er im Briefverkehr auf der Anrede »de Roerich« bestehen, und aus der Tagebucheintragung einer seiner Anhängerinnen können wir entnehmen, dies sei nur recht und billig, denn bereits in Russland habe seine Familie den Titel Freiherr getragen.3
Die Familie Roerich? Oder meinte er damit die Freiherren von der Ropp? Und das bringt uns zu der Frage, was Nikolai Roerich von der Herkunft seines Vaters überhaupt gewusst hat und ob man in den Abertausend Briefen und Aufzeichnungen des Vielschreibers vielleicht irgendeinen Hinweis findet. Um es gleich zu sagen, weder der Name Schuhschel noch der Name von der Ropp taucht auf. Zumindest nicht in irgendeiner der zahlreichen Ausgaben seiner Briefe und Selbstzeugnisse. Auch nicht ein Hinweis auf jemanden mit der Biografie Eduard von der Ropps. Viel ist über ihn nicht bekannt, aber in der Datenbank des Osteuropa-Instituts findet man immerhin die Angabe, dass er 1810 in Paplacken geboren wurde, es in der Verwaltung der Verkehrswege bis zum wirklichen Staatsrat, der vierten Stufe der Rangliste, geschafft hatte und kurz vor Jahresende 1869 in St. Petersburg gestorben war. Er hatte aller Wahrscheinlichkeit nach nie geheiratet, und es sind auch keine Kinder von ihm verzeichnet.4 Sein Tod könnte erklären, woher plötzlich Konstantin Roerich die gewaltige Summe hatte, die nötig war, um 1872 Iswara, jenes Landgut nordwestlich von St. Petersburg, zu kaufen.
Wenn wir die spärlichen Auskünfte Nikolai Roerichs über seine Familie väterlicherseits durchgehen, so fallen vor allem die Leerstellen auf. Weder werden Geschwister des Vaters erwähnt, noch findet sich der leiseste Hinweise auf die Tatsache, dass sein Vater Konstantin deutscher Herkunft war, wie auch dessen Muttersprache Deutsch gewesen sein muss. Hat schon Konstantin Roerich alles getan, um seine Vergangenheit in Kurland hinter sich zu lassen, war er es bereits, der sich eine »neue« Identität verschafft hat? Oder ist es erst sein Sohn Nikolai gewesen, der spätere »Urrusse«, der die Herkunft seines Vaters verdeckte?
Das wenige, was Nikolai Roerich später über die unmittelbare Familie seines Vaters berichtet hat, ist widersprüchlich. So brachte er 1912 diese Beschreibung seines Großvaters zu Papier: »Die fröhliche Kinderschar rennt die Treppe hinunter. [...] Wir dürfen in das dunkle, hohe Zimmer des Großvaters.
Alles beim Großvater ist besonders. Uns gefällt der Sessel mit den Drachen. Ach hätten wir solche im Kinderzimmer! Wunderbar ist auch die Wanduhr, die Musik spielt. In den Schränken hinter den Glastüren Bücher mit goldbedruckten Einbänden. Es hängen schwarze Bilder und eines davon ist schief, aber der Großvater liebt es nicht, wenn man etwas anfasst. Es gibt viele schöne Dinge beim Großvater. [...] Man darf die Freimaurerzeichen anfassen, aber nicht anziehen. Und wenn der Großvater guter Laune ist und ihm die Füße nicht wehtun, dann öffnet er die rechte Schublade des Tisches. Und dort sind unendlich viele interessante Dinge! [...] Nach Beendigung der Hausaufgaben lieben wir es, zum Großvater zu rennen. Wir freuen uns am Großvater.
Etwas anderes.
›Großvater verbietet es, ihn zu besuchen.‹ Der erzürnte Großvater. Groß, grau, stachelig. Unmöglich zu ahnen, was erlaubt ist. Er weiß so oder so alles besser. Am besten das, was schon zu seiner Zeit so war. Alles muss so sein und nicht anders. Schimpft und fordert zur gleichen Zeit.«5
Großväterchen Fjodor kommt in Tagebucheinträgen und Briefen Nikolai Roerichs noch einige weitere Male vor. Wir erfahren noch, er habe in seiner Jugend bei den Husaren gedient, habe geraucht wie ein Schlot und sei 105 Jahre alt geworden. Nur war dieser Fjodor identisch mit Friedrich Roerich? Oder war es jemand völlig anderes? Mit der Bezeichnung Großvater oder Großväterchen geht man im Russischen großzügig um.
Gründe zum Zweifeln gibt es. Friedrich Roerich, der Sohn eines Schneiders als Husar? Kaum zu glauben, wenn man bedenkt, dass die Husaren entweder aus den Minderheiten im Süden des Reiches oder aus dem Hochadel und dann für die Leibregimenter der Zarenfamilie rekrutiert wurden. Genauso steht es mit der Behauptung, der Großvater sei uralt geworden. Das musste er ja auch, wenn sich der 1806 geborene Friedrich Ende des 19. Jahrhunderts bei seinem Sohn in Petersburg aufgehalten haben soll. Nur gibt es einen Brief Nikolai Roerichs an seinen litauischen Anhänger Richard Rudsites, in dem er mitteilt, das ungewöhnliche Alter Fjodors läge in der Familie, denn auch der Vater Friedrichs, Nikolais Urgroßvater also, sei mehr als neunzig Jahre alt geworden.6 Das aber trifft nicht zu, denn der Schneider Johann Roerich ist gerade einmal 57 Jahre alt geworden, wie Ivars Silars herausgefunden hat.
Auch die angebliche Mitgliedschaft Friedrichs bei den Freimaurern erweckt Zweifel. Zumindest wenn Fjodor und Friedrich identisch waren. Denn die Freimaurerei war im damaligen russischen Reich streng verboten und nur Hochgestellte wagten es, sich über das Verbot hinwegzusetzen. Der Aufsteiger Friedrich Roerich soll dieses Risiko eingegangen sein?
War das so detailliert beschriebene Großväterchen ein von der Ropp oder vielleicht jemand völlig anderes?
Nikolai Roerich hat die Spuren seiner Herkunft verwischt, das ist sicher. Wenn sein wahrer Großvater Eduard von der Ropp war, wie es Ivars Silars annimmt, dann hätte sein Vater den Makel der unehelichen Geburt getragen. War aber sein Großvater Friedrich Roerich, dann durfte keinesfalls dessen niedrige Herkunft ans Licht kommen. Weder das eine noch das andere wird vermutlich jemals zweifelsfrei zu belegen sein. Nikolai Roerich war ein Mann, der seine Geheimnisse zu wahren wusste.
Kapitel 2
Anfänge
Konstantin Roerich und seine Frau Maria bekamen bald nach ihrer Hochzeit eine Tochter, Lidia, die später einen Arzt heiratete und sonst wenig Spuren hinterlassen hat. Dann, am 27. September 1874, wurde ihr Sohn Nikolai geboren und im Abstand von acht und elf Jahren noch zwei weitere Söhne, Wladimir und Boris. Der eine wurde Militär und der andere Architekt, aber beide sollten unter den Einfluss ihres älteren Bruders geraten und noch die eine oder andere Rolle in seinen Abenteuern spielen.
Nikolai Roerich wuchs auf der Wassiliinsel auf, direkt im Zentrum der Hauptstadt des Zarenreiches. Wohnung wie Büro des Vaters waren in einem fünfstöckigen, klassizistischen Neubau am Newaufer, einen Steinwurf vom imposanten Bau der kaiserlichen Kunstakademie. Von hier konnte man den Winterpalast sehen, der nicht mehr als zwanzig Minuten zu Fuß entfernt lag, sowie die Paläste des Hochadels auf der anderen Newaseite. Das damalige Petersburg war eine der am schnellsten wachsenden Städte der Welt. Bauern aus der Provinz zog es in die großen Industriebetriebe, der Kleinadel versuchte in der Verwaltung des expandierenden Reiches einen Posten zu ergattern, und es gab eine starke deutsche Minderheit. Ganz oben standen die baltischen Barone, von denen es hieß, niemand habe sie in ihrer Verehrung für den Zaren wie auch ihrer Verachtung für das russische Volk übertroffen. Darunter gab es eine breite Mittelschicht aus Kleinindustriellen und Handwerkern aller Art. Vertreter der Unterschicht dagegen waren unter den Deutschen kaum anzutreffen. Wie man der russischen Literatur entnehmen kann, war diese Minderheit nicht beliebt. Bei Gogol lesen wir von den teuren deutschen Schneidern, die mit ihrer Akkuratesse ihren ewig betrunkenen russischen Standeskollegen die besten Aufträge wegnehmen, von faden deutschen Kartoffelgerichten, die die sparsamen Einwanderer zubereiten, und es ist kein Zufall, dass die geizige, unangenehm pedantische Zimmerwirtin Raskolnikows, der Hauptfigur von Dostojewskis Schuld und Sühne, eine Deutsche ist. Das »deutsche« St. Petersburg sollte mit dem Ersten Weltkrieg untergehen. Nicht nur wurde die Stadt 1914 in Petrograd umbenannt, auch all die deutschen Ladenschilder, die einem auf alten Fotos ins Auge fallen, wurden sämtlich russifiziert.
Eben das deutsche Petersburg ist in dem, was über Nikolai Roerichs Jugend zweifelsfrei dokumentarisch belegt ist, allgegenwärtig. In dem Haus am Universitätsufer ist im Erdgeschoss die große »Fleischwaarenhandlung [sic!] Gries« untergebracht, und in einem zweistöckigen Haus mit zwanzig Zimmern, das die Roerichs auf der Wassiliinsel bauen, sind als Mieter der Architekt Schperer, der preußische Untertan Zillessen und der Angestellte Njustrem samt Familien verzeichnet.7 Nikolai Roerich selbst besucht ab dem 7. Lebensjahr eine Privatschule mit deutscher Unterrichtssprache. Und genau dies wird er sein Leben lang heftig abwehren, wird sich als alles Mögliche stilisieren – als Nachfahre Ruriks, als »Retter Rußlands« und sogar als Wiedergeburt des Fünften, des »großen« Dalai Lama –, nur von seinen deutschen Wurzeln wird er nie ein Wort verlauten lassen. Damit sollte er auf lange Sicht Erfolg haben. Wird er in einer frühen autobiografischen Kurzgeschichte, zum gewaltigen Ärger des Ich-Erzählers,