schon einmal vorwarnen. Ich habe auch extra Sie angerufen, vielleicht sagen Sie es Ihrer Frau besser noch nicht. Sie hat ja mit Ihrem kranken Sohn schon genug Probleme, um die sie sich kümmern muss.«
»Sie haben recht.« Ich schwieg kurz, bevor ich mich bei ihm bedankte und auflegte.
Nach dem Gespräch fühlte ich mich, als hätte jemand den Boden unter meinen Füßen weggezogen. Durch meine Arbeit in der Verwaltung einer Privatklinik war mir Mukoviszidose ein Begriff, und wenn die Lebenserwartung von Mukoviszidose-Patienten mittlerweile auch bei vierzig bis fünfzig Jahren liegt, so gab es doch vor zehn Jahren noch einige, die das Erwachsenenalter nicht erreichten. Sollte dieses Schicksal nun das meines Sohnes sein?
Wie betäubt stieg ich vom Dach. Elisabeth war mit den Mädchen unterwegs – doch ich musste jetzt mit jemandem sprechen. Ich ging nach nebenan zu meiner Mutter. Die sah sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Während wir in der Küche saßen und ich ihr von der Vermutung unseres Arztes erzählte, merkte ich, wie mir die Tränen über die Wangen liefen. Ich bin niemand, der schnell weint, doch in diesem Moment war mir alles zu viel. Meine Mutter war so schockiert wie ich, aber ich war froh, dass ich den schlimmen Verdacht mit jemandem teilen konnte. »Noch ist es ja nicht sicher«, tröstete sie mich. »Vielleicht kommt bei der Untersuchung ja etwas ganz anderes heraus.«
»Du hast recht.« Dankbar schaute ich sie an. »Noch ist es nur eine Vermutung, wir haben ja noch gar keine Ergebnisse.« Ich atmete tief. »Betest du für uns, Mama?«
»Natürlich tue ich das.« Meine Mutter lächelte mir ermutigend zu und nahm meine Hand. »In Gottes Hand sind solche Sorgen am besten aufgehoben, auch wenn sie uns zu erdrücken scheinen.«
In dieser Nacht betete ich lange im Stillen zu Gott. Ich dankte ihm, dass er uns unseren goldigen Sohn Tobias geschenkt hatte. Ich bat ihn, dass er den Test negativ ausfallen ließ. Für ihn wäre es doch ein Leichtes, Tobi ganz gesund zu machen. Und wie so oft in letzter Zeit bat ich Gott, unserem Sohn alle Probleme wegzunehmen, die ihm sein kleines Leben bisher so schwer machten. Ich wusste: Ich hatte es nicht in der Hand. Aber ich wollte Gott vertrauen, dass er es gutmachen würde. Trotz meiner Erschöpfung schlief ich erst in den frühen Morgenstunden ein.
Es folgten bange Tage. Die mögliche Diagnose hing wie ein Schatten über unserem Haus. Mit Argusaugen bewachten wir jede von Tobias’ Regungen, immer in der Sorge, dass sein Zustand sich verschlechtern könnte. Dann kamen die Testergebnisse – negativ! Wir atmeten auf. Doch trotzdem blieb das Gefühl: Irgendetwas stimmte nicht mit Tobi und in diesem Moment wusste einfach niemand, was es war.
Die Ärzte suchten weiter nach einer Antwort. Im Dezember – es war kurz vor Weihnachten – kam unser Sohn für einige Tests in die Tübinger Klinik. Dr. Armann hatte vorgeschlagen, sicherheitshalber noch einmal auf Mukoviszidose zu testen, außerdem sollten die Ärzte dort einige weitere Krankheiten ausschließen. Sie entnahmen Leberzellen, Blut, Knochenmark, machten eine Hautpunktion. Mir zuckte es jedes Mal wie ein Stich durchs Herz, wenn ich sah, wie sie eine Kanüle in Tobis Ärmchen oder Beinchen stachen und er anfing zu weinen.
Trotzdem war er nicht wie die anderen Kinder, die mit ihm auf der Station lagen. Er, der sich noch nicht durch Worte ausdrücken konnte, sprach mit seinen Augen. Tobi hatte schon als Baby lange Wimpern – seine Schwestern hatten sich gleich in seine Augen verliebt, als wir ihn nach Hause holten. »Wie bei einer Puppe«, sagten sie staunend. Oft schaute er uns unverwandt an und seine Augen ruhten auf uns, als wollte er sagen: »Ich weiß, das ist gerade nicht einfach, aber wir schaffen das!« Vielleicht ist diese Interpretation auch ein Stück weit mein Hoffen, vielleicht ein wenig Wunschdenken. Trotzdem gaben uns seine Blicke immer wieder Kraft. Und wenn ihm Blut abgenommen werden musste oder eine schmerzhafte Untersuchung anstand, dauerte es nicht lange und Tobi strahlte uns und die Ärzte mit tränennassen Wangen und leuchtenden Augen an.
Am Tag vor Heiligabend durfte Tobi nach Hause. Elisabeth setzte die Mädchen ins Auto und holte uns ab. Henriette und Charlotte freuten sich riesig, als wir endlich wieder alle zusammen waren. Dass sie in der Zeit vor Weihnachten immer auf einen Elternteil verzichten mussten, war den beiden gar nicht geheuer. Sie taten uns so leid – doch was hätten wir anderes tun sollen? Tobi konnten wir schließlich auch nicht alleine lassen. Zu Hause angekommen setzten wir deshalb alles daran, die Mädchen für die Entbehrungen zu entschädigen.
Die Woche, die wir im Krankenhaus verbringen mussten, hatte mich davon abgehalten, Charlottes Geschenk zu bauen. Sie sollte einen Kaufladen bekommen, wie ihre große Schwester bereits einen besaß. Henriettes Kaufladen hatte ich aus Holz selbst gebaut. Doch wie sollte ich in einer Nacht ein angemessen schönes Geschenk zimmern? Ratlos sah ich mich im Keller um. In einer Ecke entdeckte ich schließlich eine Bananenkiste. Ich begann zu basteln, bemalte und beklebte die Kiste mit Weihnachtsmotiven. Schließlich war ich fertig und begutachtete kritisch mein Werk. Der Bananenkisten-Kaufladen war bei Weitem nicht so schön wie Henriettes Holzladen, aber ich hoffte, dass Charlotte sich trotzdem freuen würde.
Der Heiligabend kam und wir versuchten, den Mädchen trotz unserer Sorgen um Tobi und der gedrückten Stimmung ein schönes Weihnachtsfest zu bereiten. Am Nachmittag gingen wir gemeinsam in die Kirche und die beiden sahen begeistert beim Krippenspiel zu. Doch auch uns tat es gut, unter Menschen zu sein. Freunde und Bekannte aus unserer Kirchengemeinde erkundigten sich nach Tobi und erzählten uns, dass sie für uns gebetet hatten, als er im Krankenhaus war. Ihr Mitgefühl und ihre Anteilnahme taten uns gut. Besonders die vielen Gebete, mit denen sie uns damals wie heute begleiteten, berührten unsere Herzen und gaben uns Kraft.
Wieder zu Hause, konnten die Mädchen die Zeit bis zur Bescherung kaum abwarten. Das Weihnachtszimmer – eigentlich unser Wohnzimmer – war durch einen schweren Vorhang vom Rest der Wohnung abgeteilt. Erst beim Klingeln eines Glöckchens wurde der Vorhang aufgezogen und das Zimmer erstrahlte in seiner ganzen Pracht. Neben Henriettes Kaufladen besaßen die Mädchen noch ein riesiges Puppenhaus, das ich selbst gebaut hatte. Jedes Jahr am Heiligabend holten wir Kaufladen und Puppenhaus vom Dachboden und stellten sie im Weihnachtszimmer auf. Im Januar wurden sie dann wieder weggepackt und warteten auf ihren nächsten großen Auftritt. Dadurch, dass diese besonderen Spielsachen nicht immer verfügbar waren, liebten die Kinder sie nur noch mehr und spielten die ganze Zeit damit. Nun kam also noch der Kaufladen für Charlotte hinzu.
Mit einem freudigen Ausruf lief unsere Mittlere zu ihrem Geschenk. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Sie fand ihn auf Anhieb wunderbar. Alles wurde genau betrachtet, sie war kaum davon wegzubekommen. Dabei war sie gar nicht traurig, dass ihr neuer Kaufladen »nur« aus einer Kiste bestand. Er hatte Weihnachtsbilder, war schön bunt und er war ihr eigener – das genügte völlig.
Das Puppenhaus war ebenfalls ein Highlight. Es war vier Stockwerke hoch und hatte viele verschiedene Zimmer, die ich mit Tapete, Teppich und Farbe ausgestaltet hatte. Sogar einen Balkon gab es. Jedes Mädchen hatte seine eigenen Zimmer, für die es jetzt weitere Möbel bekam. Und dann entdeckten die Mädchen den Weihnachtselch. Oma Elisabeth, meine Mutter, hatte ihn mitgebracht. Es war ein großer brauner Plüschelch, der Weihnachtsmusik spielte, sobald man sein Ohr drückte. Henriette war hingerissen und sprang auf den Elch zu. Als die ersten weihnachtlichen Klänge ertönten, begann sie durchs Wohnzimmer zu tanzen. Charlotte sprang hinterher – wenn ihre große Schwester so einen Spaß hatte, wollte sie unbedingt mitmachen.
Als die Mädchen ein bisschen ruhiger waren, setzten wir uns gemeinsam hin und sangen Weihnachtslieder. Bevor es an die Bescherung ging, beteten wir gemeinsam und dankten Gott für unsere Familie, das schöne Fest und alles, was er uns geschenkt hatte. Natürlich war unser Leben im vergangenen Jahr nicht immer einfach gewesen, aber wir hatten auch so viel Gutes erlebt – Zuspruch, Bewahrung, der negative Mukoviszidose-Befund –, dass wir jede Menge Gründe zum Danken hatten.
Selbst Tobi, der noch nichts von dem verstand, was um ihn herum vorging, hatte eine schöne Zeit und genoss die weihnachtliche Atmosphäre. Er lachte uns alle an, griff nach seinen Schwestern und wedelte fröhlich mit seinen Ärmchen. Unsere Töchter freuten sich über seine Aufmerksamkeit. Sie merkten zwar, dass mit Tobi irgendetwas nicht in Ordnung war, doch unsere Sorgen und Befürchtungen hielten wir