Vilém Flusser

Von der Freiheit des Migranten


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trugen nur in ihrer von schwerer Arbeit betäubten Innerlichkeit die verlorenen Kultureme, die dann allerdings in Form von Musik, Tanz und religiösen Riten ausbrachen, um den Boden einer jeden künftigen brasilianischen Heimat zu bilden. Die Ureinwohner, die immer weiter abgeschoben wurden, waren kein echter Teil Brasiliens, sondern nur eine teils mythisch-verherrlichte, teils brutal vergewaltigte Hintergrunderscheinung. Es unterscheidet übrigens Brasilien (und Argentinien und Uruguay) vom übrigen Lateinamerika, daß die Ureinwohner dort nur einen ideologisch verbrämten Hintergrund bilden.

      Die europäischen, nah- und fernöstlichen Einwanderer begannen seit Ende des 19. Jahrhunderts, die Frage nach Brasilien als einer Heimat zu stellen. Ist es möglich, aus derart heterogenen Elementen ein Netz von geheimen Bindungen zu weben, wie wir es aus den alten Heimaten kennen? Es gab einen Ansatz zu diesem Weben: die portugiesische Sprache. Sie war, im Vergleich zu der in Portugal gesprochenen, zwar einerseits archaisch (es haben sich darin Renaissance-Elemente erhalten), zum anderen Teil verwildert (afrikanische Elemente waren eingedrungen). Aber gerade dies erlaubte dem Portugiesischen zu einer Lingua franca zum Beispiel zwischen arabischen und japanischen Sprechern zu werden. Ist es möglich, eine brasilianische Sprache herzustellen, die fähig ist, eine brasilianische Kultur zu tragen und zu übertragen und somit aus dem Land Brasilien eine Heimat für eine künftige Gesellschaft zu machen? Diese für alle Beteiligten begeisternde Frage bildet, meiner Meinung nach, den Nährboden für alles, was in diesem Jahrhundert dort hergestellt wurde, angefangen mit Brasilia bis zum Bossa nova.

      Als ich in Brasilien ankam, wurde ich, sobald es mir einigermaßen gelang, mich von den Gasöfen zu befreien, von diesem Taumel mitgerissen. Ich tauchte in die Begeisterung für das Errichten einer neuen, menschenwürdigen, vorurteilslosen Heimat unter. Und erst der golpe, der Staatsstreich der Armee, hat mich ernüchtert. Und zwar nicht, weil ich, wie die europäischen Beobachter, darin eine reaktionäre Intervention, sondern die erste Verwirklichung einer brasilianischen Heimat erkannte. Ich will etwas näher auf diese meine Enttäuschung mit der brasilianischen Heimat (und mit allen Heimaten überhaupt) eingehen:

      Brasilien war existentiell ein no man’s land, als die Einwanderungswellen im 19. Jahrhundert begannen. Es war niemandes Heimat. Daher der Schlachtruf der eine Heimat erzwingen wollenden Patrioten: Este pais tem dono (Dieses Land hat einen Besitzer). Nicht eine afrikanische, asiatische oder andinische Kolonie war es, wo Kolonisatoren Einheimische beherrschten, sondern, etwa wie die Staaten, ein leeres Land, aus dem die Einheimischen vertrieben wurden. Daher wurden die Einwandernden nicht als häßliche Fremde, sondern vorurteilslos als heimatlose Schicksalsgenossen empfangen. (Aus Zeitmangel kann ich hier nicht auf den Unterschied zwischen Brasilien und den Staaten eingehen.) Diese vorurteilslose Stimmung unterschied sich so stark von der europäischen Stimmung der Heimaten, aus denen die Einwandernden vertrieben worden waren, daß es geradezu eine Gemeinheit gewesen wäre, sich nicht zu engagieren. Außerdem war man in diesem Niemandsland Pionier auf jedem Gebiet, das man bearbeiten wollte. In meinem Fall: Eine brasilianische Philosophie war, in Zusammenarbeit mit einigen wenigen Schicksalsgenossen, überhaupt erst zu schaffen. So begann man, dialogische Fäden mit seinen Mitmenschen zu spinnen, welche nicht, wie in der verlorenen Heimat, durch die Geburt aufgelegt waren, sondern frei hergestellt wurden. Und so erkannte ich, was den Patriotismus (sei er lokal oder national) so verheerend macht: daß er aufgelegte menschliche Bindungen heiligt und daher die frei auf sich genommenen hintanstellt; daß er die Familienverwandtschaft über die Wahlverwandtschaft stellt, die echt oder ideologisch biologische über Freundschaft und Liebe. Ein Freiheitstaumel erfaßte mich: Ich war frei, mir meine Nächsten zu wählen.

      Dieses Weben eines künftigen geheimen Codes, einer künftigen brasilianischen Heimat, dieses Verwandeln von Abenteuer in Gewohnheit und dieses Heiligen der Gewohnheit blieben begeisternd, solange immer neue Einwandererwellen aufgenommen wurden. Das im Weben begriffene Netz blieb offen. Zum Beispiel: Das philosophische Institut, an dem italienische Croceschüler, deutsche Heideggerianer, portugiesische Orteguianer, ostjüdische Positivisten, belgische Katholiken und angelsächsische Pragmatiker teilnahmen, mußte sich japanischen Zenschülern, einem libanesischen Mystiker und einem chinesischen Schriftgelehrten öffnen, und es mußte einem westjüdischen Talmudisten einen Platz gewähren. Trotzdem jedoch begann es sich zu institutionalisieren. Die Aufnahme darin wurde immer schwerer. Es begannen sich Vorurteile zu kristallisieren. Das heißt, man begann, mit dem Errichten einer neuen Heimat Erfolg zu haben.

      Hinzu kamen in den fünfziger Jahren zwei Erfahrungen, die es in den Griff zu bekommen galt. Die erste ist unter dem Begriff defasagem (etwa Dephasierung), die zweite unter dem Begriff populismo zu fassen. In dem Maß nämlich, in dem sich ein autonomer brasilianischer Kern herauszubilden begann, ging der lebendige Kontakt mit den großen Zentren (vor allem in Amerika) verloren, und ich erkannte, was ich aufgegeben hatte, als ich mich in Brasilien engagierte – nämlich die Freiheit von geographischer Bindung. Es begannen in mir Zweifel zu entstehen, ob in der gegenwärtigen informatischen Revolution nicht jede geographische Verbundenheit reaktionär ist; ob man den Vorteil, keine Heimat zu haben, aufgeben sollte.

      Die zweite Erfahrung, die mit dem populismo, ist radikaler. Die wirtschaftlich-soziale Schichtung war in den fünfziger Jahren etwa diese: Die große Masse der Bevölkerung lebte halbnomadisch, folgte den Ernten der Monokulturen in Elend, Hunger und Krankheit, und sie war die Herausforderung, aus dieser kulturlosen Menge eine Heimat zu machen. Darüber saß das größtenteils aus Einwanderern bestehende Proletariat der Städte und darüber das Bürgertum, das teils aus Einwanderern, teils aus den Nachkommen der portugiesischen Eroberer aufgebaut war. Das Weben der Heimat war Sache der Bürger. Und die Frage war: An wen haben wir uns zu wenden? An die Arbeiter der Städte, um sie bewußt zu machen? Oder an die passive Masse, um sie dem Gewebe der Gesellschaft einzuverleiben? Beides zugleich war unmöglich. Denn um die Städter zu mobilisieren, mußte man politisieren, und um die Masse anzugehen, mußte man wirtschaftlich handeln und entpolitisieren. Also entweder sich für die Freiheit oder für das Bekämpfen von Hunger und Krankheit engagieren. Es ist sehr schwierig, sich einer so unmöglichen Wahl klar zu stellen. Ich versuchte es, und ich bin daran gescheitert.

      Die «populistische» Tendenz, die mit Vargas zur Herrschaft kam und deren letzter Ausläufer der vor seinem Amtsantritt verstorbene Präsident war, glaubte, der unmöglichen Wahl so zu entgehen: Man mußte zuerst die Arbeiter politisch mobilisieren, um nachher die Masse aufsaugen zu können. Dies führte zu faschistoider Demagogie und zu einer Vulgarisation aller kulturellen Unternehmungen. Die zweite Tendenz, die «technokratische», packte das Dilemma an seinen Hörnern. Es gilt zuerst einmal, die Not zu beheben, und um dieses tun zu können, muß man zentral planen. Eine solche Planung setzt Diktatur voraus und das «provisorische» Unterbinden aller sozialen, politischen und kulturellen Störung der Planung. Diese «technokratische» Tendenz ist in der Armee verkörpert – einer aus Bürgern bestehenden Gruppe. Nach 1964 wurde mir klar, daß der Sieg der Technokratie über den populismo der einzige Weg ist, um endlich aus Brasilien eine Heimat werden zu lassen. Und es wurde mir auch klar, wie diese Heimat aussehen würde: ein gigantischer, fortgeschrittener Apparat, der in Borniertheit, Fanatismus und patriotischen Vorurteilen keiner europäischen Heimat nachstehen würde. Es dauerte allerdings bis zum Jahr 1972, bis ich mich unter Schmerzen entschloß, mein Engagement an Brasilien aufzugeben und in der Provence, diesem Antibrasilien, zu wohnen.

      Die Enttäuschung mit Brasilien war die Entdeckung, daß jede Heimat, sei man in sie durch Geburt geworfen, sei man an ihrer Synthese engagiert, nichts ist als Sakralisation von Banalem; daß Heimat, sei sie wie immer geartet, nichts ist als eine von Geheimnissen umwobene Wohnung. Und daß man, wenn man die in Leiden erworbene Freiheit der Heimatlosigkeit erhalten will, ablehnen muß, an dieser Mystifikation von Gewohnheiten teilzunehmen. In meiner brasilianischen Erfahrung: Die Bindungen, die ich dort eingegangen bin, habe ich aufrechtzuerhalten, denn ich bin verantwortlich für meine brasilianischen Mitmenschen, so wie sie verantwortlich für mich sind. Aber ich habe außerhalb von Brasilien andere Bindungen aufzunehmen und in diese neuen Bindungen meine brasilianische Erfahrung einzubauen. Nicht Brasilien ist meine Heimat, sondern «Heimat» sind für mich die Menschen, für die ich Verantwortung trage.

      Daher ist die in der Heimatlosigkeit gewonnene Freiheit gerade nicht Philanthropie, Kosmopolitismus oder Humanismus. Ich bin nicht verantwortlich für die ganze Menschheit, etwa für eine