Daniel C. Mattson

Warum ich mich nicht als schwul bezeichne


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der Grundeinstellung zur menschlichen Sexualität, zur Bedeutung des Individuums und zur Funktion der Familie drastisch«.

      Am 26. Juni 2015, an dem Tag, an dem der Oberste Gerichtshof der USA in der Sache Obergefell/Hodges die gleichgeschlechtliche »Ehe« für alle 50 Staaten legalisierte, schrieb der Schwulenaktivist und Blogger Andrew Sullivan im Blick auf die Revolution kurz und bündig: »Wir haben es geschafft.«4

      So war die totale Revolution, welche die Schwulenbewegung gefordert hatte, endlich gelungen. Die Welt wurde nicht so sehr dadurch verändert, dass Neil Armstrong den Mond betreten hatte. Dass Neil Armstrong auf dem Mond gelandet war, ähnelt nur einer »Fußnote« im Vergleich zu dem, wie Stonewall die Welt veränderte. Die Schwulenbewegung hatte ihr Ziel erreicht: Zwei Männer können nun »heiraten« – der Oberste Gerichtshof hat sein Urteil gefällt. Die Homosexualität ist angeblich so natürlich für die Menschheit wie die Ehe zwischen Mann und Frau. Die Revolution hatte ihr Ziel erreicht. Ein Mann mit einer gleichgeschlechtlichen Neigung, wie ich einer bin, sollte nun Anlass zum Feiern haben. Aber ich tat es nicht.

      Mein Leben war hin- und hergerissen zwischen zwei Polen – zwei Menschenbildern, zwei Visionen von Glück und Freiheit –, zwischen zwei konkurrierenden Weltanschauungen. Eine Seite glaubte, dass es eine absolute Moral auf der Welt gibt, dass es einen Gott gibt, der uns liebt, und dass die menschliche Sexualität ein großes Geschenk ist, das Freude und Erfüllung mit sich bringt. Diese Erfüllung stellt sich jedoch nur ein, wenn man die Realität akzeptiert, dass unsere einzige sexuelle Identität männlich oder weiblich ist und dass die Sexualität, um wirklich zufriedenstellend und erfüllend zu sein, vernünftig eingesetzt werden muss gemäß dem ihr innewohnenden Plan, offen für die kostbare Gabe des neuen menschlichen Lebens zu sein. Die andere Seite wurde durch die sexuelle Revolution beeinflusst, warb für Empfängnisverhütung, freie Liebe und die Schwulenbewegung, schuf die Gender-Ideologie, welche eine Botschaft der Befreiung von den vermeintlich veralteten Begriffen »männlich« und »weiblich« verkündete. Sie behauptete, dass Gefühle und sexuelle Neigungen verlässlichere Indikatoren für die Echtheit unserer sexuellen Identität seien als die Gestalt des menschlichen Körpers. Es ist eine Ideologie, die absolute Moralvorstellungen ablehnt. Diese Moral basiert auf beidseitiger Übereinstimmung, welche Sex in erster Linie als ein Mittel zur Lusterfüllung betrachtet. Es ist eine Ideologie, die die Schwangerschaft als eine unerwünschte Nebenwirkung der Sexualität sieht, welche normalerweise zu vermeiden ist. Kinder sollen nach dieser Ideologie das Leben eines Paares bereichern, sind jedoch nur eine Randerscheinung der menschlichen Sexualität und werden üblicherweise als Hindernis für das menschliche Glück wahrgenommen, außer wenn die Eltern der Meinung sind, dass das Kind zu ihrem Leben und ihrer Idee vom Glücklichsein etwas Sinnvolles beitragen könnte.

      Ich bin in meinem Leben durch beide Lager gewandert, immer auf der Suche nach dem Glück. Zwischen diesen beiden Sichtweisen von Erfüllung und Glück habe ich gelebt – die eine wurde durch die Liebe meiner Eltern repräsentiert, welche zu einem Fleisch wurden und mir das Leben schenkten, die andere Sichtweise war die Ideologie der Schwulenbewegung.

      Als ich schreiend geboren wurde mit dem Wunsch, glücklich zu werden, war mir dies noch nicht bekannt. Dieser Wunsch hat jedoch alle von mir getroffenen Entscheidungen geprägt.

       Die Schule »Unbeflecktes Herz Mariens«

      Alles, was ich mir wünschte, war, seine Brust zu berühren.

      Von Anfang an konnte ich meine Augen nicht von ihm wenden. Er trug ein Fußball-Trikot der Pittsburgh Steelers, ein perforiertes Trikot, das als eine Art Hemd über einem T-Shirt als Teil einer Mannschaftsbekleidung getragen wird. Er trug jedoch kein T-Shirt, sondern nur das Trikot. Nie zuvor hatte ich ein Trikot gesehen, durch das man durchsehen konnte. Es faszinierte mich, ihn zu beobachten, und an jenem Tag wurde ich ganz verrückt danach, eine Gelegenheit zu bekommen, seine Brust zu berühren.

      Ich war sechs Jahre alt, so alt wie er. Wir waren in der ersten Klasse der Schule »Unbeflecktes Herz Mariens« in der South Cedar Street in Lansing, Michigan, nicht weit entfernt von den Hochöfen, welche die nahe gelegenen Oldsmobile-Werke mit Stahl für ihre Autos belieferten. Unser Schulhof fühlte sich genauso industriell und auf Autos ausgerichtet an wie die Gemeinde um uns herum. Wir spielten auf dem Asphalt und rannten zwischen den Markierungslinien auf dem Parkplatz herum.

      Der Junge mit dem Trikot war der beste Sportler in unserer ersten Klasse. Er beherrschte das Kickball-»Spielfeld«1 in der südöstlichen Ecke des Parkplatzes. Die meisten unserer Klasse nahmen an den Kickball-Spielen teil, und dieser Junge war normalerweise einer der Mannschaftskapitäne. Ich erinnere mich an ihn als etwas schroff, doch hatte er das Spiel mit den übrigen Jungs gut im Griff. Ihre Späße waren für mich ein Rätsel. Ich fühlte mich damals als Außenseiter. Dieses Gefühl begleitete mich mein ganzes Leben lang, wenn ich gezwungen war, mich sportlich zu betätigen.

      Wenn die Mannschaften zusammengestellt wurden, wurde ich erst nach einigen Mädchen aufgerufen. Es war beschämend, aber es geschah regelmäßig auf die gleiche Weise. Ich war bekannt als ein unsicherer Spieler. Im zarten Alter von sechs Jahren war mir bereits bewusst, dass ich in den Augen des Jungen, der die stärksten und schnellsten Kinder für seine Mannschaft auswählte, nicht viel wert war. Ich wurde mit einem unsichtbaren Maß gemessen und gewogen, um festzustellen, welchen Wert ich für die Mannschaft haben konnte. Ich stand mit leeren Händen da, weil ich nicht stark genug, nicht schnell genug oder zu wenig koordiniert war, um ausgewählt zu werden. Ich beneidete den Jungen im Steeler-Trikot, weil er so war, wie ich nicht war. Er war stark, schnell und hatte Selbstvertrauen: genau das Gegenteil von dem, was ich fühlte.

      Wann immer sich die Gelegenheit ergab, spielte ich mit den Mädchen. Wir übten Seilspringen und sangen dabei alberne und doofe Lieder. Wir kicherten viel und mir gefiel das.

      Ich war auch beim Seilspringen nicht sehr gut, aber den Mädchen schien es nichts auszumachen. Ich brachte sie zum Lachen, wenn ich nicht schnell genug sprang. Mein Springen war nicht sehr koordiniert, aber bei den Mädchen war es kein Problem für mich. Bei ihnen fühlte ich mich sicher, ganz im Gegensatz zu den Jungen.

      Ich erinnere mich an einen Jungen der sechsten Klasse in meinem Bus, der mich oft hänselte. Einmal schaute er mich an und sagte: »Weißt du, du musst Wimperntusche verwenden. Bist du ein Mädchen oder so was?«

      »Nein!«, sagte ich. »Ich weiß nicht einmal, was du meinst.«

      »Also, du hast so lange Wimpern. Sie sind genauso wie bei einem Mädchen. Ich wette, dass deine Mutter Wimperntusche auf deine Wimpern gibt, oder? Schau in den Spiegel, wenn du heimkommst. Du könntest wirklich ein Mädchen sein mit solch langen Wimpern!« Es war schrecklich. Er sagte oft solche Dinge zu mir.

      Ich wurde auch von den Jungen in der Klasse gehänselt. Der erste Tag, an dem ich nach dem Begräbnis meiner Großmutter wieder in die Schule kam, hat sich in mein Gedächtnis eingeprägt. Die ganze Klasse hatte sich um unsere Lehrerin, Schwester Johnson, versammelt, die eine Geschichte erzählte. Sie wusste, weshalb ich in der Schule gefehlt hatte, und so erzählte sie den anderen Jungen und Mädchen vom Tod meiner Großmutter. Um mich zu trösten, bot sie mir an, mit überkreuzten Beinen, wie es bei uns üblich war, auf einem Stuhl zu sitzen anstatt auf dem Boden.

      Als ich mich jedoch niedersetzen wollte, zog einer der Jungen den Stuhl unter mir weg und ich fiel auf den Boden und brach in Tränen aus.

      Einige der Jungen kicherten, während Schwester Johnson sie hinter ihren blau getönten Brillengläsern wütend anblickte. Sie schimpfte mit ihnen und tröstete mich. Den anderen Mädchen tat es ebenfalls leid – also noch ein Grund mehr, den Jungen zu misstrauen und sich an die Mädchen zu halten.

      In jenem Moment fühlte ich mich gefangen – ich hatte das Gefühl, dass ich ersticken müsste, und war total verwirrt. »Warum haben sie das gemacht?«, fragte ich mich. Aber in solchen Situationen ist es sinnlos, sich zu fragen, warum solche Dinge geschehen. Das Wichtigste war, mich im Leben so einzurichten, dass solche Dinge nicht mehr geschehen konnten. Ich lernte sehr schnell, dass ich bestehen konnte, wenn ich die Leute zum Lachen brachte.

      Wenn