eine kleine Atempause vom Alltag, der uns so viel abverlangte.
Das alte Jahr ging, das neue kam und noch immer wussten wir nicht mehr über Tobis Krankheit. Sein Zustand war unverändert: Er bekam schlecht Luft, aß nicht gut, behielt wenig bei sich und wuchs nur langsam. Trotzdem war er ein fröhliches Baby, das immer lachte, wenn es ihm einigermaßen gut ging. Im Februar 2010 sah er allerdings so schlecht aus, dass er zum Arzt musste. Ich sprach mit Elisabeth darüber, bevor ich mich auf den Weg zur Arbeit machte, und sie wollte noch an diesem Tag mit Tobi in die Sprechstunde. Zwei Tage später saß sie erneut bei unserem Kinderarzt – das verschriebene Antibiotikum half gar nicht und es ging unserem Sohn nicht besser.
Als ich einen Tag darauf, am Donnerstag, zum Mittagessen nach Hause kam, führte mich mein erster Weg an Tobis Bettchen. Elisabeth hatte sich den ganzen Vormittag um ihn gekümmert und bereitete jetzt, wo er endlich eingeschlafen war, das Essen vor. Ich sah sein Gesicht und erschrak. Alle Farbe war daraus gewichen, es wirkte bläulich und war zu einer gequälten Grimasse verzogen. »Elisabeth!« Ich muss so besorgt geklungen haben, wie ich mich fühlte, denn meine Frau kam gleich darauf ins Zimmer gelaufen.
»Was ist denn?«
»Schau dir Tobi mal an. Du musst unbedingt zum Kinderarzt mit ihm, sobald die Praxis aufmacht!« Ich sah, wie auch sie zusammenzuckte, als sie in das Gesicht unseres Sohnes blickte. Dass sich sein Zustand in so kurzer Zeit derart verschlechtert hatte, machte uns Angst.
Nach dem Mittagessen fuhr ich zurück zur Arbeit, doch es fiel mir schwer, mich auf meine Aufgaben zu konzentrieren. Als ich einen Vorgang zum dritten Mal neu beginnen musste, stand ich auf und öffnete ein Fenster. Die frische Februarluft tat mir gut. An diesem Tag war ich noch zu einer betriebsinternen Veranstaltung angemeldet und würde daher etwas früher Feierabend machen – morgen würde mir meine Arbeit sicherlich wieder leichter fallen. Doch gerade als ich meinen PC heruntergefahren und den Mantel von der Garderobe genommen hatte, klingelte das Telefon. Es war Dr. Armann. Nach einer kurzen Begrüßung kam er ohne Umschweife auf den Punkt: »Herr Roller, es steht sehr schlecht um Tobias. Er hat eine lebensbedrohliche Lungenentzündung, ich habe bereits den Notarzt gerufen.« Ich spürte Panik in mir aufsteigen: »Ich komme sofort!«
Ich rannte zum Auto. Auf dem Weg betete ich verzweifelt: »Bitte, Vater im Himmel, lass mich rechtzeitig kommen.« Jede Ampel wurde zur Zerreißprobe, jeder Autofahrer, der nicht schnell genug anfuhr, ließ mich verzweifelt aufstöhnen. Schließlich hielt ich vor der Arztpraxis und sprang aus dem Auto. Der Rettungswagen war bereits da, das zuckende Blaulicht erhellte die winterliche Straße auf fast schon unwirkliche Weise.
Elisabeth sah mich kommen und lief auf mich zu. »Ich fahre mit Tobi!«, rief ich ihr fast flehend zu. Ich sah das Verstehen in ihren Augen. Sie nahm den Schlüssel, ich kletterte in den Rettungswagen. Die Türen wurden hinter mir zugeschlagen und wir fuhren mit Blaulicht und Martinshorn los. Elisabeth nahm mein Auto und fuhr mit den Mädchen nach Hause. Wenigstens die beiden sollten von dieser Aufregung verschont bleiben.
In der Klinik ging alles sehr schnell. Während der Untersuchungen und Behandlung durfte ich die ganze Zeit dabei sein. Ich streichelte Tobis Kopf, damit er merkte, dass wir ihn nicht alleinlassen würden. Als das Schlimmste überstanden war, telefonierte ich mit Elisabeth. Wir einigten uns schließlich darauf, dass ich in der Klinik bei Tobias bleiben würde und Elisabeth bei den Mädchen.
Es folgten lange und bange Tage. Ich rief meinen Arbeitgeber an und er gab mir frei, ohne dass ich Urlaub nehmen musste. Ich staunte dankbar über dieses unerwartete Geschenk. Dann wartete ich. Ich aß in der Klinik, schlief in der Klinik. Ich saß an Tobis Bettchen und betete, während er um jeden Atemzug kämpfte. Und während Elisabeth zu Hause versuchte, sich vor den Mädchen ihre Sorge nicht anmerken zu lassen, sah ich in die besorgten Gesichter der Ärzte.
Was war nur passiert? Vor nicht einmal einem Jahr war noch alles perfekt, und nun drohte alles zu zerbrechen. Wieso mutete Gott uns das zu? Warum musste Tobi so kämpfen? Egal, was die Ärzte versuchten, es ging ihm nicht besser. Für mich verschwammen die Tage. Nach einer Woche – draußen war es schon dunkel und ich saß gerade an Tobis Bett und streichelte seine kleine Hand – kam der behandelnde Arzt ins Krankenzimmer. Ich stand auf.
»Herr Roller«, sagte er ernst, »ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein. Wir haben alles getan, was in unserer Macht steht. Nichts davon hat bisher angeschlagen. Uns bleibt nun noch eine Möglichkeit: Wir geben Ihrem Sohn eine Mischung verschiedener hoch dosierter Antibiotika. Danach geht es heute Nacht entweder bergauf mit ihm, oder, wenn sie nicht helfen …« Er ließ den Satz unbeendet und sah mich fragend an. Ich nickte mit immer schwerer werdendem Herzen. Wenn es keine andere Möglichkeit gab, was sollten wir sonst tun? Wir würden es versuchen müssen!
Tobias bekam die nötigen Medikamente und wir warteten. Ich betete Stunde um Stunde, dass Gott eingreifen, ein Wunder geschehen lassen würde. Und dann geschah es tatsächlich. Die Krankenschwester, die immer wieder zu uns ins Zimmer schaute, sah mich spät in der Nacht mit Hoffnung in den Augen an.
»Ich glaube, er hat es geschafft!«, sagte sie leise und legte mir aufmunternd die Hand auf die Schulter. »Es geht bergauf.«
»Gott sei Dank!« Ich konnte unser Glück kaum fassen. Gott hatte uns wirklich ein Wunder geschenkt. Tobias würde die Nacht überleben.
Der Motor der Ernährungspumpe springt an und reißt mich aus meinen Erinnerungen. Müde schaue ich zu Tobi. Er atmet schwer – wie meistens –, aber er schläft tief und fest. Ich stehe vorsichtig auf, um ihn nicht zu wecken, und schaue aus dem Fenster. Vor mir liegt die stille Stadt, dahinter der Österberg. Die Nacht ist klar und ruhig. Wie eine silberne Decke liegt das Mondlicht auf den Dächern und Hügeln und die Bäume strecken ihre kahlen Äste schwarz und unbeweglich in die windstille Dunkelheit. Ich öffne das Fenster und ziehe die Nachtluft in meine Lungen. Es ist kühl und feucht draußen und kein Geräusch zu hören. Selten ertönt das leise Brummen eines fernen Automotors. Ein tiefer Frieden erfüllt mich. »Danke für diese ruhigen Momente, Vater«, bete ich lautlos zu Gott.
Ich blicke zurück ins Zimmer. Tobi liegt klein und zart unter der großen Bettdecke. Sein Brustkorb hebt und senkt sich. Dann sehe ich, wie sich seine Augenbrauen leicht zusammenziehen, er murmelt im Traum vor sich hin. Was für ein Geschenk, dass ich nach allem, was passiert ist, meinem Sohn beim Schlafen zuschauen darf. Ich muss daran denken, wie klein und zart er schon damals war, als ich in der Klinik an seinem Bett saß.
Tobi wirkte winzig in seinem Klinikbettchen. In den Tagen nach der erfolgreichen Behandlung besserte sich sein Gesundheitszustand langsam etwas, trotzdem musste er im Krankenhaus bleiben. Seine Lungenentzündung war immer noch nicht weg und es standen weitere Tests an. Dann der nächste Schock: Tobi hatte sich mit Legionellen infiziert. Noch mehr zusätzliche Medikamente, noch mehr Tests. Das häufige Blutabnehmen war das Schlimmste dabei. Die Adern an Tobis Kopf, Armen und Füßen waren komplett zerstochen. Die Ärzte schafften es bald nicht mehr beim ersten und selten beim zweiten Mal, die erforderliche Menge Blut zu bekommen, die sie für die Tests benötigten.
Am zweitschlimmsten für Tobi waren die Medikamente. Sie schmeckten scheußlich, aber da er manche davon schlucken musste, wurden sie ihm zwangsweise über den Mund verabreicht. Er wehrte sich mit allen Kräften dagegen und wirkte danach immer erschöpft. Trotzdem war es auch hier wie bei seinem ersten Krankenhausaufenthalt: So sehr er während all dem litt – kaum war es vorbei, lächelte er wieder. Und sein intensiver Blick, mit dem er Ärzte, Schwestern und Pfleger ansah, schien fast alle in seinen Bann zu ziehen.
Überhaupt erlebten wir trotz aller Schwierigkeiten immer wieder auch ermutigende Momente, wenn Elisabeth oder ich an Tobis Bett saßen. Mehr als einmal kamen wir mit den Krankenschwestern ins Gespräch, die sich um unseren Jungen kümmerten. Wir erzählten ihnen von unseren Mädchen zu Hause. Von unserer Hoffnung trotz all der schlimmen Momente, dass Gott unseren Sohn gesund machen würde. Und es fühlte sich fast an, als würde Gott uns antworten und Mut zusprechen, wenn wieder eine der Schwestern sagte: »Wissen Sie, ich glaube auch an Gott.« Einige von ihnen sagten uns sogar, dass sie für Tobi beten würden.
Ein