daß alle civilisierten Nationen die Nachkommen von Barbaren sind, bestehen auf der einen Seite aus deutlichen Spuren ihres früheren niedrigen Zustandes, wie noch immer existierenden Gebräuchen, Glaubensansichten, ihrer Sprache u. s. w., auf der andern Seite aus Beweisen, daß Wilde unabhängig und selbständig im Stande sind, einige wenige Schritte in der Civilisationsstufe sich zu erheben und auch wirklich sich erhoben haben. Der thatsächliche Beweis für den ersten Punkt ist im äußersten Grade merkwürdig, kann aber hier nicht gegeben werden: ich beziehe mich auf solche Fälle, wie z. B. die Kunst des Zählens, welche, wie Mr. Tylor an den an einigen Orten noch immer gebrauchten Worten nachgewiesen hat, ihren Ursprung in dem Zählen der Finger, zuerst der einen Hand, dann der anderen und endlich auch der Zehen gehabt hat. Wir haben Spuren hiervon in unserem eigenen Decimalsystem und in den römischen Zahlzeichen, wo wir, nachdem die Ziffer V erreicht ist (von der man annimmt, daß sie eine zusammengezogene Abbildung der menschlichen Hand darstelle), zu den Zahlen VI u. s. w. übergehen, bei denen ohne Zweifel die andere Hand gebraucht wurde; – so ferner wenn die Engländer »von three score and ten sprechen, wo sie im Vigesimalsystem zählen, wobei jedes score als ideelle Einheit aufgefaßt für zwanzig steht – für »ein Mann« wie es ein Mexikaner oder Caraibe ausdrücken würde.«318 Den Ansichten einer großen und an Anhängern beständig zunehmenden Philologenschule zufolge trägt jede Sprache Merkzeichen ihrer langsamen und allmählichen Entwicklung an sich. Dasselbe ist der Fall mit der Kunst zu schreiben, da die Buchstaben Rudimente bildlicher Darstellungen sind. Es ist kaum möglich, Mr. M'Lennan's Werk319 zu lesen, ohne zuzugeben, daß fast alle civilisierten Nationen noch immer gewisse Spuren derartiger roher Gewohnheiten, wie des zwangweisen Gefangennehmens der Weiber, beibehalten. Welche Nation des Alterthums, fragt derselbe Schriftsteller, kann angeführt werden, welche ursprünglich monogam gewesen wäre? Die ursprüngliche Idee der Gerechtigkeit, wie sie sich durch das Gesetz des Kampfes und anderer Gebräuche zeigt, deren Spuren noch jetzt übrig sind, war gleichfalls äußerst roh. Viele noch jetzt existierende abergläubische Züge sind die Überbleibsel früherer falscher religiöser Glaubensansichten. Die höchste Form der Religion – die großartige Idee eines Gottes, welcher die Sünde haßt und die Gerechtigkeit liebt – war während der Urzeit unbekannt.
Wenden wir uns jetzt zu der anderen Form von Beweisen: Sir J. Lubbock hat nachgewiesen, daß einige Wilde neuerdings in einigen ihrer einfacheren Kunstfertigkeiten fortgeschritten sind. Nach dem äußerst merkwürdigen Berichte, welchen er von den Waffen, Werkzeugen und Künsten giebt, welche von Wilden in verschiedenen Theilen der Welt gebraucht oder geübt werden, läßt sich nicht daran zweifeln, daß dies fast alles unabhängige Entdeckungen gewesen sind, vielleicht mit Ausnahme der Kunst, Feuer zu machen.320 Der australische Bumerang ist ein gutes Beispiel einer solchen unabhängigen Entdeckung. Als man zuerst die Bewohner von Tahiti besuchte, waren sie in vielen Beziehungen gegen die Einwohner der meisten anderen polynesischen Inseln vorgeschritten. Für die Annahme, daß die hohe Cultur der eingeborenen Peruaner und Mexikaner aus irgend einer fremden Quelle geflossen sei, lassen sich keine triftigen Gründe anführen;321 viele eingeborene Pflanzen wurden dort cultiviert und einige wenige eingeborene Thiere domesticiert. Wir müssen im Auge behalten, daß eine wandernde Bootsmannschaft aus irgend einem halb civilisierten Lande, wenn sie an die Küsten von Amerika angetrieben worden wäre, nach dem geringen Einflüsse der meisten Missionäre zu urtheilen, keine ausgesprochene Wirkung auf die Eingeborenen geäußert haben würde, wenn diese nicht bereits in einem gewissen Grade fortgeschritten gewesen wären. Werfen wir unsern Blick auf eine äußerst entfernt zurückliegende Zeit in der Geschichte der Welt, so finden wir, um Sir J. Lubbock's bekannte Ausdrücke zu gebrauchen, eine palaeolithische und eine neolithische Periode: und Niemand wird behaupten, daß die Kunst, rohe Feuersteinwerkzeuge zu polieren, eine erborgte gewesen sei. In allen Theilen von Europa, und zwar im Osten bis nach Griechenland, dann in Palästina, Indien, Japan, Neu-Seeland und Afrika, mit Einschluß Egyptens, sind Feuersteinwerkzeuge in großer Menge entdeckt worden, und von ihrem Gebrauche hat sich bei den jetzigen Einwohnern auch nicht einmal eine Tradition erhalten. Wir haben auch indirecte Belege dafür, daß solche Werkzeuge früher von den Chinesen und alten Juden gebraucht wurden. Es besteht daher wohl kaum ein Zweifel darüber, daß die Bewohner dieser zahlreichen Länder, welche nahezu die ganze civilisierte Welt umfassen, einstmals in einem barbarischen Zustande sich befanden. Zu glauben, daß der Mensch vom Ursprung an civilisiert gewesen und dann in so vielen Gegenden einer Entartung unterlegen sei, hieße eine sehr erbärmliche Ansicht von der menschlichen Natur hegen. Allem Anscheine nach ist es eine richtigere und wohlthuendere Ansicht, daß Fortschritt viel allgemeiner gewesen ist als Rückschritt, daß der Mensch, wenn auch mit langsamen und unterbrochenen Schritten, sich von einem niedrigeren Zustande zu dem höchsten jetzt in Kenntnissen, Moral und Religion von ihm erlangten erhoben hat.
Fußnote
293 Fraser's Magazine. Sept. 1868, p. 353. Es scheint dieser Aufsatz viele Personen sehr frappiert zu haben; auch hat er zwei merkwürdige Abhandlungen hervorgerufen, ebenso eine Entgegnung in The Spectator, 3. Oct. und 17. Oct. 1868. Ebenso hat er Erörterungen veranlaßt im Quart. Journal of Science, 1869, p. 152, dann von Mr. Lawson Tait in: The Dublin Quart. Journ. Off Medical Science, Febr. 1869, und von E. Ray Lankester in seiner: Comparative Longevity. 1870, p. 128. Ähnliche Ansichten wurden früher schon geäußert in »Australasian« 12. Juli, 1867. Von mehreren dieser Schriftsteller habe ich Ideen entlehnt.
294 Wallace, in der Anthropolog. Review, am früher angeführten Orte; Galton, in Macmillan's Magazine, Aug. 1865, p. 318. s. auch sein größeres Werk »Hereditary Genius«. 1870.
295 Prof. H. Fick giebt (Einfluß der Naturwissenschaft auf das Recht, Juni 1872) mehrere gute Bemerkungen hierüber und über andere derartige Punkte.
296 Hereditary Genius, 1870, p. 132-140.
297 Quatrefages, Revue des Cours scientifiques, 1867-1868, p. 659.
298 s. die fünfte und sechste nach guten Quellen zusammengestellte Columne der Tabelle in E. Ray Lankester's Comparative Longevity. 1870, p. 115.
299 Hereditary Genius. 1870, p. 330.
300 Entstehung der Arten. 7. Aufl. p. 111.
301 Hereditary Genius. 1870, p. 347.
302 E. Ray Lankester, Comparative Longevity. 1870, p. 115. Die Tabelle der Unmäßigkeit ist aus Nelson's Vital Statistics. In Bezug auf Ausschweifungen s. Dr. Farr, Influence of Marriage on Mortality: Nat. Assoc. for the Promotion of Social Science. 1858.
303 Fraser's Magazine, Sept. 1868, p. 353. Macmillan's Magazine, Aug. 1865, p. 318. F. W. Farrar (Fraser's Magaz., Aug. 1870, p. 264) ist verschiedener Ansicht.
304 On the laws of the Fertility of Women, in: Transact. Roy. Soc Edinburgh. Vol. XXIV, p. 287, dann auch apart erschienen unter dem Titel: »Fecundity, Fertility and Sterility«, 1871. s. auch Galton, Hereditary Genius, p. 352 bis 357, wo sich Beobachtungen zu Gunsten der obigen Ansicht finden.