und ich uns vorgenommen, immer alles Menschenmögliche für ihn zu tun. Uns war klar: Falls er nicht überleben sollte, würden wir uns Vorwürfe machen, wenn wir ihm sein Leben nicht so schön wie nur möglich gemacht hätten. Und nun ist er schon so groß und ein lebensfrohes Kind, ein kleines Wunder. Dass nicht alle kranken Kinder liebevolle Unterstützung bekommen oder bekommen können, lernte ich damals in München ebenfalls – eine schmerzliche Tatsache, an die ich heute noch nicht gerne denke.
Zusammen mit Tobi waren noch einige weitere schwer kranke Kinder auf der Isolierstation. Doch während wir unseren Sohn nie alleine ließen, bekamen diese Kinder selten oder nie Besuch. Warum waren ihre Eltern nicht da? Vielleicht hatten sie keine Kraft, ihre Kinder leiden zu sehen. Oder sie konnten sich nicht freinehmen wie ich – was für ein Geschenk das gute Verhältnis zu meinem Arbeitgeber war, wurde mir auch dadurch deutlich bewusst. Vielleicht hatten sie noch andere Kinder, die sie nicht alleine lassen konnten. Die ein oder anderen waren vielleicht auch darunter, denen das Schicksal ihrer Kinder egal war, aber das konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen.
Einen für mich sehr traurigen Blickwinkel auf die Situation lernte ich kennen, als ich mit einem Bekannten sprach, der selbst Arzt war und ein Kind verloren hatte. »Weißt du«, sagte er und schaute aus dem Fenster. »Wir wussten, dass das Kind schwer krank war. Deshalb haben wir es nach der Geburt in der Klinik gelassen und sind nicht mehr hingegangen. Nach vier Monaten kam dann der Anruf, dass es gestorben ist.« Er schien meinen ungläubigen Blick zu spüren, denn er setzte gleich darauf hinzu: »So war es am besten für alle. Es hätte sowieso nicht überlebt und wir hätten uns nur noch mehr gequält, wenn wir Zeit mit ihm verbracht hätten. Wenn ich sehe, wie es euch geht, kann ich euch nur raten: Macht es genauso. Die Chancen, dass euer Junge überlebt, gehen gegen Null.«
Mein Bekannter war kein schlechter Mensch, ganz im Gegenteil. Aber ich wusste: Das kam für uns niemals infrage. Ich verurteile niemanden, der anders handelt, als wir es taten. Wie könnte ich – ich kenne die Situation dieser anderen Menschen nicht, ihre Kämpfe, ihre Schwierigkeiten, ihre Kraft. Doch Tobi war unser Kind, mit allem, was das für uns bedeutete. Und wir würden alles tun, was in unserer Macht stand, um ihm ein schönes Leben zu ermöglichen, egal, wie lang oder kurz dieses Leben sein würde.
Der Untersuchungsmarathon ging weiter. Viel wurde vermutet, aber die Ergebnisse passten nie hundertprozentig. Auch Mukoviszidose wurde noch diverse Male getestet, jedoch immer ohne Ergebnis. Schließlich kamen die Ärzte zu dem Schluss, dass Tobias aller Wahrscheinlichkeit nach eine Immunschwäche hatte. Die Behandlung wurde umgestellt, um sein Immunsystem zu stärken. Trotzdem ging es ihm nicht viel besser.
Seinen ersten Geburtstag feierte Tobi im Krankenhaus. Es war Pfingstsonntag und die Sonne war hinter einer dichten Wolkendecke verborgen. In meinem Herzen sah es ähnlich aus: Die Freude über den ersten Geburtstag meines Sohnes wurde immer wieder von Wolken überschattet, Sorgen über die Zukunft. Gerade deshalb wollte ich, dass er einen fröhlichen und schönen Geburtstag erlebte, auch wenn er natürlich nicht viel davon mitbekam.
Die Mädchen konnten leider nicht dabei sein. Da auf der Autobahn zu dieser Zeit eine Baustelle auf die nächste folgte, brauchte man von Tübingen nach München vier Stunden – eine so lange Autofahrt wollten wir ihnen nicht zumuten. Aber sie sangen ihm am Telefon ein Geburtstagslied und riefen ihm ihre fröhlichen Glückwünsche zu.
Die Krankenschwestern waren es schließlich, die den Tag wirklich unvergesslich machten. Auf dem Tablett, das sie in Tobis Zimmer brachten, waren ein Stofftier, zwei Bilderbücher, die sie in Geschenkpapier gewickelt hatten, ein Luftballon, ein buntes Windrad und eine Geburtstagskerze. Auf einem gelben Blatt Papier, mit lustigen Aufklebern verschönert, stand in großen Buchstaben: »ALLES GUTE zum Geburtstag lieber Tobi!! Deine Schwestern von der Intern Säugling«. Mir wurde warm ums Herz. So viel Aufmerksamkeit für meinen Sohn, dem das Ganze übrigens sichtlich Spaß machte. Er strahlte, griff nach dem Stofftier und gluckste und lachte die ganze Zeit.
Auch Henriette hatte Geburtstag, während Tobi im Krankenhaus war. Sie wurde fünf Jahre alt, bekam also schon sehr viel mit. Elisabeth war zu dieser Zeit bei unserem Jungen in München, sonst wäre vieles einfacher gewesen. Ich musste arbeiten und konnte daher kaum etwas vorbereiten. Mein schlechtes Gewissen meldete sich zwar, aber ich fühlte mich hilflos. Meine Arbeitgeber gaben mir so viel freie Zeit für Tobias, dass ich nicht auch noch freie Tage für die Mädchen einrichten konnte. Wir waren so dankbar, dass meine Schwägerin Carmen Zeit hatte und alles in die Hand nahm. Sie richtete bei uns zu Hause eine richtig schöne Geburtstagsparty für Hetty aus. Sowohl im Haus als auch im Garten war alles schön geschmückt, die Sonne schien, es gab Kuchen und andere Leckereien. Die anderen Kinder aus der Verwandtschaft und ein paar Freunde aus dem Kindergarten waren da. So hatte Hetty einen richtig tollen Geburtstag. Sie war glücklich und der ganze Trubel lenkte sie davon ab, dass sie ihre Mutter an diesem Tag doch ganz besonders vermisste.
Zurück im Krankenhaus stand ein Gespräch mit Tobis Ärzten an. Wir besprachen, wie es weitergehen würde. Als Behandlung gegen die Immunschwäche schlugen die Ärzte eine Knochenmarkstransplantation vor. Ich war unsicher – natürlich hoffte ich darauf, dass eine Behandlung wie diese ihm helfen würde, ihn vielleicht sogar gesund machen würde. Aber gleichzeitig war das für ein so schwaches, krankes Kind ein gewaltiger Eingriff. Was, wenn die Belastung zu viel für seinen kleinen Körper wäre? Was, wenn er sterben würde?
Elisabeth und ich sprachen lange darüber. Ich ließ mir alles von Tobis Ärzten erklären. Ich betete viel. Und ich entschied mich dagegen, obwohl die Ärzte mir dringend dazu rieten. Wenn ich Tobi ansah, wie er klein und blass in seinem Bettchen lag, wie er immer wieder nach Luft rang und husten musste – ich wusste, er würde es nicht schaffen. Seine Lungenentzündung war mittlerweile chronisch, trotz aller Bemühungen nahm er fast nicht zu. Sein Körper hätte diesem schweren Eingriff nicht standgehalten, dessen bin ich mir sicher.
Tobi war kurze Zeit nach der Entscheidung gegen die Knochenmarkstransplantation immerhin so stabil, dass er nach Hause entlassen werden konnte. Das machte es für unsere Familie einfacher, auch wenn er immer wieder für Untersuchungen ins Krankenhaus musste. Die Mädchen mussten nicht mehr auf einen von uns verzichten, die Wege waren kürzer.
In Tübingen stand allerdings auch die nächste Entscheidung an. Wegen Tobis schlechter Leberwerte hatten uns die Ärzte zu einer Lebertransplantation geraten. Die Voruntersuchungen begannen zügig. Man hatte uns Eltern zuerst getestet mit dem Ergebnis, dass Elisabeth als Spenderin infrage kam. Es folgten Aufklärungsgespräche über die Narkose, über die Operation, über die Risiken. Ich hatte die Einverständniserklärung für die Narkose bereits unterschrieben, als mir Zweifel kamen. Auch diesmal war es ein großes Risiko. Ich sprach noch einmal mit den Ärzten. Wenn sie mir für Tobi eine Überlebenschance von fünfzig Prozent zusagen konnten, würde ich dem Eingriff zustimmen. Die Antwort war ehrlich und entmutigend. Tobis Chancen, die Transplantation zu überleben, waren schlechter. Schweren Herzens sagte ich ab.
Ich hätte mir vorher nicht vorstellen können, wie es sein würde, immer wieder Entscheidungen über das Leben meines Kindes zu treffen. So etwas wünsche ich niemandem. Es tut jedes Mal weh, weil die Ungewissheit da ist, dass es die falsche Entscheidung sein könnte. Keiner von uns kann in die Zukunft schauen, keiner weiß, wie sich alles vielleicht entwickelt hätte, wenn man den anderen Weg gegangen wäre. Wenn ich Gott nicht gehabt hätte, weiß ich nicht, wie ich dieses Nichtwissen und die Zweifel ausgehalten hätte. So aber war ich mit meiner Angst nicht allein. Ich fühlte mich getragen. Von Gott, der auch ein Vater ist. Ein Vater, der seinen Sohn leiden sah und der mich in meinem Schmerz verstand.
Bei aller Sorge, wie es weitergehen würde, waren wir einfach nur froh, Tobi wieder zu Hause zu haben. Alles wurde so eingerichtet, dass ich mit unserem Sohn zusammen im Elternschlafzimmer schlafen konnte. Diese Entscheidung mussten wir gar nicht lange bedenken: Elisabeth kümmerte sich tagsüber rund um die Uhr um Tobias und die Mädchen. Gerade durch die deutlich erhöhte Aufmerksamkeit, die Tobis aufwendige Behandlungen forderten, war das manchmal eine richtige Herkulesaufgabe. Die Kinder, der Haushalt, der Garten, in dem wir viel Gemüse selbst anbauten – das Leben musste ja irgendwie weitergehen. Bei diesen vielen Aufgaben wollte