Johannes Roller

Sonnenfarben


Скачать книгу

über eine Nasensonde mit sehr kalorienreicher Nahrung zu versorgen, scheiterte leider, weil Tobi auch diese nach kurzer Zeit wieder erbrach. Die Tücher, die wir unterlegten, mussten vorher und nachher gewogen werden, damit wir feststellen konnten, wie viel er wirklich im Magen behalten hatte. Es war nie viel.

      Die Ärzte entschieden sich schließlich dafür, ihm eine PEG-Sonde zu legen: eine Magensonde, über die Spezialnahrung direkt in seinen Magen gelangen konnte. Dieser flüssige Nahrungsbrei war so zusammengesetzt, dass er nicht erst verdaut werden musste und die Nährstoffe schnell ins Blut gingen. Gleichzeitig mit der PEG-Sonde wurde außerdem ein Hickman-Katheter eingesetzt – ein Zugang, über den Blutabnahme und Infusionen stattfanden, ohne dass Tobi jedes Mal gestochen werden musste. Zumindest diese Hoffnung hatte sich erfüllt.

      Mehrmals am Tag telefonierte ich mit Elisabeth und den Mädchen. Die beiden erzählten in ihrer kindlichen Unbekümmertheit, was sie im Kindergarten, mit Mama oder Oma erlebt hatten. Ich erzählte ihnen dafür von Tobi. Die ganze Schwere der Situation hielten wir so gut wie möglich von ihnen fern. Als wir sie einmal fragten, weswegen Tobi im Krankenhaus wäre, schaute Lotte uns mit großen Augen an und antwortete dann überzeugt: »Schnupfen!«

      Trotzdem litten unsere Töchter unter der Trennung, die wir als Familie durchmachen mussten, so tapfer sie auch waren. Bei den Telefongesprächen mit Elisabeth oder mir fragten sie immer, wann wir nach Hause kämen. Am schwersten war es für Charlotte. Henriette ging schon in den Kindergarten, ihr Tagesablauf änderte sich also nicht so gravierend. Doch Lotte war die ganze Zeit zu Hause. Wenn Elisabeth bei den Mädchen war, ging es noch einigermaßen, da sie die ganze Zeit bei ihnen blieb.

      Ich hingegen war im Büro. Und wenn ich länger arbeiten musste, weil ich noch eine Sitzung oder Abendveranstaltung hatte, holte ich meine schlafenden Töchter bei meiner Mutter oder meinem Bruder ab. Ich trug sie dann nach Hause. Wie oft weinten sie sich in den Schlaf, wenn ich zu spät kam. Jedes Mal, wenn meine Mutter oder meine Schwägerin davon erzählten, fühlte ich einen Stich. Aber ich musste doch schließlich irgendwann arbeiten. Meinem schlechten Gewissen half das allerdings nicht wirklich. Denn die Zeit, die ich an Tobis Krankenbett verbrachte, war nicht durch die Arbeit begrenzt. Zeit, die den Mädchen fehlte. Zeit, die ich nicht besser aufteilen konnte, weil ich einfach nicht wusste, wie ich es sonst hätte tun sollen. Die Mädchen durften immerhin mit im Elternbett schlafen. Es war so wichtig für sie, das merkte ich. Und ich wollte, dass sie spürten, wie wichtig sie für mich waren.

      Auch an diesen Abenden telefonierte ich mit Elisabeth. Sie hielt Tobi dann das Mobiltelefon hin und ich sprach mit ihm oder pfiff ihm Lieder zum Einschlafen vor.

      Wenn wir einander in München ablösten, war das ebenfalls nicht leicht. Als Elisabeth zum ersten Mal kam, um für zwei Wochen bei unserem Sohn zu bleiben, wollte Tobi mich gar nicht gehen lassen. Er versuchte, mich mit seinen kleinen Händchen festzuhalten, und weinte dabei die ganze Zeit. Ich zögerte den Abschied so lange wie möglich hinaus. Doch schließlich musste ich mich losreißen, meine Mädchen warteten zu Hause.

      Tobis kleine, weinende Gestalt in seinem Krankenbett zerriss mir fast das Herz. Jeder Schritt von ihm weg fühlte sich irgendwie schmerzhaft an. Meine Beine waren schwer, alles war schwer. Unterwegs konnte ich mich kaum auf die Fahrt konzentrieren. Ich rief Elisabeth im Krankenhaus an. Tobi weinte immer noch. Ich versuchte, ihn zu beruhigen, pfiff ihm Lieder vor. Ich war bestimmt eine Stunde am Telefon, bevor es wieder einigermaßen ging.

      Dieser Abschied sollte nicht der letzte sein, der so schwierig war. Unser Sohn war dadurch, dass ich von Anfang an so viel Zeit mit ihm verbracht hatte, so sehr auf mich fixiert, dass es jedes Mal ein Drama war, wenn ich gehen musste. Und mir fiel jeder Abschied von ihm genauso schwer.

      Die Zeit in München zehrte an unseren Kräften. Wenn Tobi eingeschlafen war, hätten wir eigentlich die Chance gehabt, das Zimmer zu verlassen und etwas anderes zu sehen als Gitter, Krankenhauseinrichtung und Maschinen. Doch Tobi hatte einen leichten Schlaf und sein Unterbewusstsein registrierte sofort, wenn der Elternteil, der bei ihm wachte, aus dem Raum ging. So fröhlich und entspannt er sonst war – in diesen Momenten fing er an zu weinen. Das bedeutete, dass wir nur selten das Zimmer verlassen konnten und auch in den langen Nächten wenig Ruhe fanden. Ich schlief in keiner dieser Nächte mehr als eine Stunde am Stück und merkte, wie die ganze Situation mehr und mehr ihren Tribut forderte.

      Während dieser Zeit hatte ich ein geschäftliches Meeting, das der Vorstand extra wegen mir in die Nähe des Münchner Krankenhauses verlegt hatte. Wir trafen uns in der Straße der Klinik, um beim Abendessen alles Nötige zu besprechen. Das Meeting dauerte für mich nicht sehr lange. Das Essen hatte gerade begonnen, als ich spürte, wie es in meiner Jackentasche vibrierte. Ich zog mein Telefon heraus und nahm das Gespräch an.

      »Herr Roller?«, sagte eine der Krankenschwestern von Tobis Station. »Es tut mir leid, dass ich Sie stören muss, aber Tobi weint die ganze Zeit. Können Sie kommen? Wir wissen nicht, was wir noch machen sollen!«

      »Ich komme gleich«, beruhigte ich sie. Dann stand ich auf. »Es tut mir leid«, entschuldigte ich mich in der Runde. »Mein Sohn … Ich muss leider zurück ins Krankenhaus.« Das Essen, die Geschäftsvorbereitungen – das musste nun alles ohne mich stattfinden.

      Als ich wenige Minuten später Tobis Krankenzimmer betrat, lag er mit hochrotem Kopf in seinem Bettchen und weinte. Ich setzte mich zu ihm und strich ihm über die schweißnasse Stirn. »Tobi, mein kleiner Schatz«, murmelte ich beruhigend. Die zusammengekniffenen Augen meines Sohnes öffneten sich und er sah mich an. Seine kleinen Hände schnellten vor und umklammerten meinen Arm. Dann entrangen sich seiner Brust noch einige wenige Schluchzer und er begann zu lächeln. Mir wurde warm ums Herz. Das verpatzte Meeting, mein Hunger – all das spielte gerade keine Rolle mehr. Tobi war glücklich, das war das Wichtigste.

      Einmal während der langen Zeit in München standen wir kurz davor, aus der Klinik entlassen zu werden. Doch Tobis Werte stellten sich als extrem schlecht heraus. So wurde mir am Tag der Entlassung mitgeteilt, dass wir bleiben mussten. Die Blut- und Leberwerte verschlechterten sich ab diesem Zeitpunkt zusehends und mein Sohn wurde immer blasser und dünner. Eines Nachts, als es besonders schlimm war, hielt ich es kaum noch aus. Wäre ich alleine gewesen, hätte ich mein Leid, meine Frustration und Sorge vielleicht sogar herausgeschrien. Doch nichts davon ging; ich war gefangen in diesem kleinen Krankenzimmer und dazu verurteilt, alles auszuhalten.

      Ich betete lange in dieser Nacht und warf all meinen Schmerz vor Gott hin. »Vater, du hast uns Tobi doch geschenkt«, klagte ich. »Ich kann einfach nicht mehr mit ansehen, wie er leidet. Ich kann nicht mehr!« Ich schluchzte gequält auf. »Bitte entscheide doch endlich: Entweder lässt du uns Tobias oder du holst ihn zu dir! Aber so kann er doch nicht leben.« Die Ärzte hatten alles versucht, um zu helfen, keine Kosten und Mühen gescheut. Tobis Blutproben waren durch ganz Europa geschickt worden, doch auch dadurch gab es nichts Neues. Nun stand eine Knochenmarktransplantation im Raum und all die Untersuchungen gingen ergebnislos weiter.

      Gott antwortete: Tobi blieb. Er war blass und schmal, er behielt immer noch fast kein Essen bei sich, aber er lebte. Ich nahm es als Geschenk. Für mich stand fest: Ich würde weiterkämpfen. Ich würde immer für Tobias da sein, alles tun, was möglich war. Auch wenn es bedeutete, nächtelang nur zu dösen und keinen richtigen Schlaf zu bekommen oder den Himmel tagelang nicht zu sehen.

      Ein besonderer Lichtblick war die Unterstützung, die wir erhielten. Über meine Verwandten in England und unsere Kirchengemeinde waren wir mit Christen in ganz Europa verbunden, die für uns beteten. Jedes Mal, wenn eine Narkose oder eine komplizierte Untersuchung anstand, sagte ich ihnen vorher Bescheid und während des Eingriffs waren wir gemeinsam für Tobi im Gebet verbunden. Auch das gab uns unglaublich viel Kraft. So viele Menschen, die Anteil an unserem Schicksal nahmen und daran festhielten, dass Gott eingreifen kann.

      Tobi dreht sich im Schlaf und kuschelt sich dabei noch enger an mich. Für unseren Sohn ist Körperkontakt unersetzlich, das merke ich immer wieder. Ich glaube, es war lebenswichtig für ihn, dass wir ihm unsere Liebe immer gezeigt haben und für ihn da waren, egal, in welcher Situation. Das hat ihm Kraft gegeben und geholfen, an