er immer einige von seinen Zivilsachen zurück, die er hier für seinen Sport braucht. Sie finden sie drüben in meinem Fremdenzimmer in dem kleinen Eckschrank.
Eine Viertelstunde später sieht man sich an dem mit saftigem Schinken und anderen ländlichen Erzeugnissen lecker zugerichteten Kaffeetisch wieder, der unter ihren flinken Händen wie ein Tischleindeckdich aus der Versenkung hervorgezaubert ist.
Locki lässt auf sich warten. Sie hat solange mit ihrem Umkleiden und der sorgfältigen Bearbeitung von Gesicht und Haar zu tun, die beide durch das unfreiwillige Bad, vor allem aber durch die für sie ganz ungewohnte seelische Erschütterung und das anhaltende Weinen in eine recht krause und verwirrte Verfassung geraten sind.
Als sie dann aber zu den beiden an den Kaffeetisch tritt, geht ein Leuchten von ihren Augen aus. Sie hat aus dem reich ausgestatteten Schrank nach sorgfältiger Auswahl ein schmuckes weisses Kleid von leichter Wolle gewählt, und, obwohl ihre Gastgeberin grösser, auch etwas voller und abgerundeter in den Hüften ist, steht es ihrem bildungsfähigen und jeder Gewandung mit Leichtigkeit sich anschmiegenden Körper so ausgezeichnet, wie ihr weder das spitzen- und perlenübersäte Staatskleid einer Königin noch das fescheste aller Pagenröckchen auf der Bühne je gestanden hat.
So gross auch ihr Hunger nach all den überstandenen Strapazen geworden ist und so herrlich der auf der Zunge zergehende Schinken ihr mundet, wieder und wieder hebt sich das lebhafte Auge von Teller und Tasse, mal zu Timm, der ihrem fröhlichen Geplapper wenig zugänglich erscheint, sich überhaupt nur mit knapp gemessenem Wort an der Unterhaltung beteiligt, mal zu ihrer jungen Wirtin. Dann stellt sie Vergleiche an, bei denen sie sicher nicht den Kürzeren zieht.
Timm gefällt ihr, und sie findet, dass die dunkelgrüne mit Hornknöpfen versehene Joppe, die er dem forstmeisterlichen Aufbewahrungsschranke nach Überwindung einiger peinlicher Bedenken entnommen, die Vorzüge seiner sehnig gestrafften Erscheinung vorteilhafter noch als Abendjacke oder Frack hervorhebt.
Vielleicht ahnt sie nicht, dass auch er Vergleiche anstellt, unwillkürlich und ohne die leiseste Absichtlichkeit.
Aber dass sein wägender Blick von der eben noch so heiss begehrten Locki dann doch wieder zu der anderen hinübergleitet, die mit feiner, immer ein wenig gemessener Liebenswürdigkeit die Wirtin macht, das kann er bei allem männlichen Willen nicht hindern.
Alles an ihr ist schlicht und ungekünstelt, alles von einer wundervollen Frische und Gesundheit: der aus dem lichtblauen Sommerkleid emporblühende Körper mit seinem Ebenmass und seiner in jeder Bewegung spielenden Anmut, der behende, leicht sich wiegende Gang, mit dem, als sie vorhin über den grünenden Wiesenhang wanderten, die kleine ermüdete Locki, die doch sonst tapfer und geschmeidig einherzugehen vermochte, fast Mühe hatte Schritt zu halten, das wellige dunkelblonde Haar über der freien, klugen Stirn und dem frischen Gesicht, das keine Kunstmittel, sondern nur Sonne und Luft gefärbt hatten.
Sicher würde dies Gesicht in seiner herben Natürlichkeit gegen Puderquaste und Schminkdose rebellisch sich auflehnen — er muss lächeln, als solche Gedanken ungerufen in ihm aufsteigen.
Nun hört er sie sprechen, nachdem sie bis dahin schweigend gesessen und Lockis temperamentvollsten Theatergeschichten in ihrer stillernsten Art und doch mit einem merkbaren Vergnügen zugehört hat.
Von ihrem Beruf erzählt sie, den sie, einmal gezwungen, weil die veränderte Lage es gebot, ergriffen, jetzt aber so liebgewonnen hat, dass sie ihn mit keinem anderen vertauschen möchte, von den Kindern, die sie zu unterrichten hat, von denen bei aller scheinbaren Gleichförmigkeit jedes eine kleine Welt für sich bedeutet und von ihr auch als solche genommen wird, von den freien Nachmittagen und den herrlichen Sonntagen, wo sie im Winter in ihrer behaglichen Stube sitzt und gute Bücher liest oder, wenn der Umfluter zugefroren ist, auf dem Schlittschuh sich tummelt. Der Sommer aber gehört dem Boot oder dem Bruder, den sie zu seinen Fischzügen oder an seine Angelstelle rudert. Alle Ferien verlebt sie bei ihm, denn zum Reisen, wie in früheren Zeiten, reicht es nicht mehr, zumal sie noch andere Verpflichtungen hat. Schadet auch nichts. Denn etwas Schöneres gibt es gar nicht als sein schmuckes Forsthaus, an das von zwei Seiten der Wald stösst, während an den beiden anderen seine Felder und Äcker liegen, die er selbst bewirtschaftet. Und keine bessere Abwechslung gegen die von Wassern durchflutete Niederung, die mit ihren immer wiederkehrenden Weidenbäumen und ihrer durch keine Wellung oder Höhe unterbrochene Gleichmässigkeit, besonders im Herbst, etwas recht Eintöniges und Melancholisches hat.
Es ist ein seltsames Gemisch in ihrer Art zu erzählen. Manchmal kommen die Worte auf frohen Schwingen von ihren Lippen; besonders wenn sie von ihren Kindern spricht, tut sie es mit einem entzückenden Humor.
Dann aber ist wieder etwas Nachdenkliches, etwas Selbsterfahrenes, geradezu Trauriges in ihren Worten, als wäre sie trotz ihrer Jugend wissend geworden über die Sorge und das Leid des Lebens.
Timm hört ihr mit einer Aufmerksamkeit zu, die er sonst fremden Erzählungen nicht entgegenzubringen pflegt. Es ist ein so neuer, ungewohnter Ton in allem, was sie sagt, in ihrer ganzen Art.
Locki hat sich an den kleinen selbstgebackenen Mürbkuchen und den eingemachten Früchten, die es als Nachtisch gibt, genug getan und beginnt ihr lustiges Geplänkel mit frisch gewonnener Kraft.
Aber dieses Mal kommt sie nicht weit.
Ein hurtig trappelnder Schritt wird von draussen hörbar, fliegt durch den kleinen Vorgarten. Am geöffneten Fenster erscheint ein kleines Mädel, äugt mit hochrotem Gesicht, auf das ein paar lose Haarsträhnen wirr herunterhängen, in die Stube.
„Fräulein! Fräulein!“ jubelt eine in froher Erregung hell kreischende Stimme. „Wir haben’s! Es is jefunde! Vater hat’s ans Land jezoge — — das Boot!“
„Nun? Habe ich Ihnen zuviel gesagt?“ ruft die junge Lehrerin zu Timm hinüber, springt auf, nimmt das junge Mädel bei der Hand, führt es an den Tisch.
„Du sollst deinen Finderlohn haben, klein Tilling!“
Sie lässt das freudig verdutzte Mädchen neben sich Platz nehmen, nötigt ihm, als es vor Verlegenheit nicht zuzugreifen wagt, mit freundlicher Bestimmtheit ein Stück Kuchen auf, spricht mit ihm in einer auf das kindliche Gemüt eingehenden Art, dass es Scheu und Verlegenheit vergisst.
Timm aber steht dabei, und wieder ist ihm, als täte sich ihm in diesem Vorgang eine Welt auf, in der er nie zu Hause gewesen ist, selbst in seinen Kinderjahren nicht.
Zugleich aber fasst ihn eine wachsende Ungeduld: er möchte sein Boot wiederhaben!
„Es ist Zeit, dass wir uns auf den Heimweg machen“, sagt er zu Locki, die sich nun auch zu dem Kinde begeben hat, jedoch nichts Rechtes mit ihm anzufangen weiss.
„Aber doch nicht mit dem Boote?“
„Nein, dazu ist uns wohl die Lust vergangen, selbst wenn es heil und unversehrt geblieben wäre. Ausserdem würden wir es vor Mitternacht nicht schaffen. Ich werde unseren Wagen kommen lassen. Ist hier in der Nähe ein Fernsprecher, den ich für wenige Minuten benutzen könnte?“ wendet er sich an seine junge Wirtin.
„Gewiss. In der Postablage drüben im Dorf. Wenn es Ihnen recht ist, führe ich Sie hin.“
Durch einen weissgekalkten Flur treten sie in eine niedrig gebälkte Stube, in der ein wurmstichiger Tisch mit zwei grossen, weit ausgezogenen Schubladen, ein auf seinen altersschwachen Beinen nicht mehr ganz sicherer Stuhl und ein Fernsprecher älterer Gattung die einzigen Merkmale ihres amtlichen Charakters sind.
„Darf ich Sie verbinden?“ fragt sie. „Ihre Nummer, wenn ich bitten darf.“
„Mein Vater wird noch im Kontor sein“, erwidert er. „Also bitte: Danzig Nr. zweiundvierzigtausendsiebenhundert-achtundfünfzig Vandekamp und Co.“
„Und Sie sind der Sohn — — —!“
Sie hat den Hörer sinken lassen, sieht ihn an. Nichts als ein schmerzhaft verhaltenes Zucken um den Mund, das ihm wehe tut.
Aber schon hat sie sich in der Gewalt, wiederholt mit langsamer Deutlichkeit die Worte, die er ihr vorspricht.
„Ihr