Johannes Roller

Sonnenfarben


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Ständer für die Ernährungspumpe wurde im Schlafzimmer aufgebaut. Als Schutz vor dem Herausfallen stellten wir Stühle ans Bett, die wir mit einer gerollten Steppdecke polsterten. Das ganze Bett wurde mit dicken Handtüchern ausgelegt – so musste es nicht jedes Mal abgezogen werden, wenn Tobi sich übergab oder stark schwitzte. Für Medikamente, Spezialnahrung und anderes, was unser Junge brauchte, räumten wir einen ganzen Schrank frei.

      Wo immer Tobias war: Sein Ernährungsrucksack war stets dabei. Darin war die Pumpe, die dafür sorgte, dass konstant Nährstoffe in kleinen Mengen in seinen Körper gelangten. Die Leitung von der Pumpe in den Magen unseres Jungen war zwei Meter lang, kein sehr großer Bewegungsradius für ein Kind, das die Welt entdecken möchte. Aber besser, als im Bett zu liegen. Besser als nichts.

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      Geschwisterliebe und Rückschläge

      Endlich konnten wir fünf wieder als Familie leben. Die Mädchen waren glücklich. Henriette war bei Tobis Geburt fast vier Jahre alt gewesen und schon ganz aufgeregt, als sie auf ihr neues Geschwisterchen wartete. Ein Baby zum Spielen – in ihren Augen das Größte. Der damals zweijährigen Charlotte merkte man ihre anfängliche Skepsis an. Sie hatte als Nesthäkchen bisher im Mittelpunkt gestanden und war gar nicht damit einverstanden, diese Rolle so schnell aufgeben zu müssen. Auf einem ihrer Kinderfotos steht sie sehr missmutig an Tobis Babybettchen und wir müssen immer noch lachen, wenn wir uns das Fotoalbum anschauen.

      Dann kamen die Krankenhausaufenthalte dazwischen, nichts war wie geplant. Die Mädchen konnten ihren Bruder im Krankenhaus in München nicht besuchen, weil der Weg einfach zu weit war. Jetzt war Tobias wieder da, klein und zart, mit seinen sprechenden Augen und dem unvergleichlichen Charme. Und er hätte keine besseren Schwestern als unsere Mädchen haben können. Sie waren geduldig und hilfsbereit und sie liebten ihren kleinen Bruder von ganzem Herzen.

      Ich fühle, wie mich Stolz und Liebe durchströmen, als ich an meine beiden Töchter denke. Sie sind außergewöhnliche Mädchen: stark, liebevoll und verständig. Sie mussten wegen Tobis Krankheit so oft zurückstecken und ihre eigenen Wünsche hintenanstellen. Das waren immer wieder schwierige Situationen für sie. Und doch waren sie nie wirklich böse auf Tobi. Natürlich gab es auch mal Streit, unsere Kinder sind ja schließlich Kinder. Aber nie etwas Ernstes. Ich frage mich, ob ich als Kind in dieser Situation die gleiche Stärke gezeigt hätte.

      Gähnend drehe ich mich zur Seite. Ich merke erst jetzt, wie müde ich eigentlich bin. Langsam schließe ich die Augen und dämmere in einen leichten Schlaf.

      Als am nächsten Morgen der Wecker klingelt, bin ich wie immer müde. Es war eine vergleichsweise ruhige Nacht, Tobis Ernährungspumpe hat mich nur zwei weitere Male aus dem Tiefschlaf gerissen. Ich wecke unseren Jungen und gehe ins Bad, um mich zu rasieren und für die Arbeit fertig zu machen. Währenddessen weckt Elisabeth Henriette und Charlotte und bereitet das Frühstück. Als wir gemeinsam um den runden Esstisch sitzen, erzählt Charlotte von ihrem aufregenden Traum, aus dem sie Mamas Wecken leider herausgeholt hat. Ein ganz normales Familienfrühstück eben.

      Nach dem Essen verabschiede ich mich von Tobi und den Mädchen, die sich gerade ihre Ranzen aufsetzen. Tobi geht noch in den Kindergarten, wo ihn Elisabeth gleich hinbringt. Beim Gehen sehe ich, wie Henriette sorgfältig überprüft, ob Tobis Jacke richtig geschlossen ist. Ihr Blick streift mich, und sie lächelt mich strahlend an. Ich zwinkere zurück. Seit Tobias auf der Welt ist, kümmert sich seine große Schwester hingebungsvoll um ihn.

      Als wir damals aus dem Krankenhaus entlassen wurden, begann Henriette schnell, Tobi zu umsorgen. Mit ihren fünf Jahren war sie die Große und konnte ihm schon ein wenig helfen. Er hatte bereits im Krankenhaus angefangen, sich immer wieder aufzurichten, und nun versuchte er, krabbelnd seine Welt zu erkunden. Durch die Ernährungspumpe hatte er allerdings keine Möglichkeit, sich weiter als die zwei Meter vom Rucksack zu entfernen, die der Schlauch lang war. Henriette versetzte den Rucksack mit der Pumpe darin also immer wieder, wenn Tobi ein Stück weiter krabbeln wollte. Manchmal trug sie ihm den Rucksack den ganzen Nachmittag lang nach, damit er die Wohnung erkunden konnte und sich nicht langweilte.

      Überhaupt war Tobias an allem interessiert. Er krabbelte in jeden Raum, den er erreichen konnte. Schon bald fing er an, sich an Stühlen und Schränken hochzuziehen. Einmal hatte er es geschafft und stand recht wackelig auf seinen Beinchen. Doch als er losließ, plumpste er auf seinen Hintern. Obwohl es kaum wehgetan haben konnte – er war schließlich nicht tief gefallen und durch die Windel außerdem weich gepolstert –, fing er markerschütternd an zu schreien. Wir merkten sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Als er nicht aufhörte zu weinen, fuhren wir mit Tobi in die Notaufnahme. Dort dann die unglaubliche Diagnose: Er hatte sich den Oberschenkel gleich zweimal gebrochen. Von einem sanften Plumps aus dreißig Zentimetern Höhe!

      Die Schiene am Bein war ein Rückschlag für unseren kleinen Entdecker. Er tat uns so leid! Sie behinderte ihn bei seinen Gehversuchen und das Krabbeln war damit auch nicht gerade einfach. Doch er ertrug die Einschränkungen mit einer erstaunlichen Geduld. Sobald das Bein verheilt war, versuchte er erneut, laufen zu lernen. Ich bewunderte seinen starken Willen. Er war noch keine zwei Jahre alt und ließ sich doch nicht davon abhalten, die Welt zu entdecken.

      Der gebrochene Oberschenkel sollte nicht der einzige Rückschlag bleiben. Als Tobi sich einmal vom Sofa gleiten ließ, brach er sich den Arm. Die Untersuchungen zeigten, dass seine Knochen porös und sehr empfindlich waren. Insgesamt brach er sich siebenmal Arme und Beine bei dem Versuch, laufen zu lernen. Jedes Mal musste er von vorne anfangen. Beharrlich versuchte er es wieder und wieder, bis es ihm schließlich gelang. Diese zerbrechlichen Knochen sollte er behalten, was bedeutete, dass er nie wie andere Kinder herumtoben konnte.

      Bei uns kehrte mehr und mehr der Alltag ein, auch wenn er anders war, als wir es uns vorgestellt hatten. Aber es ist ja eigentlich immer so: Man gewöhnt sich an Dinge und Abläufe und irgendwann ist selbst das Neue, Ungewohnte – manchmal auch Angstmachende – ganz gewöhnlich.

      Tobis Ernährung war so eine Sache. Elisabeth bereitete jeden Tag seine Spezialnahrung für die Ernährungspumpe zu, ein umständlicher Prozess. Sie trug immer Handschuhe, wenn sie das Pulver in abgekochtes Wasser einrührte. Die notwendigen Medikamente – in manchen Zeiten bis zu 18 verschiedene – rührte sie extra an und füllte sie in Spritzen.

      Auch die Pflege war ungewohnt. Wegen seiner trockenen Haut mussten wir Tobi täglich eincremen. Wenn sein Zugang neu abgeklebt oder die Magensonde gepflegt werden musste, trugen wir einen Mundschutz, auch Tobi. Die Haut unseres Sohnes war empfindlich und vertrug die Pflaster nicht immer, daher tat das Pflasterwechseln ihm oft weh. Dazu kamen immer wieder Entzündungen an der Eintrittsstelle des Katheters, um die wir uns kümmern mussten. Trotzdem ließ er es geduldig über sich ergehen. All diese Prozeduren wurden schnell zu alltäglichen Handlungen, sie gehörten irgendwie dazu. Schon bald hatten wir das Gefühl, dass es schon immer so gewesen sein könnte.

      Den Umständen entsprechend entwickelte sich Tobi sehr gut. Wir hatten viel Grund, Gott dankbar zu sein. Mit einem Dreivierteljahr hatte er sein erstes Wort gesprochen: »Papa.« Ich war stolz und glücklich. Noch vor Kurzem hatten wir nicht zu träumen gewagt, dass Tobi laufen und sprechen würde wie seine Schwestern. Und ich bin mir sicher: Jede Mutter und jeder Vater kann nachfühlen, wie bewegend es ist, wenn der eigene »Name« das Erste ist, das der Sohn oder die Tochter sagt. Außerdem war es ein Anzeichen dafür, dass unser Jüngster sich ganz normal entwickelte – ein riesiger Grund zur Freude.

      Dazu kam: Alle lebensbedrohlichen Krankheiten, die bisher als Verdacht im Raum gestanden hatten, waren negativ getestet worden. Kurzzeitig hatten die Ärzte befürchtet, dass unser Junge durch seine Wachstumsprobleme einen Hirnschaden davongetragen haben könnte, doch auch das stellte sich glücklicherweise als Fehlannahme heraus. Und immer, wenn wir dachten, dass wir kaum noch so weitermachen könnten, weil die Anstrengungen und Sorgen uns aufzuzehren schienen, bekamen wir wie durch ein Wunder neue Kraft. Wir sind überzeugt: Dafür war auch verantwortlich,