der Sowjetunion die Arbeit im örtlichen Sowchos verloren, und wer kann, zieht in die Stadt.
Vor mehr als hundert Jahren, als Nikolai Roerich hier jeden Sommer verbrachte, muss dies ein magischer Ort gewesen sein. Hier hatte der Vater 1872 ein altes Landhaus mit gewaltigen, meterdicken Mauern erworben, die noch aus dem 17. Jahrhundert, aus der Schwedenzeit, stammten. Zu dem Gutshaus gehörte ein großer Landbesitz von 3000 Morgen, mit Landwirtschaft, einer Forellenzucht und einer Kalkbrennerei, deren großer, schöner, sorgfältig gemauerter roter Ziegelturm jetzt langsam verfällt. Er wirkt wie ein Fremdkörper zwischen den hässlichen Überbleibseln der Sowjetzeit.
In der Nähe des Turms liegt ein größerer Teich, und tritt man an die Ufer, sieht man, wie unablässig Wasser nach oben dringt und dabei Sand aufwirbelt. Hier entspringt ein kleiner Fluss, und auf der anderen Seite, zum Norden hin, beginnt bereits ein ausgedehnter, noch ungezähmter Mischwald. Auch dieser Wald war einmal im Besitz der Roerichs. Heute wildern hier die unternehmungslustigeren unter den arbeitslosen Sowchosbauern, aber vor mehr als hundert Jahren war der Wald das Jagdrevier des jungen »Barons«, wie die örtlichen Bauern den Sohn des Notars ansprachen. Ursprünglich hatten die Eltern Nikolai in die Obhut eines Jägers gegeben, um den zu Lungenkrankheiten neigenden Sohn abzuhärten, aber dann entdeckte er seine Leidenschaft für die Jagd und verschwand selbst tagelang in den sumpfigen Niederungen um Iswara.
In dem Gutshaus ist heute ein Museum untergebracht, und man findet dort sogar einige Möbel vom Ende des 19. Jahrhunderts, die man in den sechziger Jahren bei der Ortsbevölkerung wieder eingesammelt hat, die das Gutshaus nach der Revolution geplündert hatte: große, mit rotem Brokat bespannte Sessel und einen gewaltigen Esstisch.
Das Wohngebäude mit den festungsartigen Mauern ist überraschend klein. Im Erdgeschoss befinden sich neben dem großen Esszimmer sieben weitere Räume und im ersten Stock ein großes, helles, sehr hohes und vollständig mit Holz ausgekleidetes Zimmer, in dem Nikolai Roerich sein erstes Atelier hatte.
Iswara liegt in einer Landschaft mit kalkreichen, sehr fruchtbaren Böden, die bereits seit der Bronzezeit besiedelt ist. In wenigen Kilometern Umkreis um das Gutshaus erheben sich eine Vielzahl von Grabhügeln finno-ugrischer Stämme.
Hier begann der junge Gutsbesitzersohn mit ersten Ausgrabungen. Mithilfe der Schmuckgegenstände und Waffen, die er fand, fantasierte sich der 14-jährige Gymnasiast in die Welt der skandinavischen Waräger, der Wikinger, die im zehnten Jahrhundert durch diese Gegend auf dem Weg zum Schwarzen Meer gekommen waren. Hier, in Iswara, kam ihm vermutlich auch die Idee, den Namen Roerich mit dem Namen Rurik zu verbinden, und hier träumte er sich in das »goldene Zeitalter« des vorpetrinischen Russlands hinein, das Zeitalter der slawischen »Mir«, der Dorfgemeinschaft mit ihren heidnischen Göttern, Sagen und Fruchtbarkeitsriten – Themen seiner ersten Bilder.
Ein Kritiker wird 1916 sagen, Roerichs Bilder erinnerten ihn stark an die Abbildungen von Germanen in der deutschen Zeitschrift »Jugend«. Man könnte auch sagen, an die allgegenwärtigen Gallier mit ihren geflügelten Helmen in Frankreich oder an die Artusritter, die im England des späten 19. Jahrhunderts so beliebt waren.
Der deutsche Kaiser ließ sich gerne als Germane abbilden und der russische Zar in moskowitischer Tracht. Es war ein Zug der Zeit, ein Versuch, in der Vergangenheit Halt in einer sich auflösenden Welt zu finden.
Es ist nicht verwunderlich, dass Nikolai Roerich in eben diesen Jahren Richard Wagner für sich entdeckte, der für immer sein Lieblingskomponist bleiben sollte. Auf allen Expeditionen und Reisen führte er ein Grammofon mit sich und legte jedes Mal, wenn er zu neuen Taten aufbrach, die Ouvertüre aus dem Parsifal auf.
Iswara hatte auch eine andere, dunklere Seite. Die Bauern der Gegend waren bis 1861, dem Jahr ihrer Befreiung, Leibeigene gewesen und erhielten, wie überall in Russland, nach der Befreiung nicht das ganze Land zum Bebauen, sondern nur den größeren Teil, den sie auch noch abzuzahlen hatten. Die Bitterkeit, die aus der Zeit der Leibeigenschaft und dann aus der folgenden, in den Augen des Volkes ungerechten Landverteilung zurückblieb, sollte sich in den Revolutionen von 1905 und 1917 blutig entladen. Da allerdings hatten die Roerichs Iswara bereits verkauft.
Kapitel 4
Der junge Künstler
War Iswara der Ort seiner Träume, das Märchenland der Waräger und Ruriks, seines späteren »Vorfahren«, so war St. Petersburg die harte Realität, der Ort, wo Nikolai Roerich diese Träume zu verwirklichen suchte.
Hier bekam Nikolai Roerich eine hervorragende Ausbildung. Bis zu seinem neunten Lebensjahr unterrichteten ihn Privatlehrer, und ab 1883 ging er an eine der besten Schulen St. Petersburgs, das Privatgymnasium Karl May, das, auf der Wassiliinsel gelegen, von der elterlichen Wohnung leicht zu Fuß erreichbar war. Rektor und Namensgeber der Schule war ein Reformpädagoge deutscher Herkunft, »der fest daran glaubte, dass ein Schüler alles geben wird, wenn man ihm volles Vertrauen schenkt«.17 Hier gab es keine Prügel und keinen groben Umgang mit den Schützlingen wie an den mehr traditionellen Lehranstalten des Reiches, sondern es wurde alles getan, um in jedem Schüler seine ganz besonderen Fähigkeiten zu wecken. Der Lehrplan war der eines klassischen deutschen Gymnasiums mit den wichtigsten Fächern Altgriechisch und Latein, aber auch auf Kunst und Musik wurde besonderer Wert gelegt. Wie bei dem Charakter der Schule zu erwarten, war es weniger der Adel, sondern die bürgerliche Mittelschicht und die schöpferische Intelligenz, die ihre Kinder an diese Schule schickte. Nicht wenige ihrer Absolventen wurden später bekannte Künstler, Schriftsteller und Musiker.
Nikolai Roerich, der sich besonders für Geografie, Geschichte und Kunst interessierte, war bald einer der prominentesten Schüler. Er durfte Karl May, den über siebzig Jahre alten Leiter der Schule, zeichnen, stellte im Schulgebäude seine Ausgrabungen in »Iswara« aus und veröffentlichte im Alter von 15 Jahren in der Zeitschrift Jagd und Natur einen ersten Artikel. In einem der damals so beliebten Proust’schen Fragebogen gab er als Lieblingsheld in der Literatur Don Quichotte und als Lieblingsheld in der Realität Leonardo da Vinci an. Dem Letzteren sollte er zeit seines Lebens nacheifern, doch in den Ergebnissen seiner Mühen ähnelte er eher dem Ersteren. An Erinnerungen seiner Mitschüler ist die des zwei Jahre älteren Alexandre Benois, ebenfalls Künstler und später bekanntester Kritiker seiner Generation, bemerkenswert. Er hat den jungen Nikolai Roerich als einen »sanften Jungen mit roten Bäckchen« beschrieben, der von den älteren Schülern leicht eingeschüchtert war.18
1893 beendete Nikolai Roerich die Schule mit hervorragenden Zeugnissen und dem Wunsch, Künstler zu werden. Sein Vater war strikt dagegen und wollte, dass sein Sohn, wie er selbst, Jurist werden sollte. Schließlich rang man sich zu einem Kompromiss durch, und so begann der Neunzehnjährige an der Kaiserlichen Kunstakademie eine Ausbildung als Maler und einen Monat später auch ein Jurastudium.
Bei dem Versuch, beide Studien gleichzeitig zu bewältigen, bewies der junge Student eiserne Disziplin. Er stand jeden Tag um neun Uhr auf, besuchte von zehn bis ein Uhr die Kunstakademie und hörte danach bis um drei Uhr nachmittags Vorlesungen an der nahe gelegenen Universität. Zurück zu Hause arbeitete er an seinen Zeichnungen und hielt sich schließlich von fünf Uhr bis neun Uhr abends wieder an der Kunstakademie auf. Die verbleibende Zeit bis Mitternacht waren die einzigen freien Stunden, die er sich gönnte. An den Feiertagen und während der Ferien ging er auf die Jagd oder widmete sich seinen Ausgrabungen, mit denen er sich langsam einen Ruf erwarb.
Nikolai Roerichs Karriere als Archäologe – einige Jahre später sollte er an der Universität Vorträge über »die Anwendung künstlerischer Techniken bei Ausgrabungen« halten – fiel in die »heroische« Frühzeit der Disziplin. Noch überwogen wohlhabende »Gentleman-Ausgräber«, deren Held der Autodidakt Heinrich Schliemann war.
Heute wirft man Schliemann vor, er habe bei seiner Schatzsuche Unersetzliches zerstört und die historische Schichtung durcheinandergebracht. Aber Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war Schliemanns Ruf noch intakt, und wie der berühmte Deutsche war auch Nikolai Roerich fest davon überzeugt, »dass Märchen Erzählungen sind und Erzählungen immer einen historischen Kern enthalten, den man nur noch auffinden muss«.19
Anders als Schliemann, der sich an Homer hielt, befragte Nikolai Roerich die örtliche