlagen. Im Wesentlichen unterscheiden sich die MDS-Kriterien von den UK Brain Bank-Kriterien durch den Wegfall der posturalen Instabilität als Kardinalsymptom sowie durch einige Warnsymptome und Ausschlusskriterien. Die MDS-Kriterien waren in einer Validierungsstudie 2018 den UK Brain Bank-Kriterien hinsichtlich ihrer Sensitivität und Spezifität überlegen (Postuma et al. 2018). Für den hier vorgestellten Fall hätte die Anwendung der MDS-Kriterien für die klinische Differenzialdiagnose keinen Vorteil gegenüber den UK Brain Bank-Kriterien gebracht.
Wie sicher ist die Diagnose einer PSP bei Herrn S.?
Diagnostischer Goldstandard der PSP ist die neuropathologische Untersuchung post mortem. Eine definitive klinische Diagnose kann nach dem heutigen Stand der Wissenschaft leider nicht gestellt werden. Die klinische Diagnose einer PSP sagt die pathologische Diagnose einer PSP mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten voraus, je nachdem, wie PSP-spezifisch die Symptome sind, mit denen sich der Patient präsentiert. Nach den MDS-PSP-Kriterien kann die klinische Diagnose mit den Sicherheitsgraden »wahrscheinlich«, »möglich«, und »suggestiv für« PSP gestellt werden. Die Kategorie »suggestiv für« besitzt die geringste Spezifität für die Diagnose einer PSP und wird aktuell noch nicht für die Anwendung in der klinischen Praxis empfohlen, sondern zunächst nur für wissenschaftliche Aspekte. Zuletzt erfüllt Herr S. die Diagnose einer »wahrscheinlichen« PSP. Basierend auf klinisch-pathologischen Untersuchungen sagt eine »wahrscheinliche« PSP zu über 90 % die pathologische Diagnose einer PSP vorher (Respondek et al. 2017).
Verlässliche Biomarker bzw. Bildgebungsmarker wären sehr wünschenswert, sind aber für eine zuverlässige Differenzialdiagnose noch nicht etabliert.
Bildgebende Verfahren können bei der Abgrenzung eines atypischen Parkinson-Syndroms vom IPS helfen. Für die klinische Routine ist die konventionelle Magnetresonanztomografie (MRT) etabliert, mit der regionale Atrophiemuster identifiziert werden können. Patienten mit einem IPS zeigen in der Routine-MRT in der Regel einen altersgerechten Normalbefund. Bei Patienten mit einer PSP-RS zeigt sich dagegen häufig ein spezifisches Atrophiemuster mit prominenter Mittelhirnatrophie (Whitwell et al. 2017), wie es sechs Jahre nach Krankheitsbeginn auch bei Herrn S. zu finden war (
Bei Patienten mit PSP-P und mit anderen nicht-PSP-RS Prädominanztypen wurden bildgebende Verfahren zur Abgrenzung vom IPS und anderen atypischen Parkinson-Syndromen bislang nicht ausreichend untersucht (Whitwell et al. 2017).
Nach dem jetzigen Kenntnisstand können bildgebende Untersuchung bei der Unterscheidung zwischen idiopathischem Parkinson-Syndrom (IPS) und atypischen Parkinson-Syndromen (APS) die klinisch-neurologische Untersuchung nicht ersetzen, sondern sie unterstützen lediglich die klinische Verdachtsdiagnose.
Welche Konsequenzen hat die Diagnose einer PSP für Herrn S.?
In Anbetracht der sehr begrenzten therapeutischen Möglichkeiten ist die Frage nach der Konsequenz der Diagnose für den Patienten nicht einfach zu beantworten. Therapien, die den Krankheitsprozess aufhalten oder verlangsamen können, existieren bislang weder für das IPS noch für die PSP.
Für die symptomatische Therapie ist die richtige Diagnose nicht so sehr entscheidend, da man eine Therapie mit L-Dopa, die bei Herrn S. unter der Verdachtsdiagnose eines IPS begonnen worden war, fortgeführt hätte, wenn sie zu einer Symptomlinderung geführt hätte.
Nun erfüllte Herr S. im Frühjahr 2017 die Einschlusskriterien für die gerade laufenden Phase-II Therapiestudie für Patienten mit PSP, in der über ein Jahr in vierwöchentlichen Abständen Placebo-kontrolliert und doppelblind Antikörper gegen das intrazerebrale, pathologisch aggregierte Tau-Protein intravenös verabreicht werden. So erfolgte nach Einwilligung des Patienten der Studieneinschluss, der ohne die PSP-Diagnose nicht möglich gewesen wäre.
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