Artur Brausewetter

Der Ruf der Heimat


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gleicht.

      Sie aber kennt ihre Leute und weiss ganz genau, wie weit ihre Macht reicht und dass sie einem so sachlichen Manne wie Theobald Kernreif, mit dem zu plaudern nicht gut möglich und zu schäkern ein wenig lockendes Vergnügen ist, gegenüber versagt. Deshalb ist sie ihm gegenüber nichts als eifrig beflissene, freilich immer etwas schnippisch eingestellte Dienstfertigkeit, lässt andere Gespräche ruhen, lässt selbst den jungen Chef, der ihr gelegentlich auch einmal etwas Nettes sagt oder tut, getrost am Apparat warten, wenn des Prokuristen gebietender Ruf ertönt.

      Dann wickelt Theobald Kernreif sein wohldurchdachtes Morgenprogramm ab, lässt sich mit den Maklern verbinden und den Versicherungsgesellschaften, gibt Aufträge für Lieferungen von Kiefernschwellen, lässt sich einen Kostenanschlag über Schnitt- oder hochwertige Exporthölzer durchsagen. Und sind es auch nur unverbindliche Gespräche, denn die endgültigen Abmachungen und Bestimmungen hat sich der Chef vorbehalten, er hat doch alles wohlvorbereitet, wie es der Chef wünscht, hat vor allem den kleinen Racker von der Zentrale, dem er nachher für seine Mussestunden noch einige Befrachtungstabellen zur Berechnung herüberschicken wird, gehörig in Zug gebracht, damit ihm die Lust zu seinen Privatgesprächen vergehen soll.

      Nachdem also auch dies zu seiner Befriedigung erledigt ist, tritt Theobald Kernreif mit gewichtig gemessenem Schritt und schnüffelnd einherwanderndem Späherblick seinen Rundgang durch die verschiedenen Abteilungen an, begrüsst zuerst kollegialisch Herrn Max Laudien, der als Einkäufer einen bedeutsamen Posten im Kontor bekleidet, begibt sich dann in die ihm am meisten am Herzen liegende Abteilung für Polen und Pommerellen, wechselt einige Worte mit Rolf Siebenfrank, ihrem Leiter, lässt sich dabei aber nicht genügen, sondern überzeugt sich an den einzelnen Tischen und Pulten persönlich, ob alles in der von ihm für gut befundenen und seinen Anordnungen gemässen Weise erledigt wird, die Konnossemente und die Stapeltabellen mit der ihnen gebührenden Sorgfältigkeit aufgestellt und genau für die Stunde ihres Ablieferungstermins fertig werden.

      „Haben Sie schon das Konnossement von Rebitzki und Co.?“ wendet er sich an die polnische Korrespondentin. „Es sollte doch bis heute morgen zugestellt werden.“

      „Jawohl. Der Kapitän der ‚Hero‘ wollte es mitnehmen. Die ‚Hero‘ aber ist, wie mir der Hafenausschuss auf meinen telephonischen Anruf eben mitteilt, noch nicht eingelaufen.“

      „Der alte Kasten kommt immer ein paar Tage später. Wer weiss, ob er überhaupt noch einmal ankommen wird. Jedenfalls müssen wir —“

      „Eine stärkere Transportversicherung nehmen als bei der letzten Ladung der Fichtenschwellen nach Hull. Ich werde es veranlassen, auch gleich das Inkasso für die Bank besorgen. Die Kopie schicke ich dann nach London an Lawdol, auch nach Greenwich. Das Original behalte ich zu den Akten.“

      „Ja, was soll das denn heissen, Fräulein Kochalski? Weshalb nehmen Sie mir in dieser Ihnen wohl nicht ganz zukommenden Weise die Worte vom Munde?“

      „Damit Sie mir nicht dasselbe genau zu derselben Stunde, genau mit denselben Worten heute zum zehnten Male sagen. Wenn Sie glauben, dass ich von gestern bin und nicht die einfachsten, sich jeden Tag wiederholenden Dinge von selber abwickeln kann, dann irren Sie sich, Herr Kernreif.“

      Ganz verdutzt sieht er sie an, weiss nicht, was für ein Geist in das sonst immer gefügige Mädchen gefahren ist. Aber die Geduld der rassigen Polin ist erschöpft, und all die Teufelchen sind losgelassen, die in ihrem feurigen Blut ihr Spiel treiben und nun über den erschreckten Prokuristen herfallen.

      Er will auffahren, will mit einer gehörigen Bestrafung, mit Dienstentlassung drohen, da fällt ihm ein, dass sich die hübsche Helenka der höchsten Gunst von Söna Sentland erfreut, dass diese sie in seiner Gegenwart dem Chef gegenüber als die tüchtigste Kraft im ganzen Kontor bezeichnet und dass das unverschämte Ding das natürlich sehr gut weiss.

      Mit den männlichen Angestellten kommt er schon aus. Aber diese Mädel, die alle Söna Sentland, eine nach der anderen und eine immer jünger als die andere, hier eingestellt hat und die ohne Ausnahme für sie durchs Feuer gehen, während er jeden Tag aufs neue seine Plage mit ihnen hat! Unerhört, dass in einer Zeit wie dieser, die den Frauen die einzige ihrer Art und Anlage entsprechende Stelle im Hause anweist, ausgerechnet bei Vandekamp und Co. noch soviel weibliche Kräfte ihr unheilvolles Wesen treiben. Aber Söna Sentland meint, dass für diese Art von Arbeiten junge Mädchen eben geschickter und gewissenhafter sind. Und was sie meint, ist bei Vandekamp und Co. Evangelium.

      Er aber denkt gar nicht daran, sich derartiges von einem naseweisen Ding wie dieser Polin bieten zu lassen. Er wird ihr einen Teil ihrer Obliegenheiten nehmen und auf Mable Country übertragen. Die ist aus dem gefährlichen Alter heraus und hat erst vor wenigen Tagen unter der Anteilnahme des ganzen Kontors ihr 25jähriges Jubiläum als englische Korrespondentin gefeiert.

      Er würdigt die überhebliche Helenka keines Blickes mehr, will sich in die andere Abteilung zu Mable Country begeben — da singt es drüben vom Rathausturm her, dessen Glockenspiel jede gerade und ungerade Stunde mit seinen Chorälen wechselt: „So nimm denn meine Hände.“

      Und nachdem der letzte Ton verklungen, hallen neun eherne Schläge durch die nur von dem Klappern der Maschinen und dem Läuten des Fernrufers unterbrochene Stille des Kontors.

      Eine Minute später betritt Friedrich Vandekamp die Räume, sendet seinen kurzgemessenen Gruss zu den Tischen und Pulten hinüber, an denen der Weg ihn vorbeiführt, und begibt sich in sein Privatkontor.

      Sofort nimmt Theobald Kernreif die bereits fertig gepackte Mappe, folgt dem Chef, ihm den Geschäftsbericht zu erstatten.

      Der aber schneidet ihm das erste Wort ab:

      „Haben Sie Erkundigungen über Philipp Brackmann eingezogen?“

      „Jawohl, Herr Vandekamp. Ein Konkurs ist bisher nicht angemeldet. Man meint auch, dass es zu ihm nicht kommen wird, sondern nur zu einer Geschäftsauflösung, da die notwendigsten Verpflichtungen —“

      „Und er selber?“

      Theobald Kernreif nimmt jene bedenklich bedauernde Haltung an, mit der er sich gegen jede Art geschäftlicher oder sonstiger Unannehmlichkeiten zur Wehr zu setzen sucht.

      „Es soll nicht gut stehen, Herr Vandekamp, gar nicht gut. Wie ich höre — aber, wie gesagt, ich habe es nur gehört — soll man ihn gestern abend aufgegeben haben.“

      Über die eisernen Züge gleitet ein Zucken. Die Hand, die nach dem Hörer greift, sinkt sogleich wieder.

      „Verbinden Sie mich mit dem Städtischen Krankenhaus. Innere Abteilung. Ich wünsche den leitenden Arzt persönlich ...“

      Es dauert eine Weile, bis die Verbindung hergestellt und Professor Oppermann, der um diese Zeit seine Besuche macht, zur Verfügung ist.

      Ein kurzes Gespräch. Dann legt Friedrich Vandekamp den Hörer auf die Gabel.

      „Sie sind schlecht unterrichtet. Herr Brackmann hat gestern einen aus der Art seines Leidens leicht erklärlichen Schwächeanfall gehabt, von dem er sich bereits erholt hat. Von einer Verschlechterung, gar einem Aufgegebensein, ist keine Rede. Ich danke Ihnen für jetzt und bitte, mir Fräulein Sentland zu schicken. Für die nächsten zwei Stunden wird kein Besuch, auch niemand aus dem Kontor, zu mir gelassen. Sie haben dafür zu sorgen.“

      Timm tritt in das Zimmer. Mit der Verspätung, die den Vater trotz aller Vorsätze auch heute wieder verstimmt.

      Kurz und kühl ist die Begrüssung. Timm ist zerstreut und einsilbig, hat nicht einmal die übliche Entschuldigung bereit.

      Aber sowie er mit dem Vater allein ist, wendet er sich, anscheinend gleichgültig und wenig beteiligt, zu ihm hinüber:

      „Wie ist es eigentlich mit der Brackmannschen Sache geworden? Du weisst ja, dass ich mich ungern in deine Massnahmen mische.“

      „Und diesmal?“

      „Nun ... ob es ganz richtig war, den armen Kerl, der vielleicht etwas unüberlegt und voreilig, aber immerhin doch im festen Glauben an dich und an deine Zusage gehandelt hat, so erbarmungslos abzufertigen?“