(Lendenbraten) erweckt in mir schwer zu analysierende Gefühle, denen das deutsche Wort «Heimweh» gerecht wird. Der Heimatverlust lüftet dieses Geheimnis, bringt frische Luft in diesen gemütlichen Dunst und erweist ihn als das, was er ist: der Sitz der meisten (vielleicht sogar aller) Vorurteile – jener Urteile, die vor allen bewußten Urteilen getroffen werden.
Das in der Prosa und Dichtung gerühmte und besungene Heimatgefühl, diese geheimnisvolle Verwurzelung in infantilen, fötalen und transindividuellen Regionen der Psyche, widersteht der nüchternen Analyse nicht, zu welcher der Heimatlose verpflichtet und befähigt ist. Zwar, zu Beginn dieser Analyse, nach dem Verlassen der Heimat, ergreift das analysierte Heimatgefühl die Gedärme des Sich-selbst-Analysierenden, als ob es sie umstülpen wollte. Das deutsche Wort «Heimweh» oder das französische nostalgie erfaßt dies weniger gut als das portugiesische saudade. Aber, nach dem erwähnten Umschlagen der Vertriebenheit in Freiheitstaumel, der Frage «frei wovon?» in die Frage «frei wozu?», wird die geheimnisvolle Verwurzelung zu einer obskurantischen Verstrickung, die es jetzt wie einen gordischen Knoten zu zerhauen gilt. Der Sich-selbst-Analysierende erkennt dann, bis zu welchem Maß seine geheimnisvolle Verwurzelung in der Heimat seinen wachen Blick auf die Szene getrübt hat. Er erkennt nicht etwa nur, daß jede Heimat den in ihr Verstrickten auf ihre Art blendet und daß in diesem Sinn alle Heimaten gleichwertig sind, sondern vor allem auch, daß erst nach Überwindung dieser Verstrickung ein freies Urteilen, Entscheiden und Handeln zugänglich werden. In meinem Fall: Nach dem Zerhauen eines gordischen Knotens nach dem anderen, des Prager, des Londoner, des Paulistaner, habe ich nicht nur die Gleichwertigkeit (oder auch Gleichunwertigkeit) aller dort angesiedelten Vorurteile erkannt, und vorwegnehmend auch die der in Robion angesiedelten, sondern vor allem auch, daß meine Freiheit zu urteilen, mich zu entscheiden und zu handeln mit jedem Zerhauen zunimmt. Diese Erkenntnis erlaubt, mit sich immer verbessernder Virtuosität die Knoten, einen nach dem anderen, zu zerhauen. Die Emigration aus Prag war ein fürchterliches Erlebnis, die aus Robion wäre wahrscheinlich nur noch die freie Entscheidung, sich ins Auto zu setzen und wegzufahren. Das ist der Grund, warum mir der Zionismus, trotz aller Sympathie, existentiell nicht zusagt.
Das geheimnisvolle Heimatgefühl fesselt an Menschen und Dinge. Beide sind sie in dieses Geheimnis gebadet. Ich glaube nicht, daß es nötig ist, von der Verderblichkeit eines geheimnisvollen Gefesseltseins an Dinge zu sprechen. Derart sakralisierte Dinge bedingen nicht nur (das heißt, sie schmälern die Freiheit), sondern sie werden personalisiert (das heißt, man liebt sie). Diese Verwechslung von Dingen und Personen, dieser ontologische Irrtum, ein Es für ein Du zu nehmen, ist genau das, was die Propheten Heidentum nannten und was die Philosophen als magisches Denken zu überwinden versuchten. Das geheimnisvolle Gefesseltsein an Menschen jedoch verdient, bedacht zu werden. Es stellt nämlich das eigentliche Problem der Freiheit.
Ich habe in dieser Hinsicht zwei Erfahrungen, die einander widersprechen. Alle Menschen, mit denen ich in Prag geheimnisvoll verbunden war, sind umgebracht worden. Alle. Die Juden in Gaskammern, die Tschechen im Widerstand, die Deutschen im russischen Feldzug. Alle Menschen, mit denen ich in São Paulo geheimnisvoll verbunden war, leben, und ich stehe mit ihnen in Verbindung. Paradoxerweise ist daher das Zerhauen des Prager gordischen Knotens leichter gewesen als das des Paulistaner, wiewohl das Geheimnis, das mich an Prag gebunden hatte, dunkler ist als das im Fall von São Paulo. Eine allerdings makabre Erfahrung.
Die geheimnisvollen Fesseln, die mit den Menschen der Heimat verbinden (also etwa Liebe und Freundschaft, aber auch Haß und Feindschaft), zerren am Emigranten, weil sie seine unter Leid errungene Freiheit in Frage stellen. Es sind nämlich die dialogischen Fäden der Verantwortung und des Einstehens für den anderen. Ist etwa die Freiheit des Migranten, dieses über allen Orten schwebenden «Geistes», eine verantwortungslose, solipsistische Freiheit? Hat er etwa seine Freiheit auf Kosten des Mitseins mit anderen errungen? Oder ist verantwortungslose Einsamkeit das Los des Migranten (wie es die romantischen Dichter wahrhaben wollen)? Das oben erwähnte Umschlagen aus der Vertriebenheit in die Freiheit verneint diese Frage. Ich wurde in meine erste Heimat durch meine Geburt geworfen, ohne befragt worden zu sein, ob mir dies zusagt. Die Fesseln, die mich dort an meine Mitmenschen gebunden haben, sind mir zum großen Teil angelegt worden. In meiner jetzt errungenen Freiheit bin ich es selbst, der seine Bindungen zu seinen Mitmenschen spinnt, und zwar in Zusammenarbeit mit ihnen. Die Verantwortung, die ich für meine Mitmenschen trage, ist mir nicht auferlegt worden, sondern ich habe sie selbst übernommen. Ich bin nicht, wie der Zurückgebliebene, in geheimnisvoller Verkettung mit meinen Mitmenschen, sondern in frei gewählter Verbindung. Und diese Verbindung ist nicht etwa weniger emotional und sentimental geladen als die Verkettung, sondern ebenso stark, nur eben freier.
Das, glaube ich, zeigt, was Freisein bedeutet. Nicht das Zerschneiden der Bindungen an andere, sondern das Flechten dieser Verbindungen in Zusammenarbeit mit ihnen. Der Migrant wird frei, nicht wenn er die verlorene Heimat verleugnet, sondern wenn er sie aufhebt. Ich bin Prager und Paulistaner und Robionenser und Jude und gehöre dem deutschen sogenannten Kulturkreis an, und ich leugne dies nicht, sondern ich betone es, um es verneinen zu können.
Die Soziologen scheinen uns zu belehren, daß die geheimen Codes der Heimat von Fremden (zum Beispiel von Soziologen oder von Heimatlosen) erlernt werden können, da ja die Beheimateten selbst sie zu lernen hatten, was die Initiationsriten bei den sogenannten Primitiven belegen. Daher könnte ein Heimatloser von Heimat zu Heimat wandern und in jede von ihnen einwandern, wenn er nur an seinem Schlüsselbund alle notwendigen Schlüssel zu diesen Heimaten mit sich trägt. Die Wirklichkeit ist anders. Die geheimen Codes der Heimaten sind nicht aus bewußten Regeln, sondern größtenteils aus unbewußten Gewohnheiten gesponnen. Was die Gewohnheit kennzeichnet, ist, daß man sich ihrer nicht bewußt ist. Um in eine Heimat einwandern zu können, muß der Heimatlose zuerst die Geheimcodes bewußt erlernen und dann wieder vergessen. Wird jedoch der Code bewußt, dann erweisen sich seine Regeln nicht als etwas Heiliges, sondern als etwas Banales. Der Einwanderer ist für den Beheimateten noch befremdender, unheimlicher als der Wanderer dort draußen, weil er das dem Beheimateten Heilige als Banales bloßlegt. Er ist hassenswert, häßlich, weil er die Schönheit der Heimat als verkitschte Hübschheit ausweist. Bei der Einwanderung entsteht daher zwischen den schönen Beheimateten und den häßlichen Heimatlosen ein polemischer Dialog, der entweder in Pogromen oder in Veränderung der Heimat oder in der Befreiung der Beheimateten aus ihren Bindungen mündet. Dafür bietet mein Engagement in Brasilien ein Beispiel.
Ich will zuerst den Begriff «Brasilien» von den ihn verdekkenden eurozentristischen Vorurteilen (etwa Dritte Welt, Unterentwicklung oder Ausbeutung) befreien. (Vorurteile, diese vorbewußt gefällten Urteile, sind übrigens in allen Heimaten heimisch.) Die Bevölkerung Brasiliens bestand bis tief ins 19. Jahrhundert aus drei einander überlagernden Schichten. Aus Portugiesen, die zum Teil aus der Heimat geflüchtet waren, zum Teil das Land für Portugal administrierten. Aus Afrikanern, die als Sklaven hingebracht wurden. Und aus Ureinwohnern, die immer weiter ins Hinterland abgeschoben wurden (wobei diese Ureinwohner wieder in eine einst herrschende Oberschicht, die Tupis, und eine beherrschte Unterschicht, die abfällig sogenannten Tupinambas, eingeteilt werden konnten). Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Sklaverei abgeschafft wurde und die Afrikaner begannen, sich arbeitslos in Städten zu häufen, wurden europäische Einwanderer, vor allem zuerst Norditaliener, in die Landwirtschaft (Kaffee, Baumwolle, Zuckerrohr) berufen. Der ersten Einwanderungswelle folgten andere, zum Beispiel die der Polen, der Syrio-Libanesen, der Japaner und immer neuer Portugiesen. Bei meiner Ankunft dort war die letzte dieser Wellen die der Juden, aber inzwischen sind weitere dazugekommen, bis der Einwandererstrom in den sechziger Jahren versiegte. Wichtig ist festzuhalten, daß dieser Strom vor allem den Süden des Landes betraf und den Norden beinahe unberührt ließ, so daß sich das Land in zwei Regionen teilte. Gegenwärtig gibt es eine massenhafte Strömung aus dem Nordosten in den Süden, und die uns aus dem europäischen Fernsehen bekannten Bilder betreffen zum Großteil diese massenhafte Strömung.
Vor der Sklavenbefreiung war zwar ständig von einer brasilianischen Heimat in Poesie und Prosa romantisch die Rede, aber die Wirklichkeit (die berüchtigte realidade brasileira) strafte diese Rede Lüge. Es gab die dünne portugiesische Oberschicht, die sich um die Häfen häufte, um die letzten Nachrichten aus den verlorenen Heimaten Lissabon und Paris entgegenzunehmen. Man fühlte sich vertrieben. Die große Masse der Bevölkerung war afrikanisch,