und ganz Europa bevölkert haben müßten, wenn die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl wirklich bestände. Wir sehen hier die stillschweigende Annahme, die so oft in Bezug auf körperliche Bildung gemacht wird, daß ein gewisses angeborenes Streben zu einer beständigen Weiterentwicklung an Geist und Körper vorhanden sei. Aber Entwicklung aller Art hängt von vielen zusammenwirkenden günstigen Umständen ab. Natürliche Zuchtwahl wirkt nur in der Weise eines Versuchs. Individuen und Rassen mögen gewisse unbestreitbare Vortheile erlangt haben und können doch, weil ihnen andere Charaktere fehlen, untergegangen sein. Die Griechen können wegen eines Mangels an Zusammenhalten zwischen den vielen kleinen Staaten, wegen der geringen Größe ihres ganzen Landes rückwärts geschritten sein, eben so wegen der Ausübung der Sclaverei oder wegen ihrer extremen Sinnlichkeit; denn sie unterlagen nicht eher, als bis »sie entnervt und bis in's innerste Mark verderbt waren«.311 Die westlichen Nationen Europas, welche jetzt so unmeßbar ihre früheren, wilden Urerzeuger überflügelt haben und auf dem Gipfel der Civilisation stehen, verdanken wenig oder gar nichts von ihrer Superiorität der directen Vererbung von den alten Griechen, obwohl sie den schriftlich hinterlassenen Werken dieses wunderbaren Volks viel verdanken.
Wer kann positiv angeben, warum die spanische Nation, die zu einer Zeit so dominierend war, in dem Wettlaufe der Völker überflügelt worden ist? Das Erwachen der Nationen Europas aus den Jahrhunderten der Dunkelheit ist ein noch verwirrenderes Problem. In dieser frühen Zeit hatten, wie Mr. Galton bemerkt hat, fast alle Männer einer weicheren Natur, die, welche sich einer beschaulichen Betrachtung oder der Cultur des Geistes ergaben, keinen anderen Zufluchtsort als den Busen der Kirche, und diese forderte das Cœlibat;312 und dieses wieder mußte fast sicher einen verschlechternden Einfluß auf jede der folgenden Generationen ausüben. Während dieser selben Periode wählte die heilige Inquisition mit der äußersten Sorgfalt die freisinnigsten und kühnsten Männer aus. um sie zu verbrennen oder gefangen zu setzen. Allein in Spanien wurden von den besten Leuten – d.h. von denen, welche zweifelten und Fragen aufwarfen, und ohne Zweifel ist ja kein Fortschritt möglich – während dreier Jahrhunderte jährlich eintausend eliminiert. Das Übel, welches die katholische Kirche hierdurch bewirkt hat, ist unberechenbar, wenn es auch in gewisser, vielleicht großer Ausdehnung auf andere Weise ausgeglichen wurde. Nichtsdestoweniger ist Europa in einem Verhältnis ohne Gleichen fortgeschritten.
Der merkwürdige Erfolg der Engländer als Colonisten, gegenüber anderen europäischen Nationen, welche durch einen Vergleich der Fortschritte der Canadier englischen und französischen Ursprungs erläutert wird, ist deren »unerschrockener und ausdauernder Energie« zugeschrieben worden; wer kann aber sagen, wie die Engländer ihre Energie erlangten? Wie es scheint, liegt in der Annahme sehr viel Wahres, daß der wunderbare Fortschritt der Vereinigten Staaten ebenso wie der Charakter des Volkes die Resultate natürlicher Zuchtwahl sind. Die energischeren, rastloseren und muthigeren Menschen aus allen Theilen Europas sind während der letzten zehn oder zwölf Generationen in jenes große Land eingewandert und haben dort den größten Erfolg gehabt.313 Blicken wir auf die fernste Zukunft, so glaube ich nicht, daß die Ansicht des Mr. Zincke übertrieben ist, wenn er sagt:314 »alle übrigen Reihen von Begebenheiten – z. B. die, welche als Resultat die geistige Cultur in Griechenland, und die, welche die römische Kaiserzeit hervorgehen ließen – scheinen nur Zweck und Bedeutung zu erhalten, wenn sie im Zusammenhange mit, oder noch eher als Unterstützung für ... den großen Strom anglosächsischer Auswanderung nach dem Westen hin betrachtet werden«. So dunkel das Problem des Fortschritts der Civilisation ist, so können wir wenigstens sehen, daß eine Nation, welche eine lange Zeit hindurch die größte Zahl hoch intellectueller, energischer, tapferer, patriotischer und wohlwollender Männer erzeugte, im Allgemeinen über weniger begünstigte Nationen das Übergewicht erlangen wird.
Natürliche Zuchtwahl ist die Folge des Kampfes um's Dasein, und dieser ist die Folge eines rapiden Verhältnisses der Vermehrung. Es ist unmöglich, das Verhältnis, in welchem der Mensch an Zahl zuzunehmen strebt, nicht tief zu bedauern, – ob dies freilich weise ist, ist eine andere Frage; – denn es führt dasselbe bei barbarischen Stämmen zum Kindesmord und vielen anderen Übeln, und bei civilisierten Nationen zu der gräßlichsten Verarmung, zum Cœlibat und zu den späten Heirathen der Klügeren. Da aber der Mensch an denselben physischen Übeln zu leiden hat, wie die niederen Thiere, so hat er kein Recht, eine Immunität diesen Übeln gegenüber, die eine Folge des Kampfes um's Dasein sind, zu erwarten. Wäre er nicht während der Urzeiten der natürlichen Zuchtwahl ausgesetzt gewesen, so würde er zuversichtlich niemals die jetzige hohe Stufe der Menschlichkeit erreicht haben. Wenn wir in vielen Theilen der Erde enorme Strecken des fruchtbarsten Landes, Strecken, welche im Stande sind, zahlreiche glückliche Heimstätten zu tragen, nur von einigen herumwandernden Wilden bewohnt sehen, so möchte man wohl zu der Folgerung veranlaßt werden, daß der Kampf um's Dasein nicht hinreichend heftig gewesen sei, um den Menschen aufwärts auf seine höchste Stufe zu treiben. Nach alle dem, was wir vom Menschen und den niederen Thieren wissen zu urtheilen, hat es stets eine hinreichende Variabilität in den intellectuellen und moralischen Eigenschaften gegeben, um zu einem stetigen Fortschritt durch natürliche Zuchtwahl zu führen. Ohne Zweifel erfordert ein solches Fortschreiten viel günstig zusammenwirkende Umstände, aber es dürfte wohl zu bezweifeln sein, ob die günstigsten dazu hingereicht haben würden, wenn nicht das Verhältnis der Zunahme ein rapides und der in Folge davon auftretende Kampf um's Dasein ein bis zum äußersten Grade heftiger gewesen wäre. Nach dem, was wir z. B. in Theilen von Süd-Amerika sehen, scheint es, als würde ein Volk, welches wohl civilisiert genannt werden kann, wie die spanischen Colonisten, leicht indolent und schreite rückwärts, wenn die Lebensbedingungen gar zu günstig und leicht sind. Bei hoch civilisierten Nationen hängt der beständige Fortschritt in einem untergeordneten Grade von natürlicher Zuchtwahl ab; denn derartige Nationen ersetzen und vertilgen einander nicht so, wie es wilde Stämme thun. Nichtsdestoweniger werden in der Länge der Zeit die intelligenteren Individuen einer und derselben Genossenschaft besseren Erfolg haben, als die untergeordneteren, und werden auch zahlreichere Nachkommen hinterlassen: und dies ist eine Form der natürlichen Zuchtwahl. Die wirksameren Ursachen des Fortschrittes scheinen zu bestehen einmal in einer guten Erziehung während der Jugend, wo das Gehirn Eindrücken leicht zugänglich ist, und dann in einem hohen Maßstab der Vortrefflichkeit, wie er in der Natur der fähigsten und besten Leute ausgeprägt, in den Gesetzen, Gebräuchen und Überlieferungen der Nation verkörpert und von der öffentlichen Meinung aufgenöthigt wird. Man muß indessen im Auge behalten, daß die Macht der öffentlichen Meinung von unserer Anerkennung der Billigung und Mißbilligung Andrer abhängt; und diese Anerkennung gründet sich auf unsere Sympathie, welche, wie kaum bezweifelt werden kann, als eines der wichtigsten Elemente der socialen Instincte ursprünglich durch natürliche Zuchtwahl entwickelt wurde.315
Über die Beweise, daß alle civilisierten Nationen einst Barbaren waren. – Der vorliegende Gegenstand ist in einer so eingehenden und vorzüglichen Weise von Sir J. Lubbock.316 Mr. Tylor, Mr. M'Lennan und Anderen behandelt worden, daß ich hier nur nöthig habe, einen sehr kurzen Auszug ihrer Resultate zu geben. Die früher vom Herzog von Argyll317 und noch früher vom Erzbischof Whately zu Gunsten der Annahme, daß der Mensch als ein civilisiertes Wesen auf die Welt gekommen ist, und daß alle Wilden seit jener Zeit einer Entartung unterlegen sind, vorgebrachten Argumente scheinen mir im Vergleich mit den von der anderen Seite vorgebrachten schwach zu sein. Ohne Zweifel sind viele Nationen in ihrer Civilisation zurückgegangen und einige mögen in vollständige Barbarei verfallen sein, trotzdem mir in Bezug auf den letzteren Punkt keine Beweise begegnet sind. Die Feuerländer wurden wahrscheinlich durch andere erobernde Horden gezwungen, sich in ihrem unwirthbaren Lande niederzulassen, und sie können in Folge davon wohl noch etwas weiter entartet sein; es dürfte aber schwer zu beweisen sein, daß sie viel tiefer als die Botokuden gesunken sind, welche