Der Autor
Vilém Flusser, geboren 1920 in Prag, 1991 bei einem Verkehrsunfall nahe der tschechisch-deutschen Grenze gestorben, floh 1940 vor den Nazis nach London und wanderte kurze Zeit darauf mit seiner späteren Frau Edith nach Brasilien aus. Bis 1972 blieb er in São Paulo, wo er zuletzt als Professor für Kommunikationsphilosophie lehrte. 1972 ging er nach Europa zurück und ließ sich schließlich in der Provence nieder, verbrachte dort zuletzt aber nur noch die Hälfte des Jahres. Die andere Hälfte war der gefragte und streitbare Redner unterwegs, um Einladungen zu Vorträgen und Symposien zu folgen, die ihn in die ganze Welt, bevorzugt aber in den deutschsprachigen Raum führten.
Die Texte des Bandes wurden zusammengestellt von Stefan Bollmann.
Vilém Flusser
Von der Freiheit des Migranten
Einsprüche gegen den Nationalismus
© E-book-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2020
© 2000 Philo Verlagsgesellschaft mbH, Berlin/Wien
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign
eISBN 978-3-86393-558-0
Auch als gedrucktes Buch erhältlich, ISBN 978-3-86393-041-7
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Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de
Inhalt
Vilém Flusser und die Freiheit des Denkens
von Maria Lília Leao
Von der Freiheit des Migranten
Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit
Für eine Philosophie der Emigration
Um entsetzt zu sein, muß man vorher sitzen
«Wie schön sind deine Zelte, Jakob»
Wiedervereinigung oder Vernetzung
Gibt es die französische Nation noch immer?
Brief an Linda Reisch und Peter Glotz
Vilém Flusser im Gespräch mit Patrik Tschudin
Vilém Flusser und die Freiheit des Denkens
von Maria Lília Leao
In der «Phase des Lebens, in der sich der Geist endgültig bildet», lernte ich Vilém Flusser kennen: eine eindrucksvolle menschliche Gestalt, eine von jenen, die im Kern unserer Persönlichkeit einen prägenden Eindruck hinterlassen.
Flusser liebt die Herausforderung, die hautnahe intellektuelle Auseinandersetzung, die er selbst auslöst, fast im Gestus eines Initiationsritus. «Ein Markstein der deutschen Kultur», «eine philosophische Respektlosigkeit, von Plato bis Wittgenstein» – das waren zwei diametral entgegengesetzte Kritiken, die in Hamburg anläßlich eines Seminars über sein Buch Für eine Philosophie der Fotografie formuliert wurden. Flusser lachte laut heraus beim Schildern der Szene, ein typischer Zug dieses wahrhaftigen Homo ludens, eines jüdisch-tschechisch-brasilianischen Macunaíma. *
Bei einem seiner Aufenthalte in São Paulo hörte ich ihn zu dem Thema «Text und Bild» sprechen. Die Sätze, destilliert aus der Strenge von Vernunft und Leidenschaft – nur wenige konnten das so amalgamieren wie Flusser –, waren wie Peitschenhiebe, die uns aus der Lethargie aufrüttelten, zu der uns ein lärmendes Zeitalter verdammt; er wollte unbequem sein, damit keiner die Illusion hegen könne, man sei nicht verantwortlich, und es lohne sich nicht, über alles immer wieder neu nachzudenken.
Flusser veranlaßt immer zum Denken. Und Denken tut weh. Er hat sich nicht verändert, unser Freund und Philosoph; er bemüht sich weiterhin, das Nachdenken für uns zur lebenswichtigen Nahrung werden zu lassen, zur körperlichen Geste des Seins, zum erotischen Vergnügen. Es gibt keinen Zweifel, daß für ihn der ganzheitliche Mensch das denkende Wesen ist.
Als wir ihn kennenlernten – ich spreche von einer Gruppe junger Universitätsleute in den sechziger Jahren, einer Generation, die den Gestus eines lockeren intellektuellen Umgangs mit der Angst kultivierte und deren Ironie noch nicht gänzlich abgeglitten war –, waren wir alle in der großen Leere der Sinnsuche versunken. Flusser, der Fremde in der Welt, vaterlandslos par excellence, von vielen als der «genuine Philosoph Brasiliens» angesehen, sollte an allem teilnehmen und alles fördern. Aber bald stellte sich eine subtile Dialektik zwischen seinem Engagement in der brasilianischen Kultur und unserer Distanzierung von eben diesem gemeinsamen Hintergrund ein.
Wir Migranten sind die Fenster, durch die die Einheimischen die Welt sehen können.
Sollte er für uns dieses Fenster sein?
Ein tieferes Geheimnis als dasjenige der geographischen Heimat ist das der Suche nach dem anderen. Die Heimat des Heimatlosen ist der andere.