hatte, war Tobias ein ganz normaler Junge. Seine Schwestern spielten gerne mit ihm. Er war meistens fröhlich und weinte nur selten. Als Henriette wieder einmal einen ganzen Nachmittag damit beschäftigt war, den Ernährungsrucksack durch die Räume zu tragen, damit Tobi ein bisschen was von seiner kleinen Welt sah, musste ich schmunzeln.
»Gehst du mit deinem Bruder spazieren?«, fragte ich sie augenzwinkernd.
»Na klar!« Henriette strahlte. »Tobi ist mein Baby und ich zeig ihm alles!«
Ihre kindliche Hingabe rührte mich und ich sah ihnen noch ein wenig bei ihren Erkundungstouren zu. In den Momenten mit seinen Schwestern konnte unser Sohn wirklich Kind sein. Sonst war er doch sehr oft mit der Welt der Erwachsenen konfrontiert, mit Ärzten, Krankenschwestern und -pflegern, Physio- und Ergotherapeuten.
Als ich vor meinem Auto stehe, kehre ich aus meinen Erinnerungen in die Gegenwart zurück. Ein arbeitsreicher Tag liegt vor mir, und ich muss mir Mühe geben, nicht immer wieder an den Arzttermin in Freiburg zu denken. Ich setze mich hinter das Steuer und fahre los.
Es ist bereits dunkel, als ich am Abend nach Hause zurückkehre. An den Straßenlaternen leuchten Weihnachtsornamente und werfen glänzende Lichtpunkte auf den feuchten Asphalt. Als ich in unsere Straße einbiege, kommt mir ein Polizeiwagen entgegen. Ich muss daran denken, wie Tobi und ich unser erstes – zugegeben etwas unangenehmes – Zusammentreffen mit der Polizei hatten.
Am liebsten war Tobi überall dabei. Er schaute seiner Mutter und mir gerne zu, wenn wir im Haus oder im Garten arbeiteten. Auch wenn wir am Sonntag mit den Mädchen in die Kinderkirche gingen – so heißt der Kindergottesdienst bei uns in der Kirchengemeinde –, kam er mit. Da Elisabeth und ich den Kindergottesdienst gestalteten, war es schön, dass alle unsere Kinder dabei waren. Tobi lag oder saß in seinem Wagen, lauschte andächtig den Geschichten aus der Bibel und freute sich über die Lieder. Musik mochte er immer schon gerne und das blieb so.
Doch leider konnte er eben nicht überall dabei sein. Wenn wir mit den Mädchen ins Hallenbad oder ins Freibad gingen, blieb immer einer von uns mit unserem Sohn zu Hause, da die Infektionsgefahr einfach zu groß war. Auch auf den Spielplatz oder Laufrad fahren durfte er nicht. Wenn ein Plumps aus dreißig Zentimetern Höhe schon zu einem Bruch führte, was wäre bei einem Sturz vom Klettergerüst passiert?! Doch wir sorgten für Ersatz, der ihm Spaß machte.
Von Anfang an faszinierten unseren Sohn Traktoren und Landwirtschaftsmaschinen. Ich hatte eine alte grüngelbe Zugmaschine, die ihm besonders gefiel. Manchmal fuhr ich mit Tobi auf dem Schoß durch die Gegend und er jauchzte vor Begeisterung und hüpfte auf und ab. Eines Vormittags, Tobi war zwei Jahre alt, machten wir solch einen kleinen Ausflug. Es war ein ruhiger Samstag. Wir fuhren gerade durch unsere Straße, eine Tempo-30-Zone, als ich bemerkte, dass uns ein Polizeiauto hinterherfuhr. Als ich auf Höhe unserer Garage anhielt, stoppte das Polizeiauto ebenfalls. Die beiden Polizisten, die darin saßen, stiegen aus.
Der Jüngere der beiden kam auf mich zu. Er räusperte sich: »Sie wissen schon, dass das gefährlich ist, was Sie da tun, mit dem Kind auf dem Schoß auf der Straße fahren?«, sagte er mit kritisch hochgezogenen Augenbrauen.
»Der Kleine hat so viel Spaß und hier in der 30er-Zone kann ja nicht wirklich was passieren«, versuchte ich das Ganze etwas herunterzuspielen.
»Außerdem ist der TÜV seit über einem Jahr abgelaufen«, sagte der zweite Polizist und kam hinter dem Traktor hervor.
Mist – das hatte ich in dem ganzen Hin und Her von Tobis Krankenhausaufenthalten völlig vergessen. »Können Sie nicht noch mal ein Auge zudrücken? Ich hole den TÜV auch so schnell wie möglich nach.«
»Wenn das jetzt ein Monat wäre, könnte man ja noch drüber reden. Aber über ein Jahr!« Der Polizist schüttelte bestimmt den Kopf. »Das geht leider gar nicht.«
»Da müssen wir Ihnen ein Bußgeld ausstellen«, pflichtete ihm sein Kollege bei. »Für den TÜV und für Ihr verkehrsgefährdendes Verhalten. Wenn Sie jetzt einen Unfall gehabt hätten, hätte Ihrem Jungen sonst was passieren können. Oder wenn er Ihnen vom Schoß gesprungen wäre und Sie deshalb einen Unfall gebaut hätten. Das sollten Sie wirklich nicht mehr tun.« Ich konnte ihn ja verstehen, aber Tobi freute sich immer so sehr, wenn wir zusammen Traktor fuhren.
Im Endeffekt bekam ich zwei Bußgelder – eins für den TÜV und eins für die Gefährdung – und fünf Punkte in Flensburg. Das tat schon ein bisschen weh. Danach fuhr ich nicht mehr mit Tobi auf dem Traktor über öffentliche Straßen. Er war sehr enttäuscht und verzog traurig die Mundwinkel nach unten, als ich das nächste Mal, als er fahren wollte, den Kopf schüttelte. Aber ich fand eine andere Lösung. Ich fuhr mit dem Traktor auf unsere Obstwiesen, die in der Nähe lagen, und Elisabeth und die Kinder fuhren mit dem Auto hinterher. Die Obstwiesen waren Privatgelände und so konnte ich mit Tobi und den Mädchen nach Herzenslust fahren, ganz ohne Gefahr. Der Spaß war gerettet.
Ich schließe die Wohnungstür auf und begrüße Elisabeth und die Kinder. Der Abendbrottisch ist bereits gedeckt und ich setze mich hungrig zu meiner Familie. »Und, wie war euer Nachmittag?«, frage ich in die Runde.
»Wir haben gebastelt«, antwortet Charlotte mit geheimnisvollem Flüstern. »Weihnachtsgeschenke!« Henriette und Tobias grinsen einander wissend an.
»Oho«, sage ich mit gewichtiger Miene. Tobi fängt an zu kichern.
In diesem Moment kommt Elisabeth mit einem Teller Aufschnitt aus der Küche und setzt sich zu uns. Bevor wir anfangen, bete ich: »Segne, Vater, diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise. Amen.« Meistens spreche ich unser gemeinsames Gebet. Es ist mehr als ein schönes Ritual. Wir haben allen Grund, Gott dankbar zu sein. Elisabeth und mir ist es wichtig, die Kinder mit in diesen Dank einzubeziehen. Uns immer wieder bewusst zu machen, dass unser Vater im Himmel für uns sorgt und es gut mit uns meint.
Die Kinder lassen es sich schmecken. Tobi war noch nie ein guter Esser und je nach Tagesform geht es mal besser, mal schlechter. Heute knabbert er ein bisschen an seinem Brot, aber nach einer halben Scheibe schiebt er den Teller weg. »Ich bin satt«, sagt er bestimmt.
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Probier doch noch ein bisschen Käse«, versuche ich ihn zu locken. »Der ist so lecker!«
Tobi seufzt. »Nö, ich hab keinen Hunger mehr.«
»Und wenn du ein bisschen Heidelbeerjoghurt isst?«, schlage ich vor. Tobis Augen beginnen zu leuchten. Er liebt Heidelbeerjoghurt, überhaupt mag er Obst sehr gerne.
»Na gut«, sagt er ein bisschen gönnerhaft und schaut mich erwartungsvoll an. Ich hole den Joghurt und bin erleichtert, dass mein Sohn immerhin fast den ganzen Becher löffelt. Als er den Löffel weglegt, fische ich noch eine große Heidelbeere aus den Tiefen des Bechers.
»Magst du die nicht mehr?«
Tobi überlegt. »Die passt vielleicht noch rein«, verkündet er nach kurzer Bedenkzeit. Lächelnd reiche ich ihm den Löffel. Ein kleiner Erfolg. Dabei fällt mir wieder ein, wie Tobias damals Essen und Schlucken völlig neu lernen musste.
Tobias war zweieinhalb Jahre alt und trotz seines Entdeckerdrangs wollte er eines nicht: Essen. Und das obwohl er jetzt, wo es ihm besser ging, wieder damit anfangen sollte. Durch die Magensonde hatte er das Schlucken von fester Nahrung völlig verlernt. Er trank zwar normal, aber wenn wir in der Familie aßen, saß er nur dabei und wollte nichts probieren. Schließlich besprachen wir uns mit Tobis Ärzten und beschlossen, dass unser Sohn die Hilfe einer Esstherapeutin bekommen sollte.
Unser Kinderarzt empfahl uns eine Logopädin in Reutlingen, die einen sehr guten Ruf hatte. Er warnte uns aber, dass ihre Warteliste sehr lang sei und wir wahrscheinlich keinen Platz bekommen würden. Ich rief sie an. Nachdem ich ihr von Tobias und seiner Krankheit erzählt und sie um einen Termin gebeten hatte, sagte sie sofort zu, ihn zu behandeln. Elisabeth, Tobi und ich fuhren also kurz darauf ins nahe gelegene Reutlingen zu unserem ersten Treffen.
Als die Logopädin uns öffnete, war ich beeindruckt. Ihre Ausstrahlung war so freundlich und gleichzeitig stark, dass wir uns direkt in guten Händen fühlten. Sie war eine große Frau