ab.
2. Beide behaupten die Möglichkeit nicht bloß partieller, sondern allgemeiner Krisen.
Hier hört aber die Gemeinsamkeit auf. Wenn Sismondi die Ursache der Krisen in dem niedrigen Stand der Löhne und in der beschränkten Konsumtionsfähigkeit der Kapitalisten sucht, so verwandelt Malthus umgekehrt die niedrigen Löhne in ein Naturgesetz der Bevölkerungsbewegung, für die beschränkte Konsumtion der Kapitalisten findet er aber Ersatz in der Konsumtion der Parasiten des Mehrwerts, wie Landadel, Klerus, deren Aufnahmefähigkeit für Reichtum und Luxus keine Schranken hat: Die Kirche hat einen guten Magen.
Und wenn beide, Malthus wie Sismondi, für das Heil der kapitalistischen Akkumulation und ihre Rettung aus der Klemme nach einer Kategorie von Konsumenten suchen, die kaufen ohne zu verkaufen, so sucht sie Sismondi zu dem Zwecke, um den Überschuß des gesellschaftlichen Produkts über die Konsumtion der Arbeiter und der Kapitalisten, also den kapitalisierten Teil des Mehrwerts, abzusetzen, Malthus - um den Profit überhaupt zu schaffen. Wie übrigens die Rentenempfänger und die Pfründner des Staates, die ja selbst erst ihre Kaufmittel hauptsächlich aus der Hand der Kapitalisten kriegen müssen, diesen letzteren durch das Abkaufen von Waren mit einem Preisaufschlag zur Aneignung des Profits verhelfen können, bleibt natürlich ein Geheimnis von Malthus. Bei so weitgehenden Gegensätzen ist die Waffengemeinschaft zwischen Malthus und Sismondi ziemlich oberflächlicher Natur gewesen. Und wenn Malthus die Sismondischen "Nouveaux principes", wie Marx sagt, zum malthusianischen Zerrbild gemacht hat, so macht Sismondi die Kritiken von Malthus gegen Ricardo etwas stark sismondisch, indem er nur das Gemeinsame hervorhebt und ihn als Kronzeugen zitiert. Andererseits unterliegt er freilich gelegentlich dem Malthusschen Einfluß, so, wenn er zum Teil dessen Theorie der staatlichen Verschwendung als eines Notbehelfs der Akkumulation übernimmt, die seinem eigenen Ausgangspunkt direkt zuwiderläuft.
Im ganzen hat Malthus weder zum Problem der Reproduktion etwas Eigenes beigetragen noch es begriffen, er dreht sich in seiner Kontroverse mit den Ricardianern wie diese in ihrer Kontroverse mit Sismondi hauptsächlich in den Begriffen der einfachen Warenzirkulation. Im Streit zwischen ihm und der Schule Ricardos handelte es sich um die unproduktive Konsumtion der Parasiten des Mehrwerts, es war ein Zank um die Verteilung des Mehrwerts, nicht ein Streit um die gesellschaftlichen Grundlagen der kapitalistischen Reproduktion. Die Malthussche Konstruktion fällt zu Boden, sobald man ihn auf seine absurden Schnitzer in der Theorie des Profits festgenagelt hat. Die Sismondische Kritik behauptet sich, und sein Problem bleibt ungelöst auch bei der Annahme der Ricardoschen Werttheorie mit allen ihren Konsequenzen.
Zweiter Waffengang.
Kontoverse zwischen Rodbertus und v. Kirchmann
Fünfzehntes Kapitel.
v. Kirchmanns Reproduktionstheorie
Auch die zweite theoretische Polemik um das Problem der Akkumulation hat ihren Anstoß von aktuellen Ereignissen bekommen. Wenn Sismondi zu seiner Opposition gegen die klassische Schule durch die erste englische Krise und die von ihr ausgelösten Leiden der Arbeiterklasse angeregt war, so schöpft Rodbertus fast fünfundzwanzig Jahre später den Anstoß zu seiner Kritik der kapitalistischen Produktion von der inzwischen aufgekommenen revolutionären Arbeiterbewegung. Die Aufstände der Seidenweber in Lyon, die Chartistenbewegung in England gellten ihre Kritik auf die herrlichste aller Gesellschaftsformen in die Ohren der Bourgeoisie noch ganz anders als die unbestimmten Gespenster, die die erste Krise auf den Plan gerufen hatte. Die früheste sozialökonomische Schrift Rodbertus', die wahrscheinlich aus dem Ende der 30er Jahre stammt und die, für die "Augsburger Allgemeine Zeitung" geschrieben, von dem genannten Blatte aber nicht aufgenommen war, trägt den bezeichnenden Titel "Die Forderungen der arbeitenden Classen" und beginnt mit den Worten: "Was wollen die arbeitenden Klassen? Werden die andern ihnen dies vorenthalten können? Wird das, was sie wollen, das Grab der modernen Kultur sein? - Daß einst mit großer Zudringlichkeit die Geschichte diese Fragen tun würde, wußte der Denkende längst, durch die Chartistenversammlungen und die Birminghamszenen hat es auch die Alltagswelt erfahren." Bald sollte in Frankreich in den 40er Jahren die lebhafteste Gärung der revolutionären Ideen in den verschiedensten geheimen Gesellschaften und sozialistischen Schulen der Proudhonisten, Blanquisten, der Anhänger Cabets, Louis Blancs usw. - zum Ausdruck kommen und in der Februarrevolution, in der Proklamierung des "Rechts auf Arbeit", in den Junitagen, in einer ersten Generalschlacht zwischen den zwei Welten der kapitalistischen Gesellschaft eine epochemachende Explosion der in ihrem Schoße verborgenen Widersprüche herbeiführen. Was die andere sichtbare Form dieser Widersprüche, die Krisen, betrifft, so verfügt man zu den Zeiten der zweiten Kontroverse über ein unvergleichlich reicheres Beobachtungsmaterial als zu Beginn der 20er Jahre des Jahrhunderts. Die Debatte zwischen Rodbertus und v. Kirchmann fand statt unter den unmittelbaren Eindrücken der Krisen von 1837, 1839, 1847, ja der ersten Weltkrise 1857 (die interessante Schrift Rodbertus' "Die Handelskrisen und die Hypothekennoth der Grundbesitzer" stammt aus dem Jahre 1858). Die inneren Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft gaben also vor den Augen Rodbertus' noch ganz anders eine grelle Kritik auf die Harmonielehren der englischen Klassiker und ihrer Vulgarisatoren in England wie auf dem Kontinent ab als zu den Zeiten, da Sismondi seine Stimme erhob.
Daß die Kritik von Rodbertus übrigens unter dem direkten Einfluß der Sismondischen stand, bezeugt ein Zitat aus Sismondi in seiner ältesten Schrift. Mit der französischen zeitgenössischen Literatur der Opposition gegen die klassische Schule war Rodbertus also wohl vertraut, vielleicht weniger mit der viel zahlreicheren englischen, in welchem Umstand bekanntlich die Legende der deutschen Professorenwelt über die sogenannte "Priorität" Rodbertus' vor Marx in der "Begründung des Sozialismus" ihre einzige schwache Wurzel hat. So schreibt Professor Diehl in seiner Skizze über Rodbertus im "Handwörterbuch der Staatswissenschaften":
"Rodbertus ist als der eigentliche Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus in Deutschland zu bezeichnen, denn schon vor Marx und Lassalle hatte er in seinen Schriften aus den Jahren 1839 und 1842 ein vollständiges sozialistisches System geliefert, eine Kritik des Smithianismus, eine neue theoretische Grundlage und soziale Reformvorschläge." Dies bieder, fromm und gottesfürchtig im Jahre 1901 (2. Auflage) - nach allem und trotz allem, was Engels, Kautsky und Mehring zur Zerstörung der professoralen Legende geschrieben hatten. Daß übrigens der monarchisch, national und preußisch gesinnte "Sozialist" Rodbertus, der Kommunist für die Zukunft nach 500 Jahren und für die Gegenwart Anhänger einer festen Ausbeutungsrate von 200 Prozent, gegenüber dem internationalen "Umstürzler" Marx in den Augen aller deutschen Gelehrten der Nationalökonomie ein für allemal die Palme der "Priorität" erringen mußte, versteht sich von selbst und kann durch die triftigsten Nachweise nicht erschüttert werden. Doch uns interessiert hier eine andere Seite der Rodbertusschen Analyse. Derselbe Diehl setzt seinen Panegyrikus folgendermaßen fort: "Doch nicht nur für den Sozialismus hat Rodbertus bahnbrechend gewirkt, sondern die gesamte nationalökonomische Wissenschaft verdankt ihm große Anregung und Förderung, die theoretische Nationalökonomie besonders durch die Kritik der klassischen Nationalökonomen, durch die neue Theorie der Einkommensverteilung, durch die Unterscheidung der logischen und historischen Kategorien von Kapital usw." Mit diesen letzteren Großtaten Rodbertus" namentlich mit den "usw.", wollen wir uns hier befassen.
Die Kontroverse zwischen Rodbertus und v. Kirchmann wurde angeregt durch die grundlegende Schrift des ersteren "Zur Erkenntniß unserer staatswirthschaftlichen Zustände" aus dem Jahre 1842. v. Kirchmann antwortete darauf in den "Demokratischen Blättern" in zwei Abhandlungen: "Über die Grundrente in socialer Beziehung" und "Die Tauschgesellschaft", worauf Rodbertus 1850 und 1851 mit den "Socialen Briefen" replizierte. Damit kam die Diskussion auf jenes theoretische Gebiet, auf dem dreißig Jahre früher die Polemik zwischen Malthus-Sismondi und Say-Ricardo-MacCulloch ausgefochten wurde. Rodbertus hatte bereits in seiner frühesten Schrift jenen Gedanken ausgesprochen, daß in der heutigen Gesellschaft bei der steigenden Produktivität der Arbeit der Arbeitslohn