Ursula Hochuli Freund

Kooperative Prozessgestaltung in der Sozialen Arbeit


Скачать книгу

der Mikroebene der alltäglichen Intervention stellt sich diese Allzuständigkeit als Schwierigkeit dar, die eigene Zuständigkeit einzugrenzen.

      Ein Beispiel: In der Beratung einer jungen Frau, die Sozialhilfe bezieht, lautet der organisationsinterne Auftrag, die Erwerbsintegration zu thematisieren; dabei geht es hauptsächlich um die Themen Finanzbedarf der Familie, Arbeitssuche bzw. Ausbildung sowie um die extrafamiliale Betreuung der beiden kleinen Kinder und die Schulprobleme des ältesten Sohnes. Sind nun die ehelichen Schwierigkeiten, welche die Frau neu auch anspricht, ebenfalls Thema der sozialarbeiterischen Unterstützung? Ab welchem Intensitätsgrad sollte die Klientin diesbezüglich an eine andere Beratungsstelle verwiesen werden?

      In Bezug auf Zuständigkeit und Spezialisierung unterscheidet sich die Soziale Arbeit also deutlich von anderen Professionen. Anders als beispielsweise eine Ärztin habe der Sozialpädagoge nur einen schwach ausgeprägten thematischen Filter, mit denen er Probleme aussteuern könne, konstatiert Galuske (2013:41), und er fährt fort: »Der Begriff Allzuständigkeit impliziert nicht, dass alles ein sozialpädagogisches Problem ist, sondern dass es eine enorme und diffuse Bandbreite von Problemen gibt, die prinzipiell zum Gegenstand Sozialer Arbeit werden können. Was faktisch Gegenstand der Bearbeitung wird, konkretisiert sich im situativen und institutionellen Kontext der Fallbearbeitung und ist nicht zuletzt ein Produkt der Aushandlung zwischen SozialpädagogInnen und KlientInnen.« (ebd.:42, Hervorh. Original). Was in einem Fall ›der Fall ist‹, muss also immer zunächst eingeschätzt und diskursiv ausgehandelt werden.

      Müller verweist auf die Gefahr dieser diffusen Allzuständigkeit. Weil Soziale Arbeit den Anspruch verfolgt, sich um die Alltagsprobleme des ›ganzen Menschen‹ in seiner jeweiligen Lebenssituation zu kümmern, gerate sie »in die Gefahr eines totalitären, weil prinzipiell grenzenlosen Zugriffs auf den Alltag ihrer Klienten zu kommen« (1991:112). Das ganzheitliche und alltagsnahe Handlungsverständnis der Sozialen Arbeit habe für die Klientenseite notwendigerweise ein Doppelgesicht: Es ermögliche zunächst, dass die Komplexität der belastenden Lebenslagen überhaupt sichtbar werden kann. Die Kehrseite sei, dass die Kontrollmöglichkeit des Klienten, welche Leistungen er konkret erwarten kann und welche nicht, ebenfalls diffus wird (vgl. ebd.:113). Das Aushandeln der Grenze der Intervention mit der Klientin ist für Müller deshalb ein wesentliches Strukturmerkmal der Intervention selbst (vgl. ebd.:114).

      Fokus der Problembearbeitung

      Wir haben festgestellt, dass die grundsätzlich umfassende Zuständigkeit für alle Aspekte der komplexen Problemlagen von Klientinnen ein Kennzeichen Sozialer Arbeit ist. Der Problembearbeitungsfokus ist dabei immer ein doppelter oder sogar dreifacher (image Kap. 2.2.2): Es geht um Unterstützung der Klienten zur Veränderung ihrer Person und Lebensweise einerseits, um Unterstützung zur Veränderung der Lebensbedingungen des Klienten andererseits. Zu diesem doppelten Fokus der fallbezogenen Problemstellung kommt außerdem die fallunabhängige und fallübergreifende Optimierung der sozialen Infrastruktur. Dieser doppelte (bzw. trifokale) Fokus hinsichtlich Aufgabenstellung impliziert, dass Professionelle der Sozialen Arbeit in der Lage sein müssen, grundsätzlich mit Situationen von Ungewissheit (Kontingenz) umgehen zu können: Ungewissheit, was der Fall ist und wo der Unterstützungsfokus liegen wird, Ungewissheit auch, was die eigene Zuständigkeit betrifft. Die »Bewältigung von Ungewissheit« gilt deshalb als Kern professioneller Handlungskompetenz (Olk 1986:151 zit. in Müller 2012:965; vgl. auch Gildemeister 1993:64; Dewe/Otto 2011:1148). Zugleich bleibt die Kompetenzdomäne der Sozialen Arbeit systematisch unscharf (vgl. Gildemeister 1992:211).

      Geringe gesellschaftliche Anerkennung

      Eine weitere Schwierigkeit in Zusammenhang mit der diffusen Allzuständigkeit ist das teilweise unklare gesellschaftliche Mandat (image Kap. 3.1.1) und die tendenziell geringe gesellschaftliche Anerkennung. So führt beispielsweise Thiersch aus, dass sich die Soziale Arbeit entwickelt habe aus der Institutionalisierung und Professionalisierung von Aufgaben, die traditionell in Familie und Nachbarschaft und in ehrenamtlichen Tätigkeiten in Vereinen oder der Gemeinde wahrgenommen wurden (image Kap. 2.2.2). Ob man wirklich institutionellen und professionellen Aufwand brauche für diese Aufgaben, die früher doch auch anders und unaufwändiger bewältigt worden seien, stehe immer wieder in Frage. Diese geringe Akzeptanz führe zu Selbstzweifel der Sozialen Arbeit (vgl. Thiersch 2002:210). Auch Galuske verweist auf die Schwierigkeit der Sozialen Arbeit, Kompetenzansprüche durchzusetzen, die solche des täglichen Lebens sind. Die Probleme, mit denen es die Soziale Arbeit zu tun habe, seien häufig so beschaffen, dass es insbesondere für Laien schwer zu durchschauen ist, warum es zu ihrer Lösung eine spezifische Kompetenz braucht (vgl. Galuske 2013:44 ff., Galuske/Müller 2012:591). Aufgrund der diffusen Allzuständigkeit sind also auch Mandat und Lizenz der Sozialen Arbeit nur teilweise klar.

      Geringe Spezialisierung, fehlende Monopolisierung, eine systematisch unklare und nicht eingrenzbare Zuständigkeit sowie die Bewältigung von Ungewissheit sind konstitutiv für die Soziale Arbeit. Damit ist eine erste Strukturbedingung professionellen Handelns benannt. Diese gilt es bei den Ausführungen zu kooperativer Prozessgestaltung in Teil II zu berücksichtigen. So folgt aus dem Strukturmerkmal diffuser Allzuständigkeit u. a., dass in jedem Fall die Thematik zunächst eingeschätzt und ausgehandelt, dass die Frage der eigenen Zuständigkeit geklärt und die Grenzen der Intervention gemeinsam mit einer Klientin oder einem Klientensystem ausgehandelt werden muss, und dass die professionelle Unterstützung eines Klienten oft in Zusammenarbeit mit anderen Fachkräften realisiert wird.

      3.2.2 Doppelte Loyalitätsverpflichtung

      Eine der Klassikerinnen der Sozialen Arbeit, Gertrud Bäumer, hat den Professionalitätsanspruch Sozialer Arbeit aus der Entwicklung von Institutionen abgeleitet (image Kap. 3.1.2) und gefolgert, dass die Institutionalisierung der Problembearbeitung – und damit der Organisationskontext – wichtige Aspekte eines Professionalitätsmodells Sozialer Arbeit sind. Diese institutionelle Einbindung beinhaltet zugleich spezifische Probleme.

      Widersprüchliche Handlungslogiken

      Soziale Arbeit ist gekennzeichnet durch eine starke Abhängigkeit von staatlicher Steuerung und direkter Einbindung in bürokratische Organisationen. Sie agiert im Rahmen eines weit verzweigten, komplizierten Sozialrechts (image Kap. 4.2), ist abhängig von staatlicher Finanzierung und zumeist eingebunden in bürokratische Strukturen mit bestimmten geregelten Verfahrensabläufen (vgl. Gildemeister 1992:210; Galuske 2013:51). Die Einbettung des professionellen Handelns in bürokratische Organisationen wird in der Literatur kritisch bewertet, und sie hat weitreichende Konsequenzen. Sozialarbeiterinnen agieren einerseits im administrativ-rechtspflegerischen Bereich sozialer Kontrolle bzw. sozialpolitischer Interventionen und andererseits – zumeist gleichzeitig – im Bereich der Beratung, Bildung und Begleitung. Nun folgt die professionelle Beratung und Begleitung allerdings einer anderen Logik und Rationalität als bürokratisches Handeln: Professionelles Handeln im Bereich der Beratung und Begleitung orientiert sich an der individuellen Problemlage und Lebenswelt und respektiert die Autonomie und Eigenwilligkeit der Lebenspraxis eines Klienten, und sie braucht Freiraum für flexible, individuelle Lösungen. Im Bereich der administrativ-rechtspflegerischen Praxis hingegen geht es um Norm sicherndes bürokratisches Rechtshandeln, das von einem hohen Grad an Standardisierung und Normierung gekennzeichnet ist und ›Gleichbehandlung‹ zu gewährleisten