Ihre Mannschaft von Neuem aufzubringen.«
»Aber was anfangen?« schrie Shandon.
»Was Sie gesagt haben«, versetzte der Doktor: »Abwarten, aber nur bis morgen, ehe man den Mut sinken lässt. Die Versprechungen des Kapitäns sind bisher mit einer Regelmäßigkeit erfüllt worden, die eine gute Bürgschaft ist; man hat also keinen Grund zu glauben, dass wir nicht zu richtiger Zeit über unsere Bestimmung werden in Kenntnis gesetzt werden; ich zweifle keinen Augenblick, dass wir morgen auf dem Irländischen Meere fahren; dazu, meine Freunde, schlage ich ein letztes Glas vor auf unsere glückliche Reise; sie beginnt zwar auf eine etwas unklare Weise, aber mit Seeleuten wie Ihnen gibt es tausend Wege zum guten Ende.«
Und alle vier stießen zum letzten Mal an.
»Jetzt, Kommandant«, fuhr Meister Johnson fort, »darf ich Ihnen einen Rat geben, so besteht er darin: Sie treffen alle Vorbereitungen zur Abfahrt: die Mannschaft muss Sie ganz sicher wissen. Morgen, mag ein Brief kommen oder nicht, machen Sie segelfertig, zu heizen ist noch nicht nötig; es sieht aus, als wolle der Wind gut halten, und es ist leicht, die hohe See zu gewinnen; der Lotse komme an Bord; zurzeit der Flut verlassen Sie die Docks und ankern draußen vor der Spitze von Birkenhead; dann haben unsere Leute mit dem Lande keine Verbindung mehr, und wenn der verteufelte Brief endlich kommt, wird er uns dort finden, wie anderwärts.«
»Brav gesprochen, wackerer Johnson!« sagte der Doktor und reichte dem alten Seemann die Hand.
»So wollen wir es machen!« erwiderte Shandon.
Jeder begab sich dann in seine Kabine und erwartete in unruhigem Schlaf den Sonnenaufgang.
Am folgenden Morgen fand sich bei den ersten Briefabgaben in der Stadt nicht ein einziger an den Kommandanten Richard Shandon.
Demungeachtet machte dieser seine Vorbereitungen zur Abfahrt; das Gerücht davon verbreitete sich sogleich in Liverpool, und es strömte eine außerordentliche Menge von Zuschauern auf die Kais von New-Princes-Docks.
Es kamen viele derselben an Bord der Brigg, dieser, um von einem Kameraden Abschied zu nehmen, jener um einem Freund abzuraten, ein anderer, um sich das seltsame Schiff zu besehen, wieder ein anderer, um den Zweck der Reise zu erfahren, und man murrte, als man den Kommandanten schweigsamer und rückhaltender sah wie jemals.
Dafür hatte er wohl seine Gründe.
Es schlug zehn Uhr; elf sogar. Gegen ein Uhr nachmittags sollte die Flut fallen. Shandon warf vom Hüttendeck aus einen unruhigen Blick auf die Menge; die Matrosen vollzogen schweigend seine Befehle, stets die Augen auf ihn gerichtet, in Erwartung einer Mitteilung, welche ausblieb.
Meister Johnson machte segelfertig; es war bedeckter Himmel, und vor den Bassins draußen ging die See sehr hohl; es wehte ein ziemlich starker Südost, doch konnte man leicht aus der Mersey herauskommen.
Um zwölf Uhr noch nichts. Der Doktor Clawbonny ging unruhig auf und ab, lorgnettierte,1 gestikulierte. Er fühlte sich aufgeregt, was er auch tun mochte. Shandon biss sich die Lippen blutig.
Jetzt trat Johnson heran und sagte zu ihm:
»Kommandant, wollen wir die Flut benutzen, so dürfen wir keine Zeit verlieren; vor Ablauf einer guten Stunde kommen wir nicht aus den Docks heraus.«
Shandon blickte noch einmal umher und sah auf seine Uhr. Die Zeit der Briefausgabe zu Mittag war vorüber.
»Wohlan denn!« sagte er zu seinem Rüstmeister.
Dieser rief den Zuschauern zu, das Verdeck zu räumen.
Es entstand eine rege Bewegung, indem die einen auf den Kai eilten, die anderen die Taue lösten.
In der Verwirrung, da die Matrosen ohne viel Rücksicht die Neugierigen wegtrieben, hörte man den Hund heulen.
Dies Tier sprang auf einmal vom Vorderkastell mitten durch die dichte Menge. Man wich ihm aus; er sprang auf das Hüttendeck, und – tausend Zeugen sahen es – der Kapitän Hund hielt zwischen den Zähnen einen Brief.
»Ein Brief!« rief Shandon. »Aber da ist er ja an Bord?«
»Da gewesen ist er ohne Zweifel, aber nun ist er nicht mehr da«, erwiderte Johnson und zeigte auf das nun völlig geräumte Verdeck.
»Kapitän! Kapitän! Ici!«2 rief der Doktor und versuchte den Brief zu nehmen, aber der Hund wich ihm aus mit lebhaften Sprüngen. Es schien, er wolle seine Botschaft nur Shandon selbst einhändigen.
»Kapitän, ici!« rief dieser.
Der Hund kam herbei; Shandon nahm ihm den Brief ab, und Kapitän bellte dreimal laut beim tiefen Schweigen der Menge.
Shandon zögerte den Brief zu öffnen.
»Ei, so lesen Sie doch! Lesen Sie!« rief der Doktor. Shandon sah ihn an. Die Adresse, ohne Ort und Datum lautete:
»An den Kommandanten Richard Shandon, an Bord der Brigg Forward.«
Shandon öffnete und las:
»Sie fahren nach dem Kap Farewell zu. Am 20. April werden Sie dort eintreffen. Wenn der Kapitän sich da nicht an Bord einfindet, fahren Sie durch die Davis-Straße und das Baffins-3 Meer hinauf bis zur Melville-Bai.
Der Kapitän des Forward.
K. Z.«
Shandon legte den lakonischen Brief sorgfältig zusammen, steckte ihn in seine Tasche und gab Befehl zur Abfahrt. Seine im Pfeifen des Ostwindes hallende Stimme hatte etwas Feierliches.
Bald war der Forward aus den Bassins heraus und fuhr, von einem Lotsen aus Liverpool geleitet, die Strömung des Mersey. Die Menge stürzte auf den äußeren Kai längs der Docks Victoria, um das seltsame Schiff noch einmal zu sehen. Die Mastbäume waren rasch aufgerichtet, die Segel aufgehisst, und mit deren Beistand fuhr der Forward, nachdem er um die Spitze Birkenhead gebogen, äußerst schnell ins Irländische Meer.
1 durch die Lorgnette betrachten: scharf ansehen, genau beobachten <<<