an Schlaflosigkeit und Depressionen leidend, lernte Alice Coltrane Swami Satchidananda kennen (der im selben Jahr das Woodstock-Festival mit einer Rede eröffnete) und in der Auseinandersetzung mit den Lehren des indischen Gurus fand sie nicht nur einen Weg aus der Depression, sondern auch eine neue Form des Ausdrucks, die ihr musikalisches Werk und irdisches Dasein fortan und bis hin zu ihrem Tod 2007 prägen sollten. War der Spiritual Jazz der Coltranes (mit Ausnahme von Alice’ Harfe) aufgrund klassischer Jazz-Trio- oder -Quartett-Instrumentierung dem Klangbild nach noch nahe am New Thing, so erweiterten und prägten der Einsatz der indischen Tanpura und der orientalischen Oud das Klangbild von Journey in Satchidananda. So bezeugte das Album über seinen originären Sound die Genesung und musikalische Neuorientierung von Alice Coltrane. Es markierte eine Zäsur in ihrem Leben und Werk, den Moment, in dem sie aus dem langen Schatten, den der Tod von John Coltrane auf ihr Leben warf, herauszutreten begann. Diese sowohl außerweltlichen als auch weltmusikalischen Bezugspunkte mögen Puristen seinerzeit abgeschreckt haben und für Vertreter einer reinen Lehre mussten solche Entwicklungen mit dem Ende des Jazz an sich einhergehen, bzw. wenn er nicht tot war, so roch er spätestens jetzt zu stark nach Patschuli – und was hatte man davon zu halten?
Es verwundert daher auch nicht, dass, jazzhistorisch betrachtet, Alice Coltranes Werk jahrzehntelang kaum gewürdigt wurde und sie vielfach – wenn überhaupt – nur als musikalische Partnerin ihres Mannes Erwähnung fand (und im weiteren Verlauf, zur Fußnote herabgewürdigt, bloß als esoterische Witwe in der Jazz-Geschichtsschreibung existierte). Erst die im Verborgenen blühende, langanhaltende und enthusiastische Rezeption in musikalisch anderen experimentellen Szenen und Subkulturen sorgte in der jüngeren Vergangenheit für eine Renaissance und damit einhergehenden Wiederauflage ihrer Musik. Und so wird schließlich auch umgekehrt ein Schuh draus für alle in diesen post-irgendwas Szenen der Gegenwart sozialisierten Menschen, die – Borniertheit und Engstirnigkeit sterben eher nicht aus – Jazz für die akademisch-muffige Musik ihrer Eltern, Groß- oder gar Urgroßeltern halten und für die Jazz eben deshalb komisch riecht, weil er tot ist! Journey in Satchidananda kann den Kadavergeruch vertreiben, die Neugier an Jazz wecken und ein Fenster in dieses musikalische Universum öffnen. Die sanften Tanpura-Klänge des eröffnenden Titelstücks, das Sopransaxophon von Pharoah Sanders, Rashied Alis Schlagzeug und die Harfe von Alice Coltrane können ohne jede Detailkenntnis von modalem Jazz als psychedelisch-meditative Musik gehört werden. Das zugängliche, abwechslungsreiche und vor allem wunderschöne Album eignet sich nicht bloß zum wiederholten, konzentrierten Zuhören; es funktioniert auch im Alltag als Soundtrack zum Yoga, zum Kiffen und zum Mate-Tee oder Bier trinken auf dem Balkon oder in der Küche beim Tofu anbraten und kann so – ganz nebenbei – das Interesse an der Frage anregen, was es eigentlich mit John und Alice und all den anderen auf sich hat – und ehe man sich versieht, steckt man mitten drin: Art Ensemble of Chicago, Billie Holiday, Vi Redd, Sun Ra Arkestra, Nina Simone, Don Cherry, Sonny & Linda Sharrock … Jazz isn’t dead, it just smells funny – zum Glück! Und ja, stimmt schon, irgendwas stinkt auch an der Sache, wenn man sich mit Blick auf die wenigen gerade genannten Beispiele vor Augen führt, dass, historisch betrachtet, Jazz-Musikerinnen häufig und in überwiegender Zahl Sängerinnen waren. (Die Dokumentation The Girls in the Band von Judy Chaikin aus dem Jahr 2011 wirft ein Licht auf das Schattendasein von Jazzmusiker*innen und ihren Kämpfen gegen Diskriminierung und für Anerkennung.)
Alice Coltrane, Journey In Satchidananda (Impulse!, 1971)
Die Gegenwart stellt sich für die so unterschiedlichen Instrumentalistinnen wie Camille Thurman, Nubya Garcia, Tomeka Reid, Mary Halvorson, Virginia Genta und Mette Rasmussen oder die noch immer aktive Pionierin des europäischen Free Jazz, die Pianistin Irène Schweizer, hoffentlich weniger konfliktreich dar. Alice Coltranes umfang- und abwechslungsreiche Diskographie, die vor allem mit Journey in Satchidananda und ab 1970 sich mehr und mehr der einfachen Kategorisierung entzieht und zwischen Spirtual Jazz, Fusion und reich orchestrierter Devotional Music oszilliert, kann auch vor diesem Hintergrund noch für viele Musiker*innengenerationen ein inspirierendes Zeugnis kreativer und geistiger Stärke und Unabhängigkeit sein.
Franz Dobler
Queen Esther Marrow
• ERSTE LP 1969 (ERSTE AUFNAHMEN 1966)
Queen Esther Marrow, 1998
Glaubt ihr da draußen etwa, christliche Gesänge hätten keine fundamentale Wirkung auf Geist und Körper von Gläubigen wie Ungläubigen! So nehmt denn dies.
Nach der Premiere des neuen Programms von »The World’s Greatest Gospel Show« von Queen Esther Marrow & The Harlem Gospel Singers begab es sich bei der Feier im Deutschen Theater, dass Rudolph Mooshammer »euphorisch« mit einem »Ex-Eislauf-Star« tanzte: Das hätten wir aber vom Boulevard-Kollegen gern etwas genauer gelesen! Ich meine, nur mal als Beispiel, Jane Birkin und Serge Gainsbourg haben damals einen Tanz erfunden, bei dem der Mann seine Vorderseite eng an die Rückseite der Partnerin presst und seine Hände relativ weit oben an ihre Vorderseite legt. War’s das? Im Gegenteil. Die »Politik-Studentin« Davorska T. »übte erste Schritte auf dem Society-Parkett«, behielt aber trotz dieser heiklen Situation kühlen Kopf und stellte dem Boulevard-Kollegen diese Frage: »Darf ich etwas Rückenfreies tragen, wenn Frau Stoiber in der Nähe ist?« Bitte? Was soll das heißen? Ich meine, ich könnte einen Sinn in der Frage erkennen, wenn der Bayerische Ministerpräsident in der Nähe gewesen wäre.
Auf jeden Fall aber kann das Society-Küken im Werk von Queen Esther Marrow eine Antwort finden. Sie lautet »Walk Tall« und darf in diesem Fall so übersetzt werden: Fräulein, du kannst bei solch Anlässen nackt herumstehen oder nur mit ’nem Fetzchen auf der Rückseite deines wohlgestalten Leibes, der sowohl viele Männer und so manch Weib zu unkeuschen Gedanken verleitet, wichtig hingegen ist nur: walk tall!, lass niemals ab vom aufrechten Gang und falle nicht der Täuschung anheim, es könnte sich bei diesem Ausdruck nur um eine körperliche und nicht vor allem um eine geistige Position handeln. Zu der ich, sollte es zu einer Proseminararbeit »Der Aufrechte Gang unter spezieller Berücksichtigung der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung« kommen, diesen Hinweis geben darf (ohne irgendeine Form des Dankes zu erwarten).
»Walk Tall« war eine wichtige Hymne des afroamerikanischen Widerstands in den USA und wurde von Queen Esther Marrow mit Joe Zawinul geschrieben. Zur berühmtesten Einspielung kam es 1969 anlässlich des von Jesse Jackson ins Leben gerufenen Hilfsprogramms »Operation Breadbasket«; nach einer aufrüttelnden Rede des Reverends tanzen die Engel zu den Klängen des Cannonball Adderley Quintetts, der heißesten Soul-Jazz-Formation aller Zeiten. Queen Esther, einst entdeckt von Duke Ellington, hatte sich schon 1965 der Bürgerrechtsbewegung angeschlossen. Soviel auch zur Frage, ob man im Hintergrund dieser Gospel-Show mehr entdecken kann als einen soulvollen Gottesdienst, der schön anzusehen ist und in einer jubelnden Beschwörung des Weihnachtsfests endet.
Wie auf den berühmten Gemälden mit alttestamentarischen Szenen, so legen die Scheinwerfer Lichtbahnen vom Himmel zur Bühne herunter, in deren Mitte sich die Musiker in dunklen Anzügen versammeln, flankiert von blau strahlenden Lichtsäulen und den Treppen für die Auftritte der Harlem Gospel Singers. Sie tragen violett-gelbe, priesterähnliche Gewänder, von denen sich das rein helle von Chorgründerin Mrs. Marrow abhebt. Am Ende vieler Songs verbinden sie sich – freeze – zu einer menschlichen Skulptur, aus der Finger gen Himmel zeigen.
Es könnte sich also um eine Sekte handeln, deren Show in Las Vegas allen Anforderungen für eine TV-Übertragung zur besten Sendezeit entspricht. Dazu passend ist speziell der erste Teil eine bunte Revue mit Rock ’n’ Roll, Rhythm ’n’ Blues, Soul und Soft-Pop; oder auch ein Vortrag darüber, dass es in der populären Musik, außer der Neuen Deutschen Welle, kaum was gibt ohne Gospel-Wurzeln. Da ist Platz für ein getragenes »Swing Low Sweet Chariot«, für einen alle Höllenhunde verscheuchenden Temperamentsausbruch von Dorrey Lyles oder auch die Nikolausmütze, die sich der musikalische