Artur Brausewetter

Der Ruf der Heimat


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abgesandt werden. Sie dürfen ihn in kurzer Zeit erwarten. Warme Decken und Mäntel werden mitgegeben werden.“

      Zwei Stunden hatten sie in dem gastlichen Schulhause gesessen, und sie waren wie ein Nichts, waren viel zu schnell entschwunden.

      Diese eine aber kriecht wie eine Schnecke, wird zur Ewigkeit.

      Es ist etwas zwischen sie getreten, etwas Unerklärliches und doch deutlich Spürbares, etwas, das sich mit hartem Druck auf die Herzen, auf die Sprache legt, die nicht mehr in harmloser Unbefangenheit, sondern gepresst und erzwungen, ohne Gedanken und Sinn über die lähmende Länge der Zeit hinweghelfen soll. Ein Reif ist auf den langsam seinem Ende entgegendämmernden Frühlingstag gefallen, hat mit kalter Hand über seine jungen Blüten dahingestrichen, dass sie im weissen Sterben zu Boden fallen, wie da draussen vor der Tür die hellschimmernden Kerzen der Kastanie.

      Selbst die kleine Locki, die ahnungslos von dem bleibt, was sich hier vor ihren Augen, ihr völlig undeutbar, vollzieht, hat Laune und Mut verloren, den lustigen Faden ihrer Geschichten und Erlebnisse fortzuspinnen, tröstet sich damit, dass Timm immer ein wunderlicher Kauz gewesen, dem ein Schnippchen zu schlagen einer Frau nicht schwerfallen dürfte, freut sich auf das Abendessen, zu dem er sie bei Lauterbach einladen wird.

      Dann ist die Zeit gekommen, wo sie sich beide in ihre Gemächer zurückziehen, die geliehenen Kleidungsstücke abzulegen, die eigenen, die sorgsam gereinigt und am Herdfeuer schnell getrocknet sind, wieder anzuziehen.

      Vor der Tür hält der Wagen.

      Ein kurzer Abschied, merkbar kühl und befangen. Ein warmer Dank, der mit der Begründung abgelehnt wird, dass man dasselbe für jeden anderen getan hätte.

      „Was ist nur geschehen?“ fragt sich Timm, fragt es sich wieder und wieder, indes Locki sich mit sichtbarem Behagen in den flauschigen Abendmantel hüllt, der sicher Ina gehört, auch die mollige Decke um die seidenumspannten Beine legt. Denn das Gefühl des Frierens ist noch immer in ihr.

      Timm nimmt weder Decke noch Mantel. Teilnahmlos und ganz in seine Gedanken versunken lehnt er sich in seine Ecke.

      Aber sowie der Wagen auf die grosse, neben dem Vorfluter herlaufende Strasse gelangt ist, wendet er sich zu dem kleinen Mädchen, das man bis zu ihrem Heimatorte mitgenommen hat und das vorne beim Führer sitzt. „Sag mal, wie heisst eigentlich eure Lehrerin?“

      Mit verdutztem Lächeln sieht die Kleine ihn an.

      „Wie soll sie denn heissen? Fräulein Anna Katharina. Die kennt doch jeder.“

      „Anna Katharina!“ wiederholt Timm vor sich hin. Ja, das Mädel hat recht. Wie sollte sie auch anders heissen? Noch nie hat er einen Namen gehört, der so mit der Erscheinung und dem Wesen eines Menschen zusammengehört wie dieser.

      „Aber nur, wenn wir in der Schule ein Lob bekommen oder manchmal auch auf den Spaziergängen, wenn wir sehr artig und vernünftig sind, dürfen wir sie so nennen. Sonst heisst sie Fräulein Brackmann.“

      Der Wagen hält. Sie sind in Conradswalde angelangt.

      Timm nimmt sein Boot in Empfang, baut es auseinander, verstaut es im Wagen. Aber nicht mehr mit der Wichtigkeit und dem Vergnügen wie heute nachmittag beim Beginne der Fahrt. Mechanisch tut er es wie eine lästige Pflicht.

      Dann geht es weiter. Die Nacht ist hell und frisch. Auch der Blütenduft, der in der Luft liegt und durch das geöffnete Fenster zu ihnen hineindringt, hat etwas Herbes.

      Lockis spielerische Hand streicht über Timms Wangen, liegt dann weich und beschwichtigend auf der seinen, als fühlte sie, dass in ihm etwas getroffen ist, das sie zur Ruhe bringen muss, wie sie es so manches Mal getan hat, wenn er, über eine sportliche Niederlage verstimmt, in diesem Wagen mit ihr heimwärts fuhr.

      Er erwidert ihren zärtlichen Druck, nimmt wohl auch ihre Hand. Aber was er heute sagt und tut, erscheint ihr nicht wie sonst. Und darüber ist sie traurig. Denn sie liebt ihn wirklich aus der Tiefe ihres Herzens, wenn diese Tiefe auch nicht gerade grundlos ist.

      Er fühlt, dass er ihr weh tut und dass sie es nicht um ihn verdient hat. Aber er kann nicht anders.

      Unaufhörlich muss er an das Schicksal dieser Begegnung denken. Dass es so kommen musste! Dass das Mädchen, das ihm aus schwerer Verlegenheit geholfen, ihm und seiner kleinen Freundin gastlich ihr Haus geöffnet, und das — warum soll er es leugnen? — in ihrer jungblühenden Erscheinung, ihrem klugen, so ganz und gar naturverwandten Wesen einen Eindruck auf ihn hervorgerufen wie bisher noch nie ein anderes, die Tochter des Mannes sein muss, der erst vor wenigen Tagen, von der äussersten Not gepeitscht, in seines Vaters Kontor gestanden und jetzt schwer leidend daniederliegt!

      Als sie in Danzig ankommen, erlebt die arme Locki eine neue Enttäuschung, und das ist die schwerste für sie: Timm lädt sie nicht zum Abendessen bei Lauterbach ein, lässt sie vor ihrer Wohnung an der Reitbahn absetzen und lehnt ihre Bitte, noch eine Tasse Tee bei ihr zu trinken, mit höflicher Bestimmtheit ab.

      Vom Rathausturm erklingt das alte Glockenspiel.

      „Morgenglanz der Ewigkeit.“ In feierlichen Akkorden flutet es über den Langen Markt, auf dem alles Leben und Tätigkeit ist.

      Denn es ist die achte Stunde, die der eherne Glockenmund von da oben mit seiner weit vernehmbaren Stimme verkündet.

      Die Türen der Geschäfte öffnen sich. Die mit regelmässiger Unaufhörlichkeit vom Langgasser wie vom Grünen Tor auf den Markt surrenden Elektrischen entlassen ganze Ströme von jungen, auch mehreren älteren Leuten, die sich beeilten Schrittes über den Langen Markt, seine vielen auf ihn mündenden kleineren Gassen oder durch das Grüne Tor auf die bereits von polternden Wagen und einer ganzen Kette von Eisenbahnwaggons durchlärmte Speicherinsel ergiessen. Denn es ist die höchste Zeit, in sein Büro oder an sein Pult zu gelangen.

      Bei Vandekamp und Co. vollends ist ein Zuspätkommen eine eigene und für den, der es wagt, nicht ganz ungefährliche Sache.

      Denn auf den ersten Wächterruf des Glockenspiels wird der Betrieb in vollem Umfang aufgenommen, und Theobald Kernreif ist ein gewissenhafter Prokurist, der seine Ehre darein setzt, des Morgens der Erste und des Abends der Letzte im Geschäft zu sein. Was er aber in zäher Pflichtstrenge und in unerschütterlicher Pünktlichkeit von sich selber fordert, das setzt er als selbstverständlich auch bei den seiner Obhut anvertrauten Angestellten voraus.

      Nur Traute Pallasch, die jüngst erst von Walter Döring zu ihnen hinübergekommene Buchhalterin, die dort an mehr Grosszügigkeit im Kommen und Gehen gewöhnt war, schlägt ihm ab und zu ein Schnippchen. Denn sie ist ein so gewandtes und durchtriebenes Ding, dass sie, selbst wenn er mitten im Kontor steht, wie eine geschmeidige Katze an ihm vorbei auf ihren Platz zu schleichen weiss und ihn dann mit ihren grossen unverschämten Augen ganz erstaunt anblickt, wenn er es unternimmt, auch nur den leisesten Zweifel in ihre unbedingte Pünktlichkeit zu setzen.

      Sowie er mit Söna Sentland, der einzigen, die zu seinem steten Verdruss nicht ihm, sondern als seine Privatsekretärin dem Chef unterstellt ist, die eben eingegangene, in noch ungeklärten Haufen und Paketen auf dem grossen Auslegetisch gelagerte Post für die verschiedenen Abteilungen ausgesondert hat, begibt er sich ans Telephon.

      Er tut es jetzt schon, nicht weil seine Gespräche nicht noch Zeit hätten, im Gegenteil, für sie ist es noch reichlich früh. Aber er will sich überzeugen, ob die Telephonistin, die in ihrer abgeschlossenen Zentrale etwas ausserhalb seines Machtbereiches und seiner Aufsicht steht, auch pünktlich dort und nicht mit allerlei Privatgesprächen beschäftigt ist, die er ihr, freilich ohne grossen Erfolg, auf das Strengste untersagt hat. Denn die kleine Petronella, die im ganzen Hause nur das „Peterle von der Zentrale“ heisst, hat viele Verehrer, nicht nur im Kontor, sondern unter den Geschäftsfreunden und Kunden des Hauses. Und wer Vandekamp und Co. anruft, lässt die Gelegenheit nicht vorübergehen, mit dem aufgeweckten Mädel zuerst einmal ein bisschen zu plaudern und zu schäkern, wofür sie in erlaubter Weise jederzeit gern zu haben ist. Dass dabei die Grenzen zwischen „geschäftlich“ und „persönlich“ bisweilen recht fliessend werden, ist schliesslich nicht ihre Schuld, und selbst Theobald Kernreif kann wenig dabei machen. Aber es verdriesst