Tumuli und Grabhügeln, die die Bevölkerung mit abergläubischem Schauer betrachtete. Zweifelhaft ist nur, ob die Zuschreibungen, die er den verrosteten Schwertern und erblindeten Glasperlen gab, nicht mehr seiner Fantasie als dem zu verdanken war, was sich streng wissenschaftlich nachweisen ließ. Aber immerhin hinterließ Nikolai Roerich in dieser seiner Anfangszeit als Archäologe genaue Beschreibungen und Zeichnungen des Vorgehens und der Resultate seiner Grabungen. Später sollte er dann alle Vorsicht fahren lassen und, im Bewusstsein seines Genies, aus der Ähnlichkeit gewisser Alltagsgegenstände auf die Herkunft der Goten aus Tibet schließen oder das Gleiche von der untergegangenen Kultur der Anazasi in Arizona behaupten. Aber das lag Ende des 19. Jahrhunderts noch in weiter Ferne.
Aus den Aufzeichnungen eines Mitstudenten entnehmen wir, dass der immer korrekt gekleidete Nikolai Roerich mit seinem freundlichen Blick und dem offenen Lächeln einen angenehmen, umgänglichen Eindruck machte. Allerdings war der Sohn des Aufsteigers aus Kurland ein Außenseiter, der mit der studentischen Boheme, den stundenlangen Diskussionen um den Samowar und den nächtlichen Ausschweifungen seiner Kommilitonen aus besseren Kreisen nichts zu tun haben wollte. Dazu war er schüchtern und wurde schnell rot, worauf ihn Mitstudenten als »Mädchen« hänselten.20
Doch hinter der Maske des »Musterstudenten« verbarg sich ein ungemein ehrgeiziger Mensch, wie man aus seinem Tagebuch erfährt: »Wie sehr doch liebe ich Lob, wie sehr erhebt es mich und wie sehr bedrückt mich Ablehnung. Und diese Selbstliebe, welch Bürde ist sie, keine Minute der Ruhe lässt sie mir. Aber es ist immer noch besser, davon mehr zu haben, als weniger. Mit ihr erreicht man vieles, was ohne sie ungetan bliebe.«21
Ein Versuch unter den Studenten, einen Weiterbildungskreis zu gründen, bei dem jeder Gelesenes vortragen sollte, endete in einem Fiasko. Wütend trug er in sein Tagebuch ein: »Das sind keine Menschen, sondern grobe Schweine und nichts sonst. Seht her, Demokraten! Und verdächtigen uns des Triumphalismus.«22
1895 lernte Nikolai Roerich, der zeit seines Lebens die Gabe hatte, einflussreiche Förderer zu finden, den nunmehr über siebzig Jahre alten Wladimir Stassow kennen, den wichtigsten Kunst-, Literatur- und Musikkritiker seiner Generation. Stassow hatte Entscheidendes zur Blüte der russischen Kultur des 19. Jahrhunderts beigetragen. In zahlreichen Artikeln hatte er dazu aufgerufen, endlich über die Nachahmung westeuropäischer Vorbilder hinauszugehen und zu einer eigenständigen Sprache in Kunst, Musik und Literatur zu finden. Er hatte viele der größten Talente, darunter die Komponisten Mussorgski, Borodin, Rimski-Korsakow sowie den Maler Repin entdeckt, etliche ihrer Werke angeregt und sie gegen Kritiker verteidigt.
Allerdings waren diese Schlachten längst geschlagen, als Roerich Stassow kennenlernte. Die russische Kunst und Musik hatte schon lange Eigenständigkeit erlangt und war im Ausland anerkannt. Das jedoch hinderte Stassow nicht daran, weiter nach dem »Urrussischen« in der Kunst zu suchen. Er forschte und fand den Urgrund der russischen Kultur bei den legendären Skythen; aus der Ähnlichkeit altrussischer Legenden mit Stoffen der Veden schloss er auf einen gemeinsamen Ursprung der altslawischen und der arisch-indischen Kultur. Kein Wunder also, dass er den »urrussischen« Roerich mit seinen Warägern, Skythen und slawischen Recken unter die Fittiche nahm, ihn mit so berühmten Männern wie Leo Tolstoi und Rimski-Korsakow bekannt machte und ihm half, ein erstes Bild an den wichtigsten Mäzen Russlands, den Moskauer Kaufmann Tretjakow, zu verkaufen.
Nikolai Roerich war übrigens der einzige Maler seiner Generation, der in Stassows Augen Gnade fand. Alle anderen hielt er für »dekadent«, zu »westlich« und »unrussisch«, und der begabteste von ihnen, Michail Wrubel, war ihm geradezu verhasst.23 Ein besonderer Dorn im Auge war Stassow die Welt der Kunst, eine Künstlervereinigung, die sich um eine gleichnamige Zeitschrift gruppierte und sich zum Ziel gesetzt hatte, der jungen Generation zum Durchbruch zu verhelfen.
Deren Anführer waren Roerichs Altersgenossen Sergej Diaghilew und Alexandre Benois. Der Erstere wird sich später zum wichtigsten Ausstellungsmacher und Theaterimpressario Russlands entwickeln und Alexandre Benois zum größten Kunstkritiker seiner Generation. Beide werden noch wichtige Rollen in Nikolai Roerichs Leben spielen.
Im Sommer 1898 schloss Nikolai Roerich sein Kunststudium erfolgreich ab und einen Monat später sein Studium der Rechte. Seine Abschlussarbeit trug den Titel »Die rechtliche Lage des Künstlers im alten Russland«. Auch wenn Nikolai Roerich später nie als Jurist arbeitete, so hatte doch das Studium in mehrfacher Hinsicht Einfluss auf sein weiteres Leben. Zum einen hatte er einen idealistischen Professor, der an einer Konvention zum Schutz von Kulturgütern in Kriegszeiten arbeitete – eine Idee, die der Künstler im Exil aufgreifen sollte – und zum anderen dürfte das Jurastudium nicht wenig zu seiner späteren, berüchtigten Prozessierfreude beigetragen haben.
Nach dem Studium blieb Nikolai Roerich nur wenige Monate ohne feste Arbeit. Schon im Herbst desselben Jahres verhalf ihm Stassow gleich zu zwei einflussreichen Posten. Er wurde Mitarbeiter der wichtigsten Quelle für Stipendien und Ausstellungsmöglichkeiten im damaligen Petersburg, der Kaiserlichen Gesellschaft zur Förderung der schönen Künste nämlich, zu der auch noch die zweite Kunstakademie der Hauptstadt sowie ein Museum gehörten. Dazu wurde er Redakteur der von Stassow gegründeten Zeitschrift Kunst und Kunsthandwerk, mit der dieser gegen die »westlichen Tendenzen« der Jungen und vor allem der Welt der Kunst in den Krieg zog.
Die Reaktion der »Westler« ließ nicht lange auf sich warten. Diaghilew verspottete den »Lieblingsenkel« Stassows in der Welt der Kunst als Speichellecker, als »Kalb, das nicht nur an zwei Muttertieren« saugt, wie es in einem russischen Sprichwort heißt, sondern sogar an deren dreien: An den Zitzen von Stassow nämlich, an denen der Kaiserlichen Gesellschaft und an denen eines gewissen Storonnyi, eines einflussreichen Kulturbürokraten.24
Nikolai Roerich befand sich in einer schwierigen Lage. Auf der einen Seite war er weiter auf die Gunst Stassows angewiesen, aber bei Diaghilew und Benois lag zweifellos die Zukunft. Bemerkenswert, wie er sich schließlich herauswand. Trotz des Drängens des Großkritikers verzichtete er auf allzu heftige Angriffe gegen die Welt der Kunst und beließ es bei einer allgemeinen Kritik an der angeblich zu »unrussischen«, zu »europäischen« Haltung dieser Zeitschrift. Um das Ganze noch mehr abzuschwächen, veröffentlichte er nicht unter eigenem Namen, sondern unter einem Pseudonym.
Tatsächlich gelang es ihm, Stassows Gunst nicht zu verlieren, und auch mit der Welt der Kunst sollte er sich wieder versöhnen. 1908, die längst anerkannte Welt der Kunst hatte sich zwischenzeitlich aufgelöst, sollte er sogar Vorsitzender einer Neugründung werden. Allerdings ohne den zweiten Kopf der Welt der Kunst, den scharfzüngigen Alexandre Benois, mit dem ihn ab 1898 ein Freund-Feind-Verhältnis verband. Roerich, der sich gern als »Urrusse« stilisiert, greift Benois, den Enkel französischer Einwanderer, nicht nur einmal als »Ausländer« an, der angeblich kein »Gefühl für echt russische Kunst« hatte. Aber er wird sich auch mehrmals mit schmeichelhaften Briefen an ihn wenden, immer in der Hoffnung, den einflussreichen Kritiker auf seine Seite zu ziehen. Benois wird weder die Feindschaft noch die Annäherungsversuche voll erwidern, sondern zu Roerich immer ein distanziert-ironisches Verhältnis bewahren.
Kapitel 5
Helena
»Alle, die sie erblickten, waren von ihrem Äußeren bezaubert. Sie war von hoher Gestalt, schlank, wohlproportioniert, voller Eleganz, Weiblichkeit, Grazie und besaß eine Ausstrahlung, die unwillkürlich alle Blicke auf sich zog. Sie war immer nach der letzten Mode gekleidet, trug Ohrringe, Halsketten und teuren Schmuck. Sie hatte eine sehr melodische, zärtliche Stimme und liebte es, ihr nahestehende Menschen mit Koseworten anzusprechen.«25
Diese Zeilen stammen von einer engen Freundin, die sie 1956 in einem Invalidenheim im kasachischen Karaganda niederschrieb, vermutlich ihre letzte Station in einer langen Kette von Straflagern und Verbannung. Doch diese Beschreibung der in der Erinnerung ewig jungen Helena trifft genau den Eindruck, den auch später noch Helena auf alle Betrachter machen sollte. Helena Schaposchnikowa war eine blendende Schönheit, »toujours belle«, wie 1918 Alexandre Benois in sein Tagebuch notierte, und dazu noch intelligent, hoch gebildet und eine starke Persönlichkeit. Ein weiterer Beobachter, der amerikanische Börsenmakler Louis Horch, beschreibt sie später als »eine der klügsten Frauen, die je an diese Ufer gekommen