zu. »Zeit fürs Bett!«, sage ich mit Nachdruck. »Ihr müsst schließlich morgen wieder in die Schule – und in den Kindergarten.«
»Papa, dürfen wir heute bei Tobi und dir schlafen?« Charlotte sieht mich bittend an.
»Nein. Ihr wisst doch, dass es nachts zu unruhig im Elternschlafzimmer ist, wenn die Pumpe wieder piept. Ihr braucht auch euren Schlaf. Na los.« Ich drücke sie an mich und gebe ihr einen Kuss. Sie sieht enttäuscht zu Boden. Dann geht sie Richtung Kinderzimmer. Ich schaue ihr mit gemischten Gefühlen nach.
In dieser Nacht wache ich sechsmal auf. Nicht unsere beste, aber auch nicht unsere schlechteste Nacht. Nichtsdestotrotz bin ich am Morgen müde. Diese andauernde Müdigkeit, diese tiefe innere Erschöpfung ist zu meinem stetigen Begleiter geworden. An eine Zeit ohne sie kann ich mich kaum noch erinnern – und ich kann mir so eine Zeit für die Zukunft in meinem müden Kopf gerade nicht mehr richtig vorstellen. Manchmal komme ich mir so vor, als laufe ich auf Autopilot.
Gleichzeitig werden durch die Sorge um Tobis Wohlergehen Kräfte freigesetzt, mit denen ich nie gerechnet hätte. Während meiner Zeit bei der Bundeswehr habe ich die Nachtwachen immer gehasst und war am nächsten Morgen stets im Eimer. Doch nun, wo ich nachts mehr als zwei- oder dreimal aufwache und zutiefst erschöpft bin, schaffe ich es, meine Tage zu meistern. Dabei sind es vor allem die Kinder, die mich aufrecht halten, denke ich.
Dafür, dass Tobi auch immer wieder von seiner piepsenden Ernährungspumpe aus dem Schlaf gerissen wird, ist er erstaunlich ausgeruht. Er steckt das deutlich leichter weg als ich. Und man merkt ihm an, wie gerne er jeden Morgen in den Kindergarten geht.
Tobias war von Anfang an ein aufgeweckter Junge, der alles wissen, alles verstehen wollte. Da freuten wir uns ganz besonders, dass der Kindergartenbesuch nach Absprache mit den Ärzten für ihn möglich war. Das war im Oktober 2012, Tobi war dreieinhalb Jahre alt.
Die Ernährungspumpe musste er glücklicherweise nicht mitnehmen. Da der Nahrungsbrei in kürzerer Zeit in seinen Magen gepumpt wurde, genügte es, wenn die Pumpe nachmittags, abends und nachts lief. Das brachte unserem Jungen eine nahezu ungewohnte Freiheit. Und da er mittlerweile auch selbst essen konnte, packte Elisabeth ihm immer eine Vesperdose mit ganz verschiedenen Leckereien ein – so war die Chance groß, dass etwas dabei war, das er an diesem Tag gerne mochte.
Vor dem ersten Kindergartentag traf sich Elisabeth mit den Erzieherinnen und besprach mit ihnen, was sie beachten mussten. Wegen der Infektionsgefahr durfte Tobi nicht aus dem gleichen Becher wie andere Kinder trinken, nicht in der Matratzenecke spielen und nicht auf die Kindertoilette. Wenn er auf die Toilette musste, gingen die Erzieherinnen mit ihm aufs Mitarbeiter-WC, das sie vorher desinfizierten. Und natürlich mussten beim Spielen und Toben alle darauf achten, dass unser Sohn sich nichts brach.
Der erste Tag im Kindergarten war komplett entspannt, sowohl für Tobi als auch für uns. Er hatte seine Schwestern und Cousinen schon häufig begleitet, wenn Elisabeth oder seine Tante sie morgens hingebracht hatten. Henriette war zwar mittlerweile in der Schule, aber Charlotte ging mit ihren fünf Jahren noch in den Kindergarten und so verschwand Tobi mit ihr im Inneren des Hauses, ohne dass es Tränen gegeben hätte.
Er hatte großen Spaß beim Spielen mit den anderen Kindern und fand schnell Freunde. Besonders gerne mochte er Tom und Lasse. Aus Hygienegründen durfte Tobi nicht in den Sandkasten, aber seine Freunde schaufelten extra für ihn Sand auf den Rand, damit er mitspielen konnte.
Auch die Erzieherinnen hatten ihn ins Herz geschlossen. Tobi sprach gerne mit anderen und unterhielt sich über alles Mögliche, das ihm so durch den Kopf ging. Wenn er etwas Interessantes sah, hatte er schnell Ideen, was sich daraus basteln ließe, und erzählte den anderen davon. Er half, wo er nur konnte. Wenn die Erzieherinnen die Bastelsachen für den nächsten Tag herauslegten, ging er ihnen zur Hand. Und wenn unser Jüngster wieder einmal krank war und zu Hause bleiben musste, gaben sie Lotte immer wieder kleine Briefe für ihn mit.
Eines Tages erzählte Tobias mir ganz stolz, dass er einem Jungen geholfen habe, seine Brotdose aufzubekommen. »Bist du stärker als der andere Junge?«, fragte ich ihn ein wenig erstaunt, wohl wissend, dass mein Sohn eigentlich nicht sehr kräftig war.
»Nee, Papa«, schüttelte er den Kopf. »Aber er hat den Verschluss nicht aufbekommen, und ich hab ihm gezeigt, wie das geht.«
»Du bist ein richtig kluger Kopf!«, lobte ich ihn und sah das glückliche Strahlen in seinen Augen. Er lechzte förmlich danach, anderen helfen und auch etwas geben zu können. Vielleicht, weil er selbst oft so hilfsbedürftig war. Er war unglaublich stolz darauf, etwas beitragen zu können. Und wenn andere sich über seine Hilfe freuten, war das für ihn die größte Belohnung.
Das zeigte sich auch an Tobis Holz-Expeditionen. Auf dem Gelände des Kindergartens standen viele alte Bäume und wenn es windig war, lagen danach immer Äste auf dem Boden. Tobi sammelte sie jedes Mal auf und wenn es zu viele waren und er sie nicht tragen konnte, legte er sie in sein »Versteck«. Wenn Elisabeth ihn dann abholte, nahm er die Äste und Zweige mit nach Hause. In der Garage hatten wir eine Kiste, in der wir sie sammelten. Unser Sohn freute sich über jedes Stückchen Holz, das er dafür gefunden hatte, und das aus gutem Grund: Elisabeth buk unser Brot in einem Holzbackofen und jeder einzelne von Tobis gesammelten Ästen wurde mit zum Feuermachen verwendet.
Wir waren froh, dass Tobias so schnell Freunde fand und Spaß beim Spielen mit den anderen Kindern hatte. Trotz seiner Krankheit war er immer ein geselliges Kind. Auch zu Hause spielte er gerne mit seinen Schwestern, Cousinen und Cousins. An Ostern kurz vor seinem vierten Geburtstag schenkten seine Großmutter und sein Patenonkel Wilhelm unserem Sohn einen Traktor mit Pedalen. Eigentlich bekamen die Kinder zu Ostern außer Ostereiern und einigen Süßigkeiten nicht viel, doch wegen Tobis Krankheit machten wir eine Ausnahme für alle.
Der Traktor hatte nicht nur einen, sondern gleich zwei Anhänger: einen Kipper und ein Güllefass. Weil Tobias nicht genügend Kraft in den Beinen hatte, um selbst zu strampeln, schoben seine Schwestern und die anderen Kinder ihn durch den Garten und über den Bürgersteig. Das Güllefass konnte man mit Wasser füllen – wenn man dann pumpte, konnte man das Wasser durch die mit dem Fass verbundene Spritze ein ganzes Stück weit schießen. Damit ließ sich doch einiges an Schabernack treiben.
Tobis Cousin Lukas, der elf Jahre älter war, stellte sich als der perfekte Streichpartner heraus. Er füllte das Güllefass mit dem Gartenschlauch. Dann schob er Tobi mit dem Traktor bis unter den Kirschbaum in unserem Garten, von dem aus man einen guten Blick auf die Straße hatte. Während Lukas sich an die Pumpe stellte, richtete Tobi die Spritze mit einem schelmischen Grinsen auf Bürgersteig und Straße und wartete, ob er jemandem einen Streich spielen könnte. Als ein Auto vorbeifuhr, fing Lukas an zu pumpen. Tobi traf mit der Spritze und freute sich diebisch. Beim nächsten vorbeifahrenden Auto schaffte er es sogar, einen Wasserstrahl ins offene Autofenster zu schießen. Gebannt schaute er dem Auto nach – glücklicherweise hielt es nicht an, sonst hätten sich die beiden Jungs sicherlich etwas anhören können!
Das war vor einem halben Jahr gewesen. Damals wussten wir noch nicht, ob wir jemals eine Diagnose bekämen und wüssten, woran Tobi eigentlich litt. Doch nächste Woche würden wir mehr wissen. Endlich.
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