href="#ulink_9a648799-1920-5877-aefb-afa95f33a71c">283 bemerkt hat, um so weniger überraschend, als der Mensch sich aus dem Zustand der Barbarei erst innerhalb einer verhältnismäßig neueren Zeit erhoben hat. Haben wir irgend einer Versuchung nachgegeben, so empfinden wir ein Gefühl des Unbefriedigtseins, der Scham, Reue und Gewissensbisse, analog dem, welches in Folge anderer starker nicht befriedigter oder unterdrückter Instincte empfunden wird, und in diesem Fall nennen wir es Gewissen: denn wir können nicht verhindern, daß vergangene Bilder und Eindrücke beständig durch unsere Seele ziehen. Wir vergleichen den abgeschwächten Eindruck einer vorübergegangenen Versuchung mit den beständig gegenwärtigen socialen Instincten oder mit Gewohnheiten, welche wir in früher Jugend erlangt und durch unser ganzes Leben gekräftigt haben, bis sie zuletzt fast so stark wie Instincte geworden sind. Wenn wir, die Versuchung immer vor unsern Augen, derselben nicht nachgegeben haben, so geschah dies weil entweder der sociale Instinct oder irgend eine Gewohnheit in dem Augenblicke in uns vorherrschte, oder weil, wir gelernt haben, daß diese uns später, wenn wir sie mit dem abgeschwächten Eindruck der Versuchung vergleichen, um so stärker erscheinen würde, und daß wir ihre Verletzung schmerzlich empfinden würden. Blicken wir auf spätere Generationen, so haben wir keine Ursache zu befürchten, daß die socialen Instincte schwächer werden würden; und wir können wohl erwarten, daß tugendhafte Gewohnheiten stärker und vielleicht durch Vererbung fixiert werden. In diesem Falle, wird der Kampf zwischen unseren höheren und niederen Antrieben weniger hart sein und die Tugend wird triumphieren.
Zusammenfassung der letzten beiden Capitel. – Es läßt sich nicht daran zweifeln, daß die Verschiedenheit zwischen der Seele des niedrigsten Menschen und der des höchsten Thieres ungeheuer ist. Wenn ein anthropomorpher Affe unbefangen seinen eigenen Zustand beurtheilen könnte, so würde er zugeben, daß, obgleich er einen kunstvollen Plan sich ausdenken könnte, einen Garten zu plündern, obgleich er Steine zum Kämpfen oder zum Aufbrechen von Nüssen benutzen könnte, doch der Gedanke, einen Stein zu einem Werkzeug umzuformen, völlig über seinen Horizont ginge. Er würde ferner zugeben, daß er noch weniger im Stande wäre, einem Gedankengange metaphysischer Betrachtungen zu folgen oder ein mathematisches Problem zu lösen, oder über Gott zu reflectieren, oder eine große Naturscene zu bewundern. Einige Affen würden indeß wahrscheinlich erklären, daß sie die Schönheit der farbigen Haut und des Haarkleides ihrer Ehegenossen bewundern könnten und wirklich bewundern; sie würden zugeben, daß, obschon sie den andern Affen durch Ausrufe einige ihrer Wahrnehmungen und einfacheren Bedürfnisse verständlich machen könnten, doch die Idee, bestimmte Gedanken durch bestimmte Laute auszudrücken, ihnen niemals in den Sinn gekommen sei. Sie könnten behaupten, daß sie bereit wären, ihren Genossen in derselben Herde auf viele Weise zu helfen, ihr Leben für sie zu wagen und für ihre Waisen zu sorgen, sie würden aber genöthigt sein, anzuerkennen, daß eine interesselose Liebe für alle lebenden Geschöpfe, dieses edelste Attribut des Menschen, vollständig über ihre Fassungskraft hinausginge.
So groß nun auch nichtsdestoweniger die Verschiedenheit an Geist zwischen dem Menschen und den höheren Thieren sein mag, so ist sie doch sicher nur eine Verschiedenheit des Grads und nicht der Art. Wir haben gesehen, daß die Empfindungen und Eindrücke, die verschiedenen Erregungen und Fähigkeiten, wie Liebe, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Neugierde, Nachahmung, Verstand u. s. w., deren sich der Mensch rühmt, in einem beginnenden oder zuweilen selbst in einem gut entwickelten Zustand bei den niederen Thieren gefunden werden. Sie sind auch in einem gewissen Grade der erblichen Veredelung fähig, wie wir an dem domesticierten Hund im Vergleich mit dem Wolf oder Schakal sehen. Wenn bewiesen werden könnte, daß gewisse höhere geistige Fähigkeiten, wie Bildung allgemeiner Begriffe, Selbstbewußtsein u. s. w. dem Menschen absolut eigenthümlich wären, was äußerst zweifelhaft zu sein scheint, so ist es nicht unwahrscheinlich, daß dieselben nur die begleitenden Resultate anderer weit fortgeschrittener intellectueller Fähigkeiten sind; und diese wiederum sind hauptsächlich das Resultat des fortgesetzten Gebrauchs einer höchst entwickelten Sprache. In welchem Alter entwickelt sich bei dem neugeborenen Kinde das Vermögen der Abstraction, in welchem Alter wird das Kind selbstbewußt und reflectiert über seine eigene Existenz? Wir können hierauf keine Antwort geben; ebensowenig wie wir die gleiche Frage in Bezug auf die aufsteigende Reihe organischer Wesen beantworten können. Das halb Künstliche und halb Instinctive der Sprache trägt noch immer den Stempel ihrer allmählichen Entwicklung an sich. Der veredelnde Glaube an Gott ist den Menschen nicht allgemein eigen und der Glaube an thätige spirituelle Kräfte folgt naturgemäß aus seinen andern geistigen Kräften. Das moralische Gefühl bietet vielleicht die beste und höchste Unterscheidung zwischen dem Menschen und den niederen Thieren: doch brauche ich kaum hierüber etwas zu sagen, da ich erst vor Kurzem zu zeigen versucht habe, daß die socialen Instincte – die wichtigste Grundlage der moralischen Constitution des Menschen284 – mit der Unterstützung der sich äußernden intellectuellen Kräfte und der Wirkungen der Gewohnheit naturgemäß zu der goldenen Regel führen: »was Ihr wollt, daß man Euch thue, das thut auch Andern« und dies ist der Grundstein der Moralität.
In dem nächsten Capitel werde ich einige wenige Bemerkungen über die wahrscheinlichen Stufen und Mittel machen, durch welche die verschiedenen geistigen und moralischen Fähigkeiten des Menschen allmählich weiter entwickelt worden sind. Daß diese Entwicklung wenigstens möglich ist, sollte doch nicht geleugnet werden, wenn wir täglich, bei jedem Kinde, diese Fähigkeiten sich entwickeln sehen: auch können wir eine vollständige Stufenreihe von dem geistigen Zustand eines völligen Idioten, noch niedriger als der des niedrigsten Thieres, bis zu dem Geiste eines Newton verfolgen.
Fußnote
275 Dieser Ausdruck wird in einem guten Artikel in der Westminster Review, Oct. 1869, p. 498 gebraucht. Über das Princip des größten Glücks s. J. S. Mill, Utilitarianism, p. 17.
276 Mill erkennt in der deutlichsten Weise an (System of Logic, Vol. II, p. 422), daß Handlungen aus Gewohnheit ohne vorherige Erwartung eines Vergnügens ausgeführt werden können. Auch H. Sidgwick bemerkt in seinem Aufsatze über Behagen und Begierde (The Contemporary Review, April, 1872, p. 671): »Um Alles zusammenzufassen, so möchte ich in Widerspruch zu der Theorie, daß unsere bewußten thätigen Impulse immer auf die Erzeugung angenehmer Empfindungen in uns gerichtet sind, behaupten, daß wir überall im Bewußtsein einen besonders Acht habenden Impuls finden, der auf etwas, was nicht Vergnügen ist, gerichtet ist, und daß in vielen Fällen dieser Impuls insofern mit dem auf das eigene Selbst gerichteten unverträglich ist, als diese Zwei nicht leicht in demselben Momente des Bewußtseins gleichzeitig vorhanden sind«. Ein dunkles Gefühl, daß unsere Impulse durchaus nicht immer aus einem gleichzeitigen oder erwarteten Vergnügen entspringen, ist, wie ich nicht anders glauben kann, eine der Hauptursachen für die Annahme der intuitiven Theorie der Moral und für das Verwerfen der utilitarischen Theorie oder der des »größten Glückes«. Was die letztere Theorie betrifft, so ist ohne Zweifel der Maßstab für das Betragen und das Motiv zu demselben häufig mit einander verwechselt worden; doch sind beide factisch in einem gewissen Grade verschmolzen.
277 Gute Beispiele theilt Mr. Wallace mit in »Scientific Opinion«, Sept. 15., 1869, und ausführlicher in seinen Contributions to the Theory of Natural Selection. 1870, p. 353.
278 Tennyson, Idylls of the King, p. 244.
279 Betrachtungen des Kaisers M. Aurelius Antoninus. Englische Übersetzung, 2. Ausg. 1869, p. 112. Marc Aurel war 121 geboren.
280 Brief an Mill in Bain's Mental and Moral Science. 1868, p. 722.
281 Maudsley, Body and Mind. 1870, p.