Vilém Flusser

Von der Freiheit des Migranten


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Bewegung des Menschen in die Ironie hinein und aus der Ironie heraus kann nicht aus seiner Bedingung vorausgesehen werden. Der Mensch ist aus seiner Bedingung nicht ganz erklärlich.

      Die Bewegung in die Ironie hinein ist eine Empörung. Mit dieser Bewegung steigt der Mensch aus seiner Bedingung empor. Die Bewegung aus der Ironie heraus ist ein Engagement. Mit dieser Bewegung kehrt der Mensch in seine Bedingung zurück, um sie zu ändern. Die beiden Bewegungen heißen Freiheit. Der Mensch ist frei, weil er sich mit einer unvorhersehbaren und unerklärlichen Bewegung gegen seine Bedingung empören kann und sie verändern kann. Durch diese Möglichkeit ist er virtuell frei, und, wenn er sie vollzieht, ist er faktisch frei.

      Die Möglichkeit der Bewegung in die Ironie hinein und aus ihr heraus unterscheidet den Menschen von den Dingen in seiner Umgebung. Sie ist seine Würde. Jede Erklärung des Menschen, sei es aus seiner natürlichen, sei es aus seiner kulturellen Bedingung, ist eine Entwürdigung des Menschen. Eine Erklärung des Menschen aus der Natur aber entwürdigt ihn mehr als eine Erklärung aus der Kultur, weil sie auf das Absurde der Empörung deutet. Es ist absurder, wenn ich mich gegen meine Bedingung als Säugetier empöre, als wenn ich es gegen meine Bedingung als Bürger tue. Zwar bin ich beides, Säugetier und Bürger, ohne daß man mich befragt hätte, ob ich es sein will. Beides entwürdigt mich also. Aber es ist aussichtsreicher, mich gegen mein Bürgertum als gegen mein Säugetiertum zu empören, denn ich kann es eher ändern. Darum sind faschistoide Erklärungen des Menschen entwürdigender als sozialistoide. Beide sind allerdings falsche Erklärungen, weil sie das Unerklärliche im Menschen (seine Würde) unterdrücken.

      Ich kann die Bewegung der Empörung in die Ironie auch Emigration nennen; und ich kann die umgekehrte Bewegung aus der Ironie (das Engagement) auch Immigration nennen. Mit dieser neuen Nomenklatur verschiebe ich das Problem ein wenig. Und zwar auf doppelte Weise: In meiner Empörung wandere ich aus einer Bedingung aus, um in eine andere einzuwandern; und mein Auswandern ist nicht nur Empörung, sondern auch Flucht. Die Verschiebung des Problems sei betrachtet.

      Ich kann meine Bedingung ändern, indem ich sie vertausche. Auch das Vertauschen ist eine Veränderung, denn die verlassene Bedingung ist anders durch mein Verlassen, und die betretene Bedingung ist anders durch mein Betreten. Aber dieser Typ von Veränderung ist in eine andere Stimmung getaucht als die Wiederkehr in die ursprüngliche Bedingung – nämlich in die Stimmung der Flucht. Ich gebe die erste Bedingung fluchtartig auf und rette mich in die zweite. Ist das noch eine Empörung und ein Engagement im wahren Sinne des Wortes? Ist es hier noch erlaubt, von Freiheit zu sprechen? Ist der Mensch frei, weil er flüchten kann? Ich glaube, diese Frage kann strukturell beantwortet werden. Wenn ich die erste Bedingung verlasse, um auf derselben Ebene die zweite zu betreten, bin ich ein Flüchtling. Ich habe mich nicht empört und nicht engagiert, sondern ich habe mich treiben lassen. An dieser meiner voraussehbaren Bewegung ist keine Würde. Wenn ich aber die erste Bedingung in die Ironie hinein verlasse und mich aus dieser Ironie in die zweite Bedingung hineinbegebe, dann habe ich mich empört und engagiert, und mein Entschluß war würdig.

      Die theoretische Unterscheidung zwischen Flucht und echter Emigration, und zwischen Rettung und echter Immigration ist relativ einfach. Die praktische ist schwerer. In der Praxis haftet jeder Emigration etwas fluchtartiges an und jeder Immigration ein Element von Rettung. Umgekehrt hat jede Flucht etwas von Emigration, wenn auch vielleicht nicht jede Rettung etwas von Engagement an sich hat. Aber es gibt doch Symptome, die uns helfen, in der Praxis die Unterscheidung zu treffen.

      Was unterscheidet den Emigranten vom Flüchtling? Der Flüchtling ist, positiv und negativ, der verlassenen Bedingung verhaftet. Er schleppt sie auf seiner Wanderung mit sich, und zwar in einer Mischung von Ressentiment und Liebe. Der Emigrant hat sich über die verlassene Bedingung erhoben. In dieser seiner Empörung kann er aus ihr herausheben, was er will, und anderes kann er verwerfen. Was unterscheidet den Immigranten vom Flüchtling? Der Flüchtling, eingekapselt in die verlassene Bedingung wie er ist, ist der neuen verschlossen. Er hat ihr weder etwas zu geben, noch von ihr etwas zu nehmen. Der Immigrant steht der neuen Bedingung teilweise offen, nämlich an den Stellen, an denen die verlassene Bedingung ironisch verworfen wurde. An diesen Stellen kann er die neue Bedingung sich assimilieren und sich der neuen Bedingung assimilieren. Und er kann an den Stellen, an denen er seine alte Bedingung bewußt beibehält, auf die neue Bedingung verändernd einwirken.

      Es gibt auch sogenannte innere Emigrationen. Der Schreiber hat sie selbst nicht erfahren und kann sie nicht bewerten. Er ist ein (wie er hofft) Emigrant aus Europa und Immigrant nach Brasilien. Es soll nicht geleugnet werden, daß die Struktur der verlassenen und der betretenen Bedingung die Emigration und die Immigration beeinflußt. Der Mensch ist eben doch ein teilweise bedingtes Wesen. Die Struktur der europäischen Bedingung ist derart, daß sie dem entschlossenen Emigranten die Empörung erleichtert. Die Struktur der brasilianischen Bedingung ist derart, daß sie dem entschlossenen Immigranten das Engagement leichtmacht. Trotzdem ist der Entschluß immer schwer, denn die Fäden der Bedingung kleben am Menschen. Es ist immer leichter, Flüchtling zu sein und die Flucht dann mit dem Begriff der Treue zu verschleiern. Echte Treue ist das Engagement an einem frei Erwählten. Also ist der Begriff der Treue von dem der Freiheit nicht zu trennen. Die Treue des Flüchtlings ist eine falsche Treue. Treu der europäischen Bedingung in Brasilien ist nicht der, der sie sklavisch bewahrt, sondern der, der versucht, Brasilien Teile dieser Bedingung einzuverleiben, wenn auch dieser Versuch aus einem Engagement an Brasilien quillt und nicht aus einem an Europa.

      Zugegeben, eine Philosophie der Emigration ist erst zu schreiben. Ihre Kategorien sind noch nebelhaft und verschwommen. Aber sie sollte geschrieben werden. Denn sie wäre ja nicht nur für faktische, sondern auch für virtuelle Emigranten von Bedeutung. Eine ihrer Aufgaben wäre es, Emigration so deutlich wie möglich von Flucht zu unterscheiden. Und das inmitten einer Situation, die viele fluchtartige Elemente aufweist.

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