Vilém Flusser

Von der Freiheit des Migranten


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fordert und vom Menschen sagt, er sei ein Vertriebener in der Welt und seine Heimat sei anderswo zu suchen.

      Man hält die Heimat für den relativ permanenten, die Wohnung für den auswechselbaren, übersiedelbaren Standort. Das Gegenteil ist richtig: Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muß immer, gleichgültig wo, wohnen. Die Pariser Clochards wohnen unter Brücken, die Zigeuner in Karawanen, die brasilianischen Landarbeiter in Hütten, und so entsetzlich es klingen mag, man wohnte in Auschwitz. Denn ohne Wohnung kommt man buchstäblich um. Dieses Umkommen läßt sich auf verschiedene Weisen formulieren, aber die am wenigsten emotional geladene ist diese: Ohne Wohnung, ohne Schutz von Gewöhnlichem und Gewohntem ist alles, was ankommt, Geräusch, nichts ist Information, und in einer informationslosen Welt, im Chaos, kann man weder fühlen noch denken noch handeln.

      Ich baute mir in Robion ein Haus, um dort zu wohnen. Im Kern dieses Hauses steht mein gewohnter Schreibtisch mit der gewohnten, scheinbaren Unordnung meiner Bücher und Papiere. Um mein Haus herum steht das gewohnt gewordene Dorf mit seiner gewohnten Post und seinem gewohnten Wetter. Darum herum wird es immer ungewöhnlicher: die Provence, Frankreich, Europa, die Erde, das sich ausdehnende Universum. Aber auch das vergangene Jahr, die verlorenen Heimaten, die abenteuerlichen Abgründe der Geschichte und Vorgeschichte, die heranrückende abenteuerliche Zukunft und die unvoraussehbare weite Zukunft. Ich bin in Gewohntes eingebettet, um Ungewöhnliches hereinholen und um Ungewöhnliches machen zu können. Ich bin in Redundanz gebettet, um Geräusche als Informationen empfangen und um Informationen herstellen zu können. Meine Wohnung, dieses Netz von Gewohnheiten, dient dem Auffangen von Abenteuern und dient als Sprungbrett in Abenteuer.

      Diese Dialektik zwischen Wohnung und Ungewöhnlichem, zwischen Redundanz und Geräusch ist, laut der Hegelschen Analyse, die Dynamik des unglücklichen Bewußtseins, welches ja das Bewußtsein schlechthin ist. Bewußtsein ist eben jenes Pendeln zwischen Wohnung und Ungewöhnlichem, zwischen Privatem und Öffentlichem, von dem Hegel sagt, daß ich mich selbst verliere, wenn ich die Welt finde, und daß ich die Welt verliere, wenn ich mich selbst finde. Ohne Wohnung wäre ich unbewußt, und das heißt, daß ich ohne Wohnung nicht eigentlich wäre. Wohnen ist die Weise, in der ich mich überhaupt erst in der Welt befinde; es ist das Primäre.

      Aber es gibt nicht nur eine äußere Dialektik zwischen Wohnung und Welt, zwischen Gewohntem und Ungewohntem. Es gibt auch eine der Wohnung, der Gewohnheit selbst innewohnende Dialektik. Indem die Gewohnheit für das Ungewohnte offen steht, indem sie erlaubt, Ungewohntes als Information wahrzunehmen, wird sie selbst nicht wahrgenommen. Ich nehme, wenn ich mich an meinem Schreibtisch setze, die dort herumliegenden Papiere und Bücher nicht wahr, weil ich an sie gewöhnt bin. Was ich dort wahrnehme, sind nur die neu eingetroffenen Bücher und Papiere. Die Gewohnheit deckt alle Phänomene wie eine Wattedecke zu, sie rundet alle Ecken der unter ihr gelagerten Phänomene ab, so daß ich mich nicht mehr an ihnen stoße, sondern mich ihrer blindlings bediene. Es gibt diesbezüglich die bekannte Heideggersche Untersuchung der unter dem Bett liegenden Pantoffel. Ich nehme zwar meine Wohnung nicht wahr, aber ich empfinde sie dumpf, und diese dumpfe Empfindung heißt in der Ästhetik Hübschheit. Jede Wohnung ist für ihren Bewohner hübsch, weil er an sie gewöhnt ist. Das zeigt der bekannte ästhetische Zyklus: «häßlich – schön – hübsch – häßlich». Die an die Wohnung herankommenden Geräusche sind häßlich, weil sie Gewohntes stören. Verarbeitet man sie zu Information, werden sie schön, weil sie in die Wohnung eingebaut werden. Dieses Schöne verwandelt sich durch Gewohnheit zu Hübschheit, denn es wird noch dumpf empfunden. Und schließlich stößt die Wohnung Überflüssiges als Abfall hinaus, und es wird häßlich.

      Dieser Exkurs in die Asthetik war nötig, um das Phänomen der Heimatliebe (und der Vaterlandsliebe) in den Griff zu bekommen. Die Beheimateten verwechseln Heimat mit Wohnung. Sie empfinden daher ihre Heimat als hübsch, wie wir alle unsere Wohnung als hübsch empfinden. Und dann verwechseln sie die Hübschheit mit Schönheit. Diese Verwechslung kommt daher, daß die Beheimateten in ihre Heimat verstrickt sind und daher für das herankommende Häßliche, das etwa in Schönheit verwandelt werden könnte, nicht offen stehen. Patriotismus ist vor allem ein Symptom einer ästhetischen Krankheit.

      Die irrtümlich als Schönheit empfundene Hübschheit einer jeden Heimat, diese Verwechslung zwischen Ungewöhnlichem und Gewohntem, zwischen Außerordentlichem und Ordinärem, ist in manchen Heimaten jedoch nicht nur eine ästhetische, sondern eine ethische Katastrophe. Wenn ich die Provence oder das Allgäu für schön halte, und dies nicht, weil ich diese Gebiete entdeckt habe, sondern weil ich an sie gewöhnt bin, dann bin ich Opfer eines ästhetischen, nicht aber notwendigerweise eines ethischen Irrtums. Halte ich jedoch São Paulo für schön, dann begehe ich eine Sünde. Denn die alle Phänomene verdeckende und abrundende Wattedecke der Gewohnheit läßt mich dann das dort herrschende Elend und Unrecht nicht mehr wahrnehmen, sondern nur noch dumpf empfinden. Es wird dann ein Teil der heimatlichen Hübschheit, die ich als Schönheit empfinde. Das ist das Katastrophale an der Gewohnheit.

      Die Wohnung ist die Grundlage eines jeden Bewußtseins, weil sie erlaubt, die Welt wahrzunehmen. Aber sie ist auch eine Betäubung, weil sie selbst nicht wahrnehmbar ist, sondern nur dumpf empfunden wird. Verwechselt man Wohnung mit Heimat, Primäres mit Sekundärem, dann zeigt sich dieser innere Widerspruch noch klarer. Denn da der Beheimatete in seine Heimat verstrickt ist, so kann sie nur unter bewußter Anstrengung das Wahrnehmen der Welt dort draußen erlauben.

      Der Migrant, dieser Mensch der heranrückenden heimatlosen Zukunft, schleppt zwar Brocken der Geheimnisse aller jener Heimaten in seinem Unterbewußtsein mit, die er durchlaufen hat, aber er ist in keinem derartigen Geheimnis verankert. Er ist ein in diesem Sinn geheimnisloses Wesen. Er ist durchsichtig für seine anderen. Nicht im Geheimnis, sondern in der Evidenz lebt er. Er ist zugleich Fenster, durch welches hindurch die Zurückgebliebenen die Welt erschauen können, und Spiegel, in dem sie sich, wenn auch verzerrt, selbst sehen können. Eben diese Geheimnislosigkeit des Migranten aber macht ihn für Beheimatete unheimlich. Die nicht zu verleugnende Evidenz des Migranten, diese nicht zu verleugnende Häßlichkeit des Fremden, das von überall kommend in alle Heimaten eindringt, stellt die Hübschheit und Schönheit der Heimat in Frage. Und da der Beheimatete Heimat mit Wohnung verwechselt, stellt dies sein Bewußtsein, sein Sein in der Welt überhaupt in Frage. Das Unheimliche am Heimatlosen ist für Beheimatete die Evidenz, nicht etwa daß es zahlreiche Heimaten und Geheimnisse gibt, sondern daß es in naher Zukunft überhaupt keine Geheimnisse dieser Art mehr geben könnte.

      Die Evidenz, in welcher der Heimatlose lebt, stellt sich für ihn als Problem, nicht als etwas unheimlich Anmutendes dar. Der Verlust des ursprünglichen, dumpf empfundenen Geheimnisses der Heimat hat ihn für ein anders geartetes Geheimnis geöffnet: für das Geheimnis des Mitseins mit anderen. Sein Problem lautet: Wie kann ich die Vorurteile überwinden, die in den von mir mitgeschleppten Geheimnisbrocken schlummern, und wie kann ich dann durch die Vorurteile meiner im Geheimnis verankerten Mitmenschen brechen, um gemeinsam mit ihnen aus dem Häßlichen Schönes herstellen zu können? In diesem Sinn ist jeder Heimatlose, zumindest potentiell, das wache Bewußtsein aller Beheimateten und ein Vorbote der Zukunft. Und so meine ich, wir Migranten haben diese Funktion als Beruf und Berufung auf uns zu nehmen.

       Für eine Philosophie der Emigration

      Der Mensch ist bedingt. Man kann die Dinge, die ihn bedingen, klassifizieren. Etwa in die Klasse der natürlichen und die Klasse der gemachten Dinge. Man kann dann sagen, der Mensch sei von der Natur und der Kultur bedingt, in der er sich befindet. Bedingt sein heißt, von Dingen umgeben sein, die die Bewegung des Bedingten in spezifische Bahnen lenken. Der Mensch ist bedingt, weil seine Bewegung von den natürlichen und kulturellen Dingen in seiner Umgebung in spezifische Bahnen gelenkt wird. Die Bedingung ist eine Erklärung des Bedingten, weil man aus der Bedingung die Bahnen ersieht, in die die Bedingung gelenkt werden wird, und also diese Bewegung voraussieht. Der Mensch ist aus seiner natürlichen und seiner kulturellen Bedingung erklärlich.

      Der Mensch