Daniel C. Mattson

Warum ich mich nicht als schwul bezeichne


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Fantasie bekam Flügel. Mit der ausklappbaren Bodentreppe, die vom oberen Stock heruntergezogen werden konnte, spielten wir das Fliegen im Zeppelin im Zweiten Weltkrieg. Manchmal tauchten wir bei einem waghalsigen Einsatz für die Marine im Meer tief nach unten. Manchmal befanden wir uns an Bord des Raumschiffs Enterprise und katapultierten uns mit Warp-Geschwindigkeit1 durch den Weltraum.

      »Ich gehe in die Scheune hinaus« war ein Satz, den wir oft zu unseren Eltern sagten.

      Der vordere Teil der Scheune war unser Spielplatz, aber der hintere Teil wurde bald mit Antiquitäten, die meine Eltern sammelten, angefüllt. Niemand ging tatsächlich nach hinten, doch für einen sieben oder acht Jahre alten Jungen wurde der winzige Hohlraum zwischen der winkligen Dachschräge und den Balken, die sich am Ende des Raumes befanden, zu Tunneln, in denen er sich vorstellen konnte, große Abenteuer zu erleben. Sie waren zu schmal für jemanden mit ungefähr zwölf Jahren, aber für die kleineren Kinder in der Nachbarschaft wurde der »Tunnel« zu einem großartigen Platz zum Spielen oder um nicht gesehen zu werden.

      Ich weiß nicht, wann es begann oder wie es begann, aber ein Nachbarsjunge und ich gingen oft in den Tunnel, zogen unsere Kleider aus und erforschten gegenseitig unsere Körper. Ich kann mich glücklicherweise nicht genau daran erinnern, was wir taten, aber ich erinnere mich daran, dass es lustig und aufregend war. Nichts machte mir so viel Spaß wie das, was wir gemeinsam taten. Wir taten es jahrelang. Wie es begann, ist vor meinem Auge verschwommen. Habe ich damit begonnen? Oder er? Ich nehme an, dass solche Fragen heute keine Rolle mehr spielen.

      Einige Jahre später haben wir zu einem bestimmten Zeitpunkt damit aufgehört. Ich habe oft darüber nachgedacht, welche Auswirkungen dies auf unsere Psyche gehabt haben muss, die sich gerade entwickelte, und auf unser Selbstverständnis und unsere Sexualität. Ist es wirklich nur reiner Zufall, dass er als Erwachsener als schwuler Mann auftrat und dass auch ich mit einer tief sitzenden gleichgeschlechtlichen Neigung lebe? Ich glaube nicht.

      Ich glaube, dass unsere Sexualität wie ein Fluss ist, der so angelegt ist, dass er einen bestimmten Weg fließen soll. Aber wenn solche Dinge, wie ich sie mit Joey tat, in unserem Leben geschehen, ist es, als ob ein Felsbrocken in den Bach stürzt und den Weg einer gesunden und normalen sexuellen Entwicklung in gewisser Weise blockiert. Manchmal kann das Wasser des Flusses über den Felsbrocken fließen und den Weg finden, den es normalerweise genommen hätte. Es gibt sicherlich Jungen, die mit anderen Jungen ebenso experimentiert haben, die jedoch ohne gleichgeschlechtliche Neigung erwachsen wurden.

      In seinem Buch Liebe und Verantwortung schreibt Papst Johannes Paul II.:

      »Die durch die Zugehörigkeit zu einem der beiden Geschlechter bestimmte Ausrichtung seines Wesens bleibt nicht nur im Innern des Menschen, sondern äußert sich auch und nimmt normalerweise (wir sprechen hier nicht von krankhaften Zuständen oder Fehlnormen) die Form einer gewissen natürlichen Strebung an, einer Hinneigung zum anderen Geschlecht.«2

      Ich bin jedoch überzeugt, dass solche Erfahrungen, die manche Männer und Frauen in der Jugendzeit machen, es mit sich bringen, dass ihre sexuelle Entwicklung in ihrem ursprünglichen Verlauf gestört wird. Wenn ich an diese Momente mit Joey zurückdenke, dann kommt mir ein Vers aus dem Hohelied der Liebe in den Sinn, der in diesem biblischen Buch mehrmals wiederkehrt:

      »Ich beschwöre euch, Jerusalems Töchter:

      Was stört ihr die Liebe auf, warum weckt ihr sie,

      ehe ihr selbst es gefällt?« (Hld 8,4).

      Dies ist ein Appell, die Unschuld einer Person zu achten und unanständige Redeweisen und Handlungen zu unterlassen, welche die sexuelle Begierde wecken würden außerhalb des Kontextes, für den die sexuelle Intimität geschaffen ist, nämlich die geheiligte Verbindung von Mann und Frau in der Ehe. Ich glaube, dass jene geheimen Treffen mit Joey meiner sexuellen Entwicklung schweren Schaden zugefügt haben, ebenfalls seiner Entwicklung. Wir haben zu früh und auf falschem Weg die Begierde geweckt. Indem wir uns so verhielten, legten wir gewissermaßen ein Hindernis in den Weg, welches uns vom »normalen Verlauf der Dinge« abhielt. In den Geschichten, die ich von anderen Männern und Frauen höre, die mit gleichgeschlechtlichen Neigungen leben, spielen frühe sexuelle Erfahrungen häufig eine große Rolle. Sie rühren oft von Missbrauch her. Es ist sicher nicht jedermanns Geschichte, aber es geschieht zu oft, um als Zufall gewertet zu werden. Gleichgeschlechtliche Neigungen kommen nicht nur einfach so, ganz von allein.

       Die Schule »John Barnes«

      Als ich in der dritten Klasse war, schickte meine Familie meine Brüder und mich auf eine überkonfessionelle christliche Schule. Meine älteren Brüder hatten die öffentliche Schule besucht. Meine Eltern hatten jedoch genug von den dortigen schlechten Einflüssen auf die Erziehung, besonders im Sexualkunde-Unterricht.

      Die Umschulung war gut für mich. Glücklicherweise übertrugen sich die Hänseleien von meiner alten Schule nicht auf die neue. Die Lehrer standen über solchem Unsinn, und die Kinder waren freundlich.

      Ich konnte schnell Freundschaften schließen und bald war ich gern dort. In meiner neuen Schule war ich beliebt – genug, um zum Klassensprecher der fünften Klasse gewählt zu werden. Die Lektionen, die ich damals in der ersten Klasse gelernt hatte, kamen mir nun zugute: Wenn ich sie zum Lachen bringen konnte, würde ich alles überstehen. Ich war der Klassenclown, jedoch kein Aufwiegler. Sie betrachteten mich als das perfekte Kind – wohlerzogen, das immer das Richtige tat und sagte. Ms Wright warf einen Schwamm auf mich, mit dem die Tafel gereinigt wurde, weil ich in der Klasse einige Male zu viel geredet hatte, aber außer diesen kleinen Übertretungen war ich ein folgsames Kind. Das wussten auch die anderen Jungen. Ich war in den Augen der meisten ein Streber. Sie luden mich nie ein, an etwas Fragwürdigem teilzunehmen.

      Deshalb ist es keine Überraschung, was im Februar 1981 auf der Toilette geschah. Jener Moment hinterließ eine unauslöschliche Spur in meinem Gedächtnis. Ich ging zur Toilette und fand vier meiner Klassenkameraden, die eng aneinandergedrängt zusammenstanden, während sie auf etwas unter dem Fenster schauten. Sie machten auf mich einen verlegenen Eindruck und verbargen etwas, was immer es auch war, vor meinen Augen.

      »Hey, was schaut ihr euch da an?«, fragte ich.

      »Nichts«, sagte einer von ihnen, indem sie sich noch enger zusammendrängten und das verbargen, was ich nicht sah.

      »Kommt, lasst es mich auch sehen«, drängte ich.

      »Nein – es ist nichts. Wir machen gar nichts.«

      Ich ging auf sie zu, blieb jedoch stehen, als sie noch enger zusammenrückten. Es war klar, dass ich nicht willkommen war.

      »Was ist das?«, fragte ich nochmals. »Es sieht irgendwie aus wie eine Illustrierte.«

      »Ja, das stimmt, aber du darfst sie nicht anschauen«, antwortete einer von ihnen.

      »Und es wäre besser, wenn du Mr Murphy nichts davon erzählst!«, sagte ein anderer schnell.

      »Warum sollte ich? Was ist es?«

      »Es ist die Ausgabe der Sport-Illustrierten, in der Badeanzüge abgebildet sind.«

      Ich hatte schon früher davon gehört und wollte sie auch anschauen. Ich wollte die Models betrachten – ich hatte bereits genügend Badeanzüge und Unterwäsche in den Katalogen von J. C. Penney sowie auf den Covers von Herb Alperts Schlagsahne und andere Genüsse in der Plattensammlung meiner Eltern gesehen. Und mir gefiel dies. Obwohl ich es in der Scheune mit dem Nachbarsjungen getrieben und meinen Schulkameraden im Steeler-Trikot bewundert hatte, fand ich immer noch, dass Mädchen nett und hübsch waren. Aber in jenem Moment auf der Toilette ging es nicht darum, Frauen im Badeanzug zu betrachten, sondern ich wollte nur das tun, was sie taten – mit ihnen.

      So fühlte ich mich oft unter Jungen. Ich war beliebt und hatte Freunde, Mädchen und Jungen, weil ich gelernt hatte, mich wie ein Chamäleon zu benehmen. Aber unter den meisten Jungen – und in den Dingen, die Jungen gemeinsam taten – fühlte ich mich wie ein Außenseiter. An jenem Tag mit der Badeanzug-Ausgabe der Illustrierten