Vilém Flusser

Von der Freiheit des Migranten


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intellektuelle Jugend Brasiliens von Sartre, Camus und anderen Existentialisten geprägt, obwohl die große Mehrheit keinen freien Zugang dazu hatte (und auch heute noch nicht hat). Unsere Gruppe jedoch war privilegiert: Wir gingen im Haus von Flusser aus und ein. Da strömten die Wirbelstürme, Winde und Brisen der philosophischen Welt zusammen, auf Gesellschaften, die ganze Wochenenden dauerten, und auf denen immer wieder Anatol Rosenfeld, João Guimarães Rosa, Milton Vargas, Mira Schendel, Samson Flexor, Vicente und Dora Ferreira da Silva auftauchten. Für uns Jungen und Mädchen entpuppte sich Flusser als «peripatetischer» Lehrer (obwohl er immer auf seinem Stuhl im Wintergarten in der Tiefe seines Hauses im Jardim America saß, eingehüllt in eine Wolke von Rauch aus seiner unvermeidlichen Pfeife). Nichts kann die ersten Schritte einer solchermaßen gelehrten und übermittelten Philosophie behindern: Paideia, aufgebaut auf dem konkreten Boden des Umgangs mit einem lebenden Existenz-Modell. All das formte unsere Köpfe und ist heute in unseren jeweiligen Kontexten wirksam. Ein klassischer Fall des mächtigen Einflusses des intellektuellen Patriarchen, so wird man sicher sagen. Einige, die das Gewicht dieser starken Information nicht ertragen konnten, leugnen sie heute, flüchten sich in die tückischen Gesänge des Unbewußten und entziehen sich der Konfrontation. Erinnert Flusser in dieser Hinsicht nicht ein wenig an Freud? Wie dieser – subversiv, Jude, Emigrant – wurde er vom akademischen Establishment nicht angenommen, und doch rief er Zuneigung und Abneigung und eine Schar von schmerzlich stigmatisierten Schülern hervor.

      Während der 31 Jahre, die er unter brasilianischen Umständen lebte, entwickelte Flusser seine Art zu denken mit einer Kraft und einer Originalität, die einen seiner unverwechselbaren Züge ausmachen – was ihm ein mystifiziertes Bild eintrug und sogar die Gelehrten, die häufig mit ihm fochten, aus der Fassung brachte.

      Wie Nietzsche, Kierkegaard und viele andere nahm sich Flusser nicht vor, ein philosophisches System aufzubauen. Sein Denken ist ein großzügiges fließendes Gewebe, gewoben aus alten und neuen Maschen, im Vertrauen auf die Kette, die die Sprache bildet – das Haus des Seins, wie sie Heidegger nennt. Seine Vertiefung in die verschiedenen Strömungen der Phänomenologie brachte ihn zur Sprachphilosophie, der er viele Aufsätze, Bücher und Vorlesungen widmete. Schließlich wurde ihm sogar die Kolumne «Posto Zero» in der Tageszeitung Folha de São Paulo eingerichtet, wo er von 1969 bis 1971 eine Art phänomenologische Analyse des brasilianischen Alltags vorführte.

      Wenn Flusser schreibt, und er tut es mit der Leichtigkeit des Atmens, übersetzt und rückübersetzt er denselben Text in die Sprachen, die er beherrscht: Deutsch, Englisch, Portugiesisch, Französisch.

      Max Planck sagt in seiner Autobiographie, daß für die Entstehung eines originalen Gedankens zwei Bedingungen gegeben sein müssen: daß der «Schöpfer» dieses Gedankens frei ist und daß eine ganze Generation ausstirbt; denn erst die nächste wird in der Lage sein, ihn zu verstehen. Die Zeitgenossen sind festgelegt und versklavt, deshalb erschrecken sie vor dem Neuen. Das ist, kurz gesagt, Flussers Sünde: das Neue zu denken und dazu frei zu sein. Jeder, der in Kontakt mit seinen Ideen kommt, merkt, wie sehr sie mit dem in Beziehung stehen, was ihm täglich widerfuhr. Er kann sich nicht auf die Grundlagen seines Denkens beschränken, weil es ständig mit Fakten, welcher Art auch immer, konfrontiert wird. Die Fähigkeit, die Welt scharf zu beobachten und die Aktualität zu erfassen, wobei er beides durch klassische Konzepte filtert und eigene Konzepte entwickelt, machen Vilém Flusser zum Denker unserer «posthistorischen» Epoche. Es ist genau dieses Zusammenstimmen der Beobachtung der Fakten mit der darauf aufbauenden Reflexion, die uns den Eindruck des Wahrhaftigen vermittelt.

      Was fehlt noch, damit dieser Eindruck zur Wahrheit führt? Isaías Kirschbaum antwortet: Erst die Zustimmung vergibt den Wahrheitsstempel.

      Die Migration ist eine kreative Situation. Und eine schmerzhafte. Wer die Heimat verläßt (aus Zwang oder aus freier Wahl, und beides ist schwer zu unterscheiden), leidet. Denn tausend Fäden verbinden ihn mit der Heimat, und wenn diese durchschnitten sind, ist es, als hätte ein chirurgischer Eingriff stattgefunden. Als ich aus Prag vertrieben wurde (oder als ich die mutige Entscheidung traf zu fliehen), durchlebte ich den Zusammenbruch des Universums. Ich verwechselte mein Inneres mit der Welt da draußen. Ich litt unter dem Schmerz der durchschnittenen Fäden. Aber dann, im London der ersten Kriegsjahre und beim Vorahnen der Schrecken der Lager, begann ich, mir darüber klar zu werden, daß es nicht die Schmerzen eines chirurgischen Eingriffs waren, sondern die einer Entbindung. Ich merkte, daß die durchtrennten Fäden mir Nahrung zugeführt hatten und daß ich jetzt in die Freiheit geworfen war. Ich wurde vom Schwindel der Freiheit erfaßt, der sich darin zeigt, daß sich die Frage «frei wovon?» in die Frage «frei wozu?» verkehrt. Und so sind wir alle Migranten: Wesen, die vom Schwindel ergriffen sind.

      Vilém Flusser hat uns etwas zu sagen. Etwas, um uns zu beunruhigen. Seien wir frei, ihn zu hören. Und nehmen wir frei das Recht zu denken wahr.

       Nationalsprachen

      Längst totgeglaubte Ungeheuer beginnen, sich im befreiten Osteuropa zu recken und zu strecken. Als ob nach jahrzehntelanger Vereisung die Drachenbrut des Nationalismus aus ihren Sauriereiern schlüpfen wollte, um sich in der Sonne des freien Marktes zu tummeln. Albanier in Kosovo, Ungarn in Transsilvanien, Armenier in Georgien werden umgebracht (und bringen wohl auch um), weil sie eine andere Sprache als jene ihrer Mitbürger sprechen. Und das ist nichts als zögernde Einleitung zu weiterem linguistisch fundiertem Gemetzel. Die Sache wäre unglaublich, hätte sie nicht Präzedenzen. Man würde meinen, Linguisten (Sprachtheoretiker und -praktiker) seien vonnöten, um diese Schlangenknäuel zu entwirren. Die Präzedenzen zeigen jedoch, wie hoffnungslos derartige linguistische Interventionen sind, selbst wenn sie sich selbst «Esperanto» nennen. Der vorliegende Aufsatz hat vor, darüber nachzudenken, warum übernationale Sprachen (nicht nur Zamenhofs «Esperanto», sondern auch «Interlingua» eines so gewaltigen Denkers wie Peano es war) scheitern müssen.

      Angenommen, alle Leute würden überall die gleiche Sprache sprechen. Das würde voraussetzen, daß sie einander nichts Neues zu sagen hätten. Denn wo immer irgend etwas gesagt wird, das vorher noch nicht ausgesprochen wurde, dort verändert sich entweder der Wortschatz (neue Worte werden geschaffen), oder die Syntax (neue Sprachregeln entstehen); oder beides. Die Folge ist, daß an jenen Stellen, wo etwas Neues gesagt wird, Sprachveränderungen vor sich gehen, die sich langsam in der Gegend verbreiten, und sehr bald (in weniger als einer Generation) wird die Universalsprache in eine Reihe von einander zwar überschneidenden, aber doch sich verzweigenden Untersprachen zerfallen. Dagegen ist einzuwenden, daß es in der Vergangenheit Universalsprachen gegeben hat, die sich über viele Generationen hindurch als solche erhalten haben. Etwa die Koine im Hellenismus, das Kirchenlatein im Mittelalter oder Französisch im 18. Jahrhundert. Vorher scheint Aramäisch für lange Zeit diese Rolle gespielt zu haben, und gegenwärtig ist die englische Sprache als eine Art Koine anzusehen. Der Einwand ist jedoch nicht gültig. Derartige Universalsprachen ersetzen nicht die Nationalsprachen, sondern sitzen über ihnen, und sie dienen nicht dem Ausarbeiten neuer Informationen, sondern dem Übertragen von Informationen, die in den einzelnen Nationalsprachen ausgearbeitet wurden.

      Aber man muß unter dem Begriff «Sprache» nicht unbedingt jenen Code verstehen, der aus «Phonemen» besteht, also aus Lauten, die wir mittels Zunge, Zähnen und Gaumen erzeugen. Es wird ja auch von Zahlensprachen, filmischen Sprachen, musikalischen und bildnerischen Sprachen, und vor allem von Computersprachen geredet. Und derartige Sprachen laufen ja quer über die Grenzen der Nationalsprachen und kümmern sich nicht um diese Grenzen. Nur gilt für solche Sprachen noch stärker, was oben von den Universalsprachen behauptet wurde. Sobald in ihnen neue Informationen ausgesagt werden, beginnen sie sich zu verzweigen und zu verzetteln. Komplexe mathematische Sprachen entstehen, die nur von wenigen Spezialisten «gesprochen» werden können – Beethovens Sprache ist eine andere als Mozarts, in den bildenden Künsten herrscht eine babylonische Sprachverwirrung, und das Problem der «Kompatibilität» der einzelnen Computersprachen untereinander wird trotz Esperanto-artigen