Artur Brausewetter

Der Ruf der Heimat


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lässt sich ein ausgelassenes Mädel vernehmen.

      Und nun bilden sie einen Kreis um die beiden, zeigen sie einer dem anderen und den immer neu Hinzueilenden, lachen und spotten sie mitleidlos aus vollem Halse aus, dass der Brückenkopf vor ihrem Kreischen und Johlen erzittert, die erschreckte Locki aus ihrem Schluchzen emporfährt, entsetzt und empört auf die kleinen frechen Eindringlinge blickt, gegen die der grosse Timm, der, Eindruck zu machen, allmählich aufgegeben, hilf- und ratlos dasteht.

      Da vernimmt er einen rasch hinzutretenden Schritt hinter sich und gleich darauf eine Stimme, die die ausgelassene Schar mit tadelndem Wort zurechtweist, und zwar mit einem solchen Erfolg, dass die ganze Rotte ertappt und erschreckt auseinanderstiebt und an die Stelle lärmender Ausgelassenheit beklommenes Schweigen eintritt.

      „Die Herrschaften haben Unglück gehabt, sind mit ihrem Boot bei der heftigen Strömung gekentert und müssen sich nun noch die Belästigungen dieser ungezogenen Gören gefallen lassen, für die ich sehr um Entschuldigung bitte.“

      Eine wohlklingende, etwas tiefgefärbte Stimme sagt es, und vor ihnen steht eine Dame im einfachen lichten Sommerkleid mit grüngebändertem Strohhut auf dem vollen dunkelblonden Haar, die für eine Lehrerin sehr jung, durch die Bestimmtheit ihres Wesens und ihrer Worte aber wohl angetan erscheint, Achtung und Respekt einzuflössen.

      Dabei liegt gar nichts Strenges, gar nichts Pedantisches weder in ihrer mädchenhaften Erscheinung noch in dem anziehenden klugen Gesicht, und durch die tiefblauen Augen, die eben noch so ernst und gemessen dreinschauen konnten, sprüht beim Anblick der beiden in ihrer wunderlichen Gewandung ein unwiderstehlich sich emporringender Schalk.

      „Freilich ... so ganz böse darf man den Kindern wohl nicht sein. Ein bisschen phantastisch sehen Sie schon aus.“

      Locki macht diese Begegnung sichtbares Vergnügen. Timm aber ist die ganze Angelegenheit im höchsten Grade peinlich, und nichts wünscht er so sehr, als möglichst bald von ihr befreit zu sein.

      Die junge Lehrerin hat ihre Marschkolonne auf der grossen Strasse wiederhergestellt, die Führung einem der älteren Mädchen übergeben und kehrt zu den beiden zurück.

      „Ich darf Sie jetzt wohl bitten, mit mir in meine Wohnung zu kommen. Sie ist nur wenige Minuten von hier entfernt. Wir können die Strasse vermeiden und einen Feldweg einschlagen. Wenn wir erst dort sind, wird sich alles finden.“

      Timm zeigt sich wenig geneigt, sieht auf Locki, weiss nicht recht — —

      „Wenn Sie meinen“ — er stockt: wie soll er sie nennen? „meine Freundin“, will er sagen. Aber nein, das wäre hier nicht angebracht. Komisch! Dieses fremde junge Mädchen flösst ihm einen Respekt ein, den er sonst kaum empfunden hat. Aber auch „Locki“ bekommt er nicht über die Zunge, und ihr eigentlicher Name ist ihm in der Verwirrung des Augenblickes und der Ereignisse völlig abhanden gekommen.

      „Wenn Sie die Freundlichkeit haben wollen“, sagt er schliesslich, „die junge Dame mit in Ihr Haus zu nehmen und ihr ein wenig behilflich zu sein, so wäre ich Ihnen dankbar. Mir aber gestatten Sie, Ihren gütigen Vorschlag abzulehnen. Ich möchte vor allem mein Boot suchen.“

      „Über Ihr Boot brauchen Sie sich keine Sorge zu machen. Es wird bald geborgen sein. Da drüben, schon bei Conradswalde, wird die Strömung geringer. Da ist auch mein Boot, als mir ein ähnliches, wenn auch nicht ganz so arges Missgeschick geschah, eine Stunde später ans Ufer getrieben.“

      „Sie haben auch ein Boot?“ fragt er, immer noch zerstreut, aber mit erwachter Anteilnahme.

      „Und ob ich eins habe! Es ist mein bester, mein einziger Gefährte in dieser Einsamkeit. Wenn wir nicht Wandertage haben, die jetzt viel häufiger anberaumt werden, als früher, liege ich den ganzen Nachmittag, ja, oft bis in den späten Abend, auf dem Wasser. Es fährt sich wundervoll auf diesem Umfluter. In einer Stunde, wenn ich mich ein bisschen beeile, bin ich auf der Weichsel, und dann liegt die ganze Welt vor einem.“

      „Und immer allein?“

      In demselben Augenblick ärgert er sich, dass er eine so törichte Frage gestellt, noch dazu an eine ihm völlig Fremde.

      „Mit wem sollte ich wohl fahren? Und ausserdem — es gibt doch gar nichts Schöneres, als auf solch einem Faltboot allein und durch niemand gestört, zu paddeln, wohin es einem gefällt. Aber nun, bitte, schlagen Sie sich Ihre Bedenken aus dem Kopf. Ich habe bereits ein paar aufgeweckten Mädels, deren Eltern in Conradswalde wohnen, Auftrag gegeben, nach Ihrem Boot Umschau zu halten. Sie werden sehen, nach kurzer Zeit können Sie es dort in Empfang nehmen.“

      „Dann möchte ich doch gleich —“

      „In diesem Anzug? Sie müssen doch einsehen, dass es nicht gut möglich ist. Oder wollten Sie sich zum zweiten Male ...?“

      Ja, er sieht es ein. Sie hat eine so bestimmte Art zu sprechen. Er erkennt auch, dass sie recht hat. Zudem gefällt ihm die umsichtige Art, mit der sie sofort ihre Kinder angewiesen, nach seinem Boote Nachforschungen anzustellen.

      So gibt er seinen Widerstand auf, und sie machen sich auf den Weg, ihrer Wohnung entgegen.

      Ganz kann ihnen die Strasse nicht erspart bleiben. Eine kurze Strecke müssen sie sie aufwärts wandern. Aber sie hat Obacht gegeben, ein paar polternde Wagen, auch eine flott bespannte ländliche Kutsche vorüberfahren lassen. Nun ist die Bahn frei und sie können ungehindert gehen. Nur wenige Minuten. Dann schlägt sie einen Pfad ein, der sich zwischen blühenden Wiesen und Feldern wie ein anmutig schillerndes Band dahinschlängelt.

      Schwarz und weiss gesprenkelte Kühe weiden auf der Wiese, rupfen voller Behagen das saftige Gras. Über ein Roggenfeld streicht die starke Hand des Windes dahin, lässt es in dampfenden Wogen aufwallen.

      Tiefer schon neigt sich die Sonne, sendet ihre geruhigen in allerlei Lichtern spielenden Strahlen wie Friedensboten auf das bis an den Horizont in flacher Ebenmässigkeit sich dehnende Land.

      Alles ist Stille und Geborgenheit. Drüben von der Strasse her hört man gedämpft den Gesang der heimwärts ziehenden Kinderschar.

      Ein Haus taucht auf, niedrig mit schräg abfallendem Dach hingekuschelt in den Hang frisch grünender Triften und Wiesen. Die blühende Symphonie des Frühlings, licht emporschimmernde Kastanien, Hecken bunten Flieders, roter und weisser Dorn in verschwenderischer Fülle, umgibt es von allen Seiten. Und unter ihrem Duften und Rauschen liegt es in weltentfernter Stille.

      Durch einen muffigen, mit roten Ziegeln getäfelten Flur treten sie ein. Rechts sieht man ein grosses Schulzimmer mit geöffnetem Fenster, einer Menge eben gescheuerter Bänke und Tische und einer sehr grossen schwarzen Wandtafel.

      Sie aber öffnet eine Tür zur Linken. Eine quadratmässig gebaute Stube empfängt sie, deren Einrichtung von einer gewissen gediegenen Wohlhabenheit zeugt: ein antiker Mahagonischreibtisch, der auf den ersten Blick Timms Entzücken hervorruft, ein gleichfalls alter Bücherschrank mit kühn geschweiften Bogen und Glastüren, eine noch ältere Servante mit altchinesischem Porzellan, einigen Götzenbildern und anderen Kostbarkeiten von künstlerischem Wert.

      „Alles, was Sie hier sehen“, erklärt sie, „und was Ihnen für die Wohnung einer Lehrerin wohl ein bisschen kostbar vorkommt, stammt aus dem Erbe meiner verstorbenen Mutter. Wir haben, wie so viele jetzt, auch einmal bessere Tage gesehen.“

      Und als hätte sie schon zuviel gesagt: „Doch jetzt werde ich uns schnell eine Tasse warmen Kaffee machen. Zuerst aber begleitet mich die Dame wohl in mein Schlafzimmer und zieht sich einige von meinen Sachen an.“

      Das Schlafzimmer ist auch quadratförmig und wiederum mit vornehmer Gediegenheit eingerichtet. Alles in ihm ist von feingemasertem dunkelpoliertem Nussholz: der geräumige Kleiderschrank, die von einem altchinesischen, mit reichen Stickereien versehenen Seidenstoff bedeckte Couch und das ebenfalls von einer gestickten Decke verhüllte sehr grosse Bett, in dem man, von den Kastanienbäumen umrauscht, prachtvoll schlafen muss.

      „Für Sie bin ich auch ein wenig vorbereitet“, wendet sie sich an Timm, indem sie für die kleine mit schlecht verhehlter Neugierde dreinblickende Locki die beiden starken