seitdem und bis zu seinem Tode, also während dreier Jahrzehnte, immer nur zu wiederholen und zu variieren verstand. In dieser fallenden Lohnquote erblickt Rodbertus die gemeinsame Wurzel aller Übel der heutigen Wirtschaft, namentlich des Pauperismus und der Krisen, die er zusammen als "die soziale Frage der Gegenwart" bezeichnet.
v. Kirchmann ist mit dieser Erklärung nicht einverstanden. Er führt den Pauperismus auf die Wirkungen der steigenden Grundrente zurück, die Krisen aber auf den Mangel an Absatzwegen. Von diesem behauptet er namentlich, daß "der größte Teil der sozialen Übel nicht in der mangelnden Produktion, sondern in dem mangelnden Absatze der Produkte liege; daß ein Land, je mehr es zu produzieren vermöge, je mehr es Mittel habe, alle Bedürfnisse zu befriedigen, desto mehr der Gefahr des Elends und Mangels ausgesetzt sei". Auch die Arbeiterfrage ist hier mit begriffen, denn "das berüchtigte Recht auf Arbeit löse sich am Ende auf in eine Frage der Absatzwege". "Man sieht", folgert v. Kirchmann, "daß die soziale Frage beinahe identisch ist mit der Frage nach den Absatzwegen. Selbst die Übel der vielgeschmähten Konkurrenz werden mit sicheren Absatzwegen verschwinden; es wird nur das Gute an ihr bleiben; es wird der Wetteifer bleiben, gute und billige Waren zu liefern, aber es wird der Kampf auf Tod und Leben verschwinden, der nur in den für alle ungenügenden Absatzwegen seinen Grund hat."98
Der Unterschied zwischen dem Gesichtswinkel Rodbertus' und v. Kirchmanns springt in die Augen. Rodbertus sieht die Wurzel des Übels in einer fehlerhaften Verteilung des Nationalprodukts, v. Kirchmann in den Marktschranken der kapitalistischen Produktion. Bei allem Konfusen in den Ausführungen v. Kirchmanns, namentlich in seiner idyllischen Vorstellung von einer auf löblichen Wetteifer um die beste und billigste Ware reduzierten kapitalistischen Konkurrenz sowie in der Auflösung des "berüchtigten Rechts auf Arbeit" in die Frage der Absatzmärkte, zeigt er doch zum Teil mehr Verständnis für den wunden Punkt der kapitalistischen Produktion: ihre Marktschranken, als Rodbertus, der an der Frage der Verteilung haftet. Es ist also v. Kirchmann, der diesmal das Problem wieder aufnimmt, das früher von Sismondi auf die Tagesordnung gestellt war. Bei alledem ist v. Kirchmann mit der Beleuchtung und Lösung des Problems durch Sismondi keineswegs einverstanden, er steht eher auf seiten der Opponenten Sismondis. Er akzeptiert nicht nur die Ricardosche Theorie der Grundrente, nicht nur das Smithsche Dogma, "daß die Preise der Waren sich nur aus den zwei Teilen, aus dem Kapitalzins und dem Arbeitslohn, zusammensetzen" (v. Kirchmann verwandelt den Mehrwert in "Kapitalzins"), sondern auch den Say-Ricardoschen Satz, daß Produkte nur mit Produkten gekauft werden und die Produktion ihren eigenen Absatz bilde, so daß, wo auf der einen Seite zuviel produziert zu sein scheine, auf der anderen Seite nur zuwenig produziert sei. Man sieht, v. Kirchmann folgt den Spuren der Klassiker, aber allerdings ist das eine "deutsche Klassikerausgabe" - mit allerlei Wenn und Aber. So findet v. Kirchmann zunächst, daß das Saysche Gesetz des natürlichen Gleichgewichts zwischen Produktion und Nachfrage "die Wirklichkeit noch nicht erschöpfe", und er fügt hinzu: "Es liegen noch andere Gesetze in dem Verkehr verborgen, welche die reine Verwirklichung dieser Sätze verhindern und durch deren Auffindung allein die gegenwärtige Überfüllung der Märkte erklärt werden kann, durch deren Auffindung aber vielleicht auch der Weg entdeckt werden kann, diesem großen Übel aus dem Wege zu gehen. Wir glauben, daß drei Verhältnisse in dem gegenwärtigen Systeme der Gesellschaft es sind, welche diese Widersprüche zwischen jenem unzweifelhaften Gesetze Says und der Wirklichkeit herbeiführen." Diese Verhältnisse sind: die "zu ungleiche Verteilung der Produkte" - hier neigt sich v. Kirchmann, wie wir sehen, in gewissem Maße dem Standpunkt Sismondis zu -, die Schwierigkeiten, welche die Natur der menschlichen Arbeit in der Rohproduktion bereitet, endlich die Mangelhaftigkeit des Handels als der vermittelnden Operation zwischen Produktion und Konsumtion. Ohne uns auf die beiden letzten "Hindernisse" des Sayschen Gesetzes näher einzulassen, betrachten wir die Argumentation v. Kirchmanns im Zusammenhang mit dem ersten Punkt:
"Das erste Verhältnis", erklärt er, "kann kürzer dahin ausgedrückt werden, 'daß der Arbeitslohn zu niedrig steht', daß daraus eine Stockung des Absatzes entsteht. Für denjenigen, der weiß, daß die Preise der Waren sich nur aus den zwei Teilen, aus dem Kapitalzins und dem Arbeitslohn, zusammensetzen, kann dieser Satz auffallend erscheinen; ist der Arbeitslohn niedrig, so sind auch die Warenpreise niedrig, und sind jene hoch, so sind auch diese hoch. (Man sieht, v. Kirchmann akzeptiert das Smithsche Dogma auch noch in seiner verkehrtesten Fassung: nicht der Preis löst sich in Arbeitslohn + Mehrwert auf, sondern er setzt sich als einfache Summe aus ihnen zusammen - eine Fassung, in der Smith sich von seiner Arbeitswerttheorie am weitesten entfernt hatte. - R. L.) Lohn und Preis stehen so in geradem Verhältnis und gleichen sich einander aus. England hat nur deshalb seine Getreidezölle und seine Zölle auf Fleisch und andere Lebensmittel aufgehoben, um die Arbeitslöhne sinken zu machen und so den Fabrikanten in den Stand zu setzen, durch noch billigere Ware auf den Weltmärkten jeden anderen Konkurrenten zu verdrängen. Es ist indes dies nur zum Teil richtig und berührt nicht das Verhältnis, in dem sich das Produkt zwischen Kapital und Arbeiter verteilt. In der zu ungleichen Verteilung zwischen diesen beiden liegt der erste und wichtigste Grund, weshalb Says Gesetz sich in der Wirklichkeit nicht vollzieht, weshalb trotz der Produktion in allen Zweigen doch alle Märkte an Überfüllung leiden." Diese seine Behauptung illustriert v. Kirchmann ausführlich an einem Beispiel. Nach dem Muster der klassischen Schule werden wir natürlich versetzt in eine imaginäre isolierte Gesellschaft, die ein widerstandsloses, wenn auch nicht dankbares Objekt für die nationalökonomischen Experimente darbietet.
Man stelle sich einen Ort vor - suggeriert uns v. Kirchmann -, der ausgerechnet 903 Einwohner umfaßt, und zwar 3 Unternehmer mit je 300 Arbeitern. Der Ort befriedige alle Bedürfnisse seiner Einwohner durch eigene Produktion, und zwar in drei Unternehmungen, von denen die eine für Kleidung sorgt, die zweite für Nahrung, Licht, Feuerung und Rohstoffe, die dritte für Wohnung, Möbel und Werkzeuge. In jeder dieser drei Abteilungen liefere der Unternehmer "das Kapital samt Rohstoffen". Die Entlohnung der Arbeiter erfolgt in jedem dieser drei Geschäfte so, daß die Arbeiter die Hälfte des jährlichen Produkts als Lohn erhalten und der Unternehmer die andere Hälfte "als Zins seines Kapitals und als Unternehmergewinn". Die von jedem Geschäft gelieferte Menge Produkt reiche gerade hin, um alle Bedürfnisse sämtlicher 903 Einwohner zu decken. So enthält dieser Ort "alle Bedingungen eines allgemeinen Wohlseins" für seine sämtlichen Einwohner, alles macht sich demgemäß frisch und mutig an die Arbeit. Aber nach wenigen Tagen wandelt sich Freude und Wohlgefallen in allgemeinen Jammer und in Zähneklappern, es passiert nämlich auf der v. Kirchmannschen Insel der Glückseligen etwas, was man dort sowenig erwarten mochte wie den Einsturz des Himmels: Es bricht eine regelrechte moderne Industrie- und Handelskrise aus! Die 900 Arbeitet haben nur die allernotdürftigste Kleidung, Nahrung und Wohnung, die drei Unternehmer aber haben ihre Magazine voll Kleider und Rohstoffe, sie haben Wohnungen leer stehen; sie klagen über Mangel an Absatz, während die Arbeiter umgekehrt über unzureichende Befriedigung ihrer Bedürfnisse klagen. Und woher illae lacrimae? Etwa weil, wie Say und Ricardo annahmen, von den einen Produkten zuviel und von den anderen zuwenig da sei? Mitnichten! antwortet v. Kirchmann; in dem "Ort" gibt es von allen Dingen eine wohlproportionierte Menge, die alle just ausreichen würden, um sämtliche Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. Woher also "das Hemmnis", die Krise? Das Hemmnis liegt einzig und allein in der Verteilung. Doch das will in eigenen Worten v. Kirchmanns genossen werden: "Das Hemmnis, daß dieses (glatter Austausch) dessenungeachtet nicht geschieht, liegt lediglich und allein in der Verteilung dieser Produkte; die Verteilung erfolgt nicht gleich unter alle, sondern die Unternehmer behalten als Zins und Gewinn die Hälfte für sich und geben nur die Hälfte an ihre Arbeiter. Es ist klar, daß der Kleiderarbeiter sich deshalb mit seinem halben Produkt auch nur die Hälfte der Produkte an Nahrung und Wohnung und so fort eintauschen kann, und es ist klar, daß die Unternehmer ihre andere Hälfte nicht loswerden können, weil kein Arbeiter noch ein Produkt hat, um sie von ihnen eintauschen zu können. Die Unternehmer wissen nicht wohin mit ihrem Vorrat, die Arbeiter wissen nicht wohin mit ihrem Hunger und ihrer Blöße." Und die Leser - fügen wir hinzu - wissen nicht wohin mit den Konstruktionen des Herrn v. Kirchmann. Das Kindische seines Beispiels stürzt uns in der Tat aus einem Rätsel ins andere.
Zunächst ist ganz unerfindlich, auf welcher Grundlage und zu welchem Zweck die Dreiteilung der Produktion fingiert ist. Wenn in den analogen Beispielen Ricardos und MacCullochs gewöhnlich