tibetischen Wundermönchen und verbrachte über einen Monat in einem Kloster der geheimnisvollen Bön-Po-Sekte.
Doch gab das Tagebuch nicht weniger Rätsel auf als das Vorwort und die Einleitung. Es fing bereits mit den ersten Tagen an. Die Expedition verließ die Hauptstadt der Mongolei nicht etwa, wie in diesen Jahren zu erwarten gewesen wäre, mit einer Kamelkarawane, sondern mit Lastwagen, die ausgerechnet die sowjetische Handelsvertretung zur Verfügung gestellt hatte. Hier lag etwas verborgen, war noch etwas Unbekanntes im Spiel. Denn im ersten Eintrag im Tagebuch des Dr. Rjabinin vom 9. April 1927 lautete gleich der zweite Satz: »Die Flagge von Buddha Matreya ist fertiggestellt. Das Ziel der Mission, die als erste in der Geschichte ohne Maskierung und Geheimnistuerei auftritt, ist die Schaffung eines wahren Buddhismus und von erregender Bedeutung.«
Nur, was konnte die sowjetische Handelsvertretung für ein Interesse an einer Expedition mit offensichtlich religiösen Zielen haben?
Noch rätselhafter war, wie Dr. Rjabinin, offensichtlich alles andere als ein überzeugter Kommunist, überhaupt die Erlaubnis bekommen konnte, die Sowjetunion zu verlassen. Noch dazu in wenigen Tagen, als sei die Sache von ganz oben abgesegnet worden. Normalerweise dauerte es in der Sowjetunion jener Jahre Monate, bis ein Mann mit solch zweifelhaftem Vorleben wie ein Arzt mit Verbindungen zur Zarenfamilie einen Auslandspass bekam. Wenn er überhaupt einen erhielt.
Es konnte eigentlich nur eine Erklärung dafür geben: Höchste Spitzen im Machtapparat in Moskau verfolgten mit der Expedition eigene Interessen.
Nur, welche es waren, ließ sich dem Tagebuch nicht entnehmen. Und falls Dr. Rjabinin sich darüber Gedanken gemacht haben sollte, so vertraute er sie dem Tagebuch klugerweise nicht an. Schließlich wollte er, wie sich den Aufzeichnungen an anderer Stelle entnehmen ließ, in die Sowjetunion zurückkehren.
Das Tagebuch hatte mich neugierig gemacht. Was hatte es mit der Bruderschaft und Schambala auf sich? Wieso glaubte nicht nur Dr. Rjabinin in den zwanziger Jahren, sondern offensichtlich auch ein sowjetischer Diplomat siebzig Jahre später an die Existenz dieser geheimnisvollen Gemeinschaft? Wieso hatten Instanzen im sowjetischen Staatsapparat die Expedition überhaupt zugelassen und sogar gefördert?
Eine schnelle Recherche in einer Encyclopedia Britannica, die ich als CD in einem Kiosk in Ulan Bator gekauft hatte, ergab, dass Roerich zumindest in Amerika eher als Fußnote der Kunstgeschichte gesehen wurde, denn die Herausgeber des Lexikons hatten seiner Biografie kaum mehr als eine viertel Spalte eingeräumt. Lapidar hieß es, er sei 1874 in St. Petersburg geboren worden, habe sich einen Namen als Künstler vor allem durch seine Bühnenbilder gemacht und sei Szenarist des berühmten Balletts »Das Frühlingsopfer« von Igor Strawinsky gewesen. 1920 sei er nach Amerika emigriert und hätte reiche Gönner gefunden, die ihm bereits zu Lebzeiten ein Museum finanzierten.
Roerich sei auch Mystiker gewesen, wurde geschrieben, und dann folgte noch die kurze Anmerkung, dass eine der einflussreichsten Figuren der amerikanischen Innenpolitik der dreißiger und vierziger Jahre, der Landwirtschaftsminister Roosevelts und spätere Vizepräsident der USA, Henry Wallace, Roerich als seinen Guru betrachtet habe. Zumindest bis 1935, als Roerich im Zusammenhang mit einer weiteren Expedition, diesmal in die Mandschurei, einen Skandal auslöste, der Wallace dazu zwang, sich von Roerich zu distanzieren.
Es verblieb der Briefwechsel zwischen den beiden. Wallace hatte Roerich als »mein Guru« angesprochen, und es fanden sich dort seltsame Sätze wie: »Die Affen suchen Freundschaft mit den Herrschern, um das Land der Meister unter sich aufzuteilen. Der Wandernde glaubt dies und hegt großes Misstrauen gegenüber den Affen.«
1948 wurden diese Briefe dazu benutzt, Henry Wallace, die Galionsfigur der amerikanischen Linken und bis dahin aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat, in den Augen der Wähler zu diskreditieren.
Mehr war in diesem wichtigsten Lexikon der englischsprachigen Welt nicht zu erfahren. Das Internet dagegen wartete mit Abertausenden von Seiten auf. Augenscheinlich war Roerich ein Liebling der Verschwörungstheoretiker, besonders der amerikanischen. Unzählbar die Seiten, die Wallace und Roerich mit der mysteriösen Pyramide auf den amerikanischen Ein-Dollar-Noten und dem darunter gedruckten Motto »Novus ordo seclorum« in Verbindung brachten. Ominöse Deutungen dieses harmlosen Mottos waren fast so zahlreich wie die in Umlauf gebrachten Noten selbst.
Im deutschsprachigen Teil des Internets dagegen war die Zahl der Seiten über Roerich vergleichsweise bescheiden. Hier dominierten ernsthafte Erörterungen einer mystischen Lehre namens »Agni Yoga«, die Roerichs Ehefrau Helena ins Leben gerufen hatte. Es fanden sich Übersetzungen ihrer Bücher und zahlreicher Briefe mit okkultem, schwer verständlichem Inhalt. Auch zu Nikolai Roerich gab es einiges, der als »Prophet der Schönheit und Kultur« und »großer Friedensstifter« gerühmt wurde.
Am meisten war zu Roerich im russischen Internet zu finden. Mehrere Museen präsentierten sich, die ganz oder teilweise seinem Schaffen gewidmet waren. Die meisten Texte stammten von seiner Frau Helena oder von Anhängern, die sich zu Vergleichen Roerichs mit Leonardo da Vinci verstiegen oder Roerich sogar als »Retter Russlands« priesen. Er wurde als Nachfahre Ruriks vorgestellt, jenes skandinavischen Warägers, der am Anfang der Kiewer Rus steht, und im Zusammenhang mit der Expedition 1927 war zu erfahren, er sei vorher in Moskau gewesen, um der sowjetischen Staatsspitze eine wichtige Warnung zukommen zu lassen.
Es gab allerdings auch ein paar wenige Seiten, die Roerich in einem ganz anderen Licht erscheinen ließen. Einigen galt er schlicht als Agent der sowjetischen Geheimpolizei, der seinen Mystizismus als raffinierte Tarnung verwendet habe, um Spionage zu betreiben. Andere hielten ihn für einen bloßen Scharlatan, der auf nichts als das Geld seiner reichen amerikanischen Gönner aus gewesen war.
Allen Seiten gemeinsam war ihre Mythologisierung des Mannes. Zwischen Vergötterung und Verdammung, Schwarz und Weiß schien es keine Schattierung zu geben.
Wer war dieser Mann und was hatte es mit alledem auf sich?
Mit dem Tagebuch des Dr. Rjabinin hatte eine Suche begonnen, die mich schließlich nach Indien, in die USA und mehrmals nach Russland führte. Dabei stieß ich wie beim Öffnen einer russischen Matroschka auf immer neue Schichten und neue Puppen in der Puppe. Nichts war bei diesem Mann so, wie es auf den ersten Blick schien. Und das fing schon mit seiner Herkunft an.
Teil I
Der Prophet der Schönheit
Kapitel 1
Die geheimnisvolle Herkunft
Nikolai Roerich war ein Mann, der die unglaublichsten Gerüchte und Legenden über sich selbst zu verbreiten wusste. Ob als wiederkehrender König von Schambala, Maler heilbringender Bilder oder sogar zur Weltrettung berufener Messias, in all diesen Rollen fand er glühende Anhänger. Oder auch Zweifler, die sich über seine Posen lustig machten. Mit einem allerdings sollte er sich bei Freund und Feind durchsetzen: mit der selbstgesponnenen Legende von der hohen Herkunft.
Danach war Begründer des »Geschlechts« der Roerichs kein anderer als Rurik selbst, der aus Skandinavien stammende mythische Begründer der Rus, des Vorläufers des russischen Reiches. Im Mittelalter sei einer der Nachfahren Ruriks in seine Urheimat, nach Schweden, zurückgekehrt, während der Rest der Familie noch lange Jahrhunderte die Herrscher Russlands stellte.
Dieser, der erste Teil der »Familiengeschichte«, wird nur von seinen glühendsten Anhängern für bare Münze genommen. Zu offensichtlich beruht sie auf nicht mehr als einer bloßen Namensähnlichkeit zwischen Roerich und Rurik. Der Teil dagegen, der mit dem »Rückkehrer nach Schweden« anfängt, ist von sämtlichen Biografien und Lexika, ob russisch- oder englischsprachig übernommen worden.
Die Nachfahren jenes nie genauer benannten Rückkehrers seien dann als Tempelritter hervorgetreten, was nur zu gut zu den okkulten Neigungen ihres späteren Nachfahren passte. Der erste Roerich auf russischem Boden schließlich soll Nikolais Urgroßvater, ein schwedischer General, gewesen sein, der mit Karl XII. in den Krieg gezogen und nach der Niederlage der Schweden in den Dienst Peters des Großen getreten sei. Der Zar habe ihm dann Ländereien im Norden Russlands, in der Nähe der Ostsee, geschenkt. Sein Großvater, ein Fjodor Roerich, war angeblich ein hohes